Vom Nachttisch geräumt

Ein Rückblick auf ein anderes Europa

Von Arno Widmann
04.12.2016. Streit zwischen Offenbarung und Vernunft: Das sind die Bücher, die Europa gemacht haben, wie man jetzt in Rom sehen kann.
Die Accademia Nazionale dei Lincei in Rom zeigt noch bis zum 9. November die Ausstellung "I Libri che hanno fatto l'Europa". 180 Manuskripte und Bücher werden ausgestellt. Als erstes kommt ein Manuskript aus dem England des 12. oder dem Beginn des 13. Jahrhunderts. Es ist die Grammatik von Priscian, der um 500 u.Z. lebte. Der in Byzanz lehrende Wissenschaftler soll aus Mauretanien, das gerade erst von den Vandalen erobert worden war, stammen. Seine "Institutio de arte grammatica" war das ganze Mittelalter hindurch das Werk, durch das jeder Latein lernte. Und Latein war die Verkehrssprache des mittelalterlichen Europa. Es gibt noch heute rund tausend Handschriften des Werkes in den europäischen Bibliotheken. Die Handschrift in der Ausstellung ist durch viele Hände gegangen und so mancher Leser hat sie nicht zum Lesen benutzt. Einer hat zum Beispiel an den Rand Verse aus den Carmina Burana geschrieben, in den die Liebe als allen anderen überlegene Macht besungen wird. Das letzte Werk der Ausstellung ist ein venezianischer Druck aus dem Hause Aldo Romano & d'Andrea d'Asola vom "Cortegiano" des Grafen Baldesar Castiglione aus dem Jahre 1528. Das Buch soll bis 1599 fünfzig Neuauflagen erlebt haben. 1534 wurde es ins Spanische übersetzt, 1537 ins Französische, 1561 ins Englische und Lateinische, 1565 ins Deutsche. Seitdem war es wohl - jedenfalls in Italien - niemals ausverkauft. Der Cortegiano ist einer der großen Klassiker der europäischen Literatur. In den Dialogen des Buches geht es um Sprachtheorie, um die Rolle der Frauen, um das richtige Regieren und um die platonische Liebe. Alles, was ein humanistisch gebildeter Hofmann wissen musste.

Was sind, geht man durch die Ausstellung, die wichtigsten Autoren des Abendlandes? Daran besteht kein Zweifel: Augustin und Aristoteles. Aber es liegt in keiner der Vitrinen ein Exemplar der "Bekenntnisse" des Heiligen Augustin noch irgendwo die Poetik des Aristoteles. Ersteres begreife ich nicht. Denn die spezifisch europäische Haltung zum Einzelnen und zu seinem Recht, ein irrender Einzelner - wenigstens über eine Weile - zu sein, wurde stark von Augustins Memoiren, die ja auch die seiner Glaubenskämpfe sind, geprägt. Die Poetik des Aristoteles dagegen wurde erst in der Renaissance wichtig. Davor spielte sie weder im Abend- noch im Morgenland eine Rolle. Im 10. Jahrhundert hatte Abu Bishr Matta ibn Yunus sie ins Arabische übersetzt, im 13. Jahrhundert Wilhelm von Moerbeke ins Lateinische übersetzt.



Apropos Übersetzung. Es gibt hier eine Handschrift zu besichtigen, die auf den Tag genau datiert ist: 9. Januar 1354. Wobei die Jahreszahl kaum noch zu entziffern ist. Es handelt sich um eine Übersetzung des Lukas- und des Johannesevangeliums ins Italienische. Wer den Katalog aufschlägt, erfährt, dass es eine lange Tradition der Übersetzungen in die Volkssprache gab. Vor allem bei den Waldensern. Dass also ein Gutteil der überlieferten frühen Übersetzungen der Evangelien einer heterodoxen Tradition angehören. Viele von ihnen sind wohl auch keine Übersetzungen aus dem Lateinischen, der Vulgata also, sondern basieren auf Übersetzungen aus dem Okzitanischen. Die hier ausgestellte Handschrift aber ist wohl eine "katholische" Übersetzung ins Volgare. Es gab ja immer wieder Perioden der Kirchengeschichte, in denen den Gläubigen die Lektüre der Heiligen Schrift verboten war, in denen auch Übersetzungen in die Volkssprachen verbrannt wurden. Ob das auch mit Übersetzern geschah, weiß ich nicht. Über diesen Übersetzer scheint man nichts zu wissen. Der Katalog nennt keinen Namen. Es gibt auch keinen Hinweis darauf, ob es andere Texte gibt, die möglicherweise vom gleichen Schreiber geschrieben wurden.

Welche Bücher haben Europa gemacht? Bibel, Kirchenväter, die großen Enzyklopädien des Mittelalters, Aristoteles, medizinische Traktate aus dem Arabischen, Weltgeschichten, Heiligenlegenden, Ritterromane. Gerade die eifrigsten patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes werden davon kaum etwas gelesen haben. Mit einem Blick sehen wir auch: Das Europa, von dem diese Ausstellung spricht, ist lange vorbei. Es ist das vormoderne, das entstehende Europa. Ein Europa ohne Menschenrechte. Historiker denken gerne in Kontinuitäten. B ergibt sich aus A und C aus B. Das Vorher erklärt das Nachher. Aber jede Gegenwart ist auch ein Bruch mit der Vergangenheit. Wie aus allen ererbten Genen jedes Mal ein ganz neues Individuum entsteht, so ist die Gegenwart das Produkt vieler Vergangenheiten, aber niemals ein errechenbares Resultat. Die Historiker weisen auch immer wieder darauf hin, dass manche Gegenwart weit hinter sich zurück greift, an Eltern, Groß- und Urgroßeltern vorbei, sich die Zukunft bastelt aus fernster Vergangenheit. Der plötzlich durchschlagende Erfolg der Poetik des Aristoteles führte dazu, dass Tragödie und Komödie wieder auferstanden. Oder war es umgekehrt? Gab es eine Konstellation, die darauf drängte, in den klassischen Formen wieder auf den Brettern einer Bühne dem Publikum vorgestellt zu werden, und so griff man im 16. Jahrhundert, um aktuell sein zu können, zur lange verstaubten Poetik eines Philosophen aus dem Athen des vierten vorchristlichen Jahrhunderts? Das französische siebzehnte Jahrhundert machte aus Aristoteles ein Regelwerk, dem sich jeder Autor zu unterwerfen hatte. Wieder eine andere Wendung, gegen die andere sich wieder wendeten.



Wir sind beim Drama und damit bei Thomas von Aquin (1225-1274). Von diesem, einem der, vielleicht dem wirkmächtigsten Theologen des Mittelalters, zeigt die Ausstellung die erste Seite eines frühen Druckes (1473) seines Hauptwerkes: Summa Theologiae. Alain de Libera nannte den großen Versuch, Natur- und Gotteserkenntnis, Aristoteles und Bibel zusammenzubringen, "das Drama der Scholastik". Es ist ein bis heute immer wieder neu aufgeführtes Stück. Die Thomas-von-Aquin-Renaissance des 19. Und 20. Jahrhunderts zeigt das. Das Drama neigt mal mehr zur Komödie, mal mehr zur Tragödie. Fatal wird es immer dann, wenn jemand glaubt, die Lösung für den Konflikt schon in der Tasche zu haben. So zum Beispiel als der deutsche Papst in seiner Regensburger Rede vor zehn Jahren betonte, im Christentum hätten - im Gegensatz zum Islam - Glaube und Vernunft sich versöhnt. Wer das sagt, der hat sich von der Anstrengung zur Versöhnung verabschiedet. Der Streit zwischen Offenbarung und Vernunft durchzieht fast alle Bücher, die Europa gemacht haben. Auch Europa, das kann man in dieser Ausstellung lernen, auch wenn es nicht zu ihren didaktischen Zielen zählt, ist nichts, das man in der Tasche hat. Es entsteht immer wieder neu und ist jedes Mal anders. Wer es nicht mehr schafft in die Ausstellung, dem sei der Katalog empfohlen:

I Libri che hanno fatto l'Europa - Manoscritti latini e romanzi da Carlo Magno all'invenzione della stampa, Mostra storico-documentaria in occasione del XXVIII Congresso Internazionale di Linguistica e Filologia romanza, Accademia Nazionale die Lincei, Catalogo, Bardi Edizioni, Roma 2016, 386 Seiten, 180 Farbtafeln, 60 Euro.