Post aus der Walachei

Gebrandmarkte Generation

Von Hilke Gerdes
09.06.2004. In Rumänien gibt es keine Nouvelle Vague, nur eine Handvoll verzweifelter Regisseure - die interessante Filme machen.
Preise

Mitte Februar gewann Christi Puiu auf der Berlinale mit "Un cartus de Kent si un pachet de cafe" (Eine Stange Kent und ein Päckchen Kaffee) den Goldenen Bären für den besten Kurzfilm. Auf dem Kurzfilmfestival in Venedig erhielt Constantin Popescu Anfang Mai den Großen Preis für "Apartamentul" (Das Apartment). Jetzt gibt es erneut einen rumänischen Preisträger: Catalin Mitulescu. Er hat mit "Trafic" auf dem soeben zu Ende gegangenen Filmfestival in Cannes die Goldene Palme für den besten Kurzfilm erhalten.


Radikal einfach

Der alte Vater und sein erwachsener Sohn sitzen in einem Cafe. Durch die verglaste Fassade hinter ihrem Tisch kann man auf die Straße blicken. Nichts anderes als diese Halbtotale zeigt die Kamera. Das Gespräch beginnt. Die Kamera konzentriert sich auf die beiden Protagonisten. Der Sohn soll seinem arbeitslos gewordenen Vater einen neuen Job besorgen. Und um das zu erleichtern, sind einige Geschenke zweckdienlich. Aus seinem Beutel holt der Vater Instant-Kaffee, Zigaretten und ein kleines Holzrollengerät zum Massieren, wie sie in Bukarest an jeder Ecke angeboten werden. Der Sohn, ganz Geschäftsmann der neuen Zeit, ist in Eile, legt mit verächtlichem Blick das kleine Gerät und den gewöhnlichen Kaffee zurück. Es sei heutzutage schon italienischer Espresso notwendig, damit die Sache laufe. "Es hat sich also nichts geändert", bemerkt der alte Vater resigniert, bevor sie das Cafe verlassen.

So eindeutig diese Aussage ist, so auf das Wesentliche konzentriert ist die Kamera. Es gibt keine psychologische Kameraführung, keinen raffinierten Schnitt oder andere elaborierte Formen filmästhetischer Mittel in "Un cartus de Kent si un pachet de cafe" (Eine Stange Kent und ein Päckchen Kaffee) von Christi Puiu.

Der 1967 in Bukarest geborene Regisseur gehört einer Generation an, die er selbst als "the branded generation" bezeichnet. Gebrandmarkt im Sinne der Marketingsprache: Jeder will die Markennamen-Artikel. Rumänische Erzeugnisse sind out. Das zeigt Puius Film wie auch der Regisseur selbst, der bei unserem Treffen im legeren Nike-Look erscheint. Ihn interessieren am Filmen nicht die schönen Bilder oder ungewöhnliche Plots, sondern die Widersprüche zwischen den Individuen und den Paradigmen, nach der Gesellschaft funktioniert.

Bereits Puius erster Spielfilm "Marfa si bani" (Koks und Kohle, 2001) wurde auf internationalen Festivals, wie "Quinzaine des Realisateurs" in Cannes, gezeigt. Dieses Roadmovie, in dem drei Jugendliche, als Drogenkuriere missbraucht, mit der Gewalt in der Drogenszene konfrontiert werden, ist formal ebenso radikal reduziert wie "Un cartus de Kent si un pachet de cafe". Die überwiegende Zeit wurde mit Handkamera im Inneren des Autos gefilmt. Die Kamera ist derart nah an den Protagonisten dran, dass es selbst dem an Kiarostami gewöhnten Zuschauer geradezu körperliche Pein bereitet.


Nett

Eine wahre Begebenheit soll es gewesen sein. Sie spielt im sozialistischen Wohnblock, in dem alle Wohnungen gleich aussehen. Ein Mann muss nur die Etagen wechseln, um von seiner Ehefrau zum "Apartamentul" seiner Geliebten zu gelangen. Wenn er offiziell auf Dienstreisen ist, verbringt er die Nächte mit ihr. Und die Morgen danach verlaufen in gewohnter Monotonie der immergleichen Rituale, wie im ehelichen Leben: erste Zigarette, Rasieren, Mülleimer-Runterbringen. Nur dass der Mann eines Tages im morgendlichen Tran die Etagen verwechselt und in den Puschen seiner Geliebten vor der Tür seiner Ehefrau steht. Pech gehabt. Es ist ein netter Film, in dem der Zuschauer erst allmählich dahinter kommt, wer was ist, denn gesprochen wird so gut wie gar nicht.

Und er entbehrt nicht komischer Elemente. Wenn Constantin Popescu zum Beispiel in Nahaufnahme das Herausreißen eines Nasenhaars zeigt und im Schnitt darauf das Herausspringen der Toasts aus dem Toaster folgt. Es sind nette, aber bekannte Einfälle. Für Puiu wäre so etwas ein Gag.


Psychologisch

Ein Mann der neuen Zeit, mit wenig Zeit. Er muss dringend zu einem Geschäftstreffen und nun kommt ihm seine kleine Tochter dazwischen, die angibt, etwas verschluckt zu haben. Die neu engagierte Babysitterin ist überfordert, wie der Vater selbst. Gefangen in seiner beruflichen Verpflichtung kann er nicht das machen, was er möchte: bei seinem Kind bleiben. Er fährt, doch der Bukarester Verkehr macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Er steckt fest, diese unfreiwillige kleine Pause ist wie ein Ausflug in eine andere Welt. Er lädt ein junges Mädchen in ein Cafe ein, das kein Geld hat, aber Zeit.

"Trafic"von Catalin Mitulescu besitzt wie Puius "Un cartus de Kent si un pachet de cafe" einen einfachen Plot. Beide Filme behandeln die postkommunistische Zeit auf ihre Weise. Puius Kurzfilm thematisiert die kleine Korruption, den Generationenkonflikt, das Markenbewusstsein. Mitulescu die psychologische Ebene der Westernisation. Der Protagonist entspricht einer neuen Generation, die große Autos und Handys mit Headset und Fotofunktion besitzt, aber in ihrem Leben keinen Raum für anderes als den Beruf hat. Für die Familie, für Träume, für ein Gespräch. Während Puius Film auf das Gespräch konzentriert ist, gibt es hier nur eine karge Kommunikation. Es sind die wortlosen Blicke, die sprechen.


Kurzfilme

Der Centrul National al Cinematografiei hat mit seiner Förderung von Kurzfilmen jüngerer Filmemacher, so bescheiden sie auch sein mag, einen guten Weg eingeschlagen. Ähnliches würde man sich im Spielfilmbereich wünschen, in dem noch die ältere Generation dominiert. Doch dafür scheint die Zeit noch nicht gekommen zu sein.

Kurzfilme spielen im internationalen Filmbusiness keine Rolle und in der kulturellen Berichterstattung führen sie eine Randexistenz. Sie sind in Rumänien jedoch ein interessanter Bereich für Cineasten, denn bereits quantitativ entsteht hier mehr als im Spielfilmsektor. Auch an der Filmhochschule werden ausschließlich Kurzfilme produziert. Außerdem machen die geringeren Produktionskosten es jüngeren Filmemachern (Frauen sind mir bis auf wenige Ausnahmen bisher nicht begegnet) möglich, in diesem Bereich zu experimentieren. Gezeigt werden diese Filme allerdings selten. Wie überall besteht das Problem, dass Kurzfilme kaum in Kinos oder geschweige denn im Fernsehen zu sehen sind. Die Cinemateca Romana bemüht sich, regelmäßig eine Reihe von ihnen vorzustellen.


Deutsch-Rumänisches

Das ländliche Leben in Rumänien ist Hintergrund zweier sehenswerter Kurzfilme des Deutsch-Rumänen Hanno Höfer. "Dincolo" (Drüben, 1999) spielt an der rumänisch-ungarischen Grenze. Im Morgengrauen schwingen sich die Männer des Dorfes auf ihre Fahrräder, um "drüben" ihre Waren zu verkaufen. Nur der beleibte Postbote setzt sich nicht dieser körperlichen Anstrengung aus, bis ihn eines Tages seine Frau dazu überredet, was fatale Folgen hat.

Die Fragwürdigkeit so mancher gut gemeinter Hilfeleistung von deutscher Seite ist in Höfers "Ajutoare umanitare" (Humanitäre Hilfe) ins Absurde gesteigert: Die Helfer, drei junge Freaks aus Hamburg, bringen eine uralte Zahnarztpraxis-Einrichtung nach Rumänien. Zum Dank werden sie reihum im Dorf zum Essen eingeladen, was ihre Trinkfestigkeit auf eine harte Probe stellt. Sie lernen die Reize dreier Dorfschönheiten näher kennen. Und zu guter Letzt wird ihr Transporter mit allem, was das Dorf an Geschenken aufzubieten hat, beladen. Zur Freude des Kommandierenden an der Grenze, der alles beschlagnahmt.


Die neue Generation

Neben den bereits erwähnten jungen Filmemachern gibt es weitere, die mit ihren Filmen in den letzten Jahren Aufmerksamkeit erregt haben. Nicht alle habe ich bisher sehen können. Nicht alle kann ich hier erwähnen. Einer der bekanntesten der jüngeren Regisseure ist Christian Mungiu, dessen erster Spielfilm "Occident" (Okzident, 2002) erfolgreich auf internationalen Festivals lief. Er thematisiert das Leben im eigenen Land mit dem Blick nach dem reichen Westen.

Mungius Filmsprache ist eine ganz andere als die Puius. Sehr erzählerisch, sehr kinematographisch mit ästhetisch ansprechenden Bildern, unterschiedlichsten Kameraperspektiven und Übereinanderlagerung verschiedener Erzählstränge, wobei Erwartungen und Annahmen des Zuschauers durchkreuzt werden. Er liebt überraschende Wendungen, die ein komisches Moment in sich tragen. Auch Mungius Kurzfilm "Corul Pompierilor" (Der Feuerwehrchor, 1999) lebt von dem Moment des Absurd-Komischen im Alltäglichen, während "Zapping" (2002) die Realität, in diesem Falle die Manie des TV-Zapping, in eine künstliche Phantasie überführt. Mungius Protagonisten sind ganz normale Menschen mit ihren ganz normalen Problemen und Sehnsüchten. Puius Jugendliche sprechen den Slang der Straße. Dieses Alltägliche war zuvor selten im rumänischen Kino zu sehen.

Anders ist "Furia" (2002), der viel beachtete Debut-Spielfilm des Bukaresters Radu Muntean, der von zwei jungen Männern handelt, die in den Kreis eines brutalen Zigeunerbosses geraten. In der Art eines amerikanischen Thrillers bedient er eher Klischees, als die Realität zu sezieren. Erfolgreich war der Film nicht zuletzt deshalb, weil in ihm der bekannteste Manele-Sänger Rumäniens mitspielt (Manele ist eine computergenerierte Mischung traditioneller Zigeunermusik mit balkanischer Volksmusik und Pop). Die großen politischen Themen - die Zeit der Diktatur, die Ereignisse vom Dezember 1989, die Studentendemonstrationen 1990, Securitate et cetera - fehlen in der jüngeren Generation. Anders als in Deutschland, wo die DDR als Tragikomödie ihre Konjunktur schon erlebt hat.

Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen kommt eher indirekt zum Ausdruck. So wie in "Filantropica"(2001) von Nae Caranfil: Der Lehrer kann es sich mit seinem Gehalt nicht leisten, einer Frau einen netten Abend zu spendieren. Weshalb er ein zweites Standbein braucht, das er als professioneller Bettler angestellt vom so genannten Philantropen findet. Es sind nicht so sehr die politischen Missstände, als die daraus resultierenden Widrigkeiten des Alltags, die zum Thema gemacht werden: häufig auf unspektakuläre Weise, lakonisch und nicht ohne Humor. Anders ist "Maria" von Calin Netzer. Netzer, der als Achtjähriger 1983 nach Deutschland ausgewandert ist, zeichnet in der deutsch-rumänischen Koproduktion über eine sich aus finanzieller Not prostituierende Mutter auf eher moralisch-sentimentale Weise ein düsteres Bild Rumäniens.


Nouvelle Vague?

Die seit 2001 entstandenen Filme veranlassten einige Kritiker von einer "Nouvelle Vague" des rumänischen Film zu sprechen. Puius Antwort darauf ist so eindeutig wie seine Filmsprache: "There is no Nouvelle Vague, there a just a few desperate filmdirectors". So wie er denken einige der jüngeren Generation. Es gibt noch keine konstante Entwicklung und die einzelnen Filme lassen sich nicht unter ein Label subsumieren.

Die internationalen Erfolge zeigen jedoch, wie groß das Potenzial junger Filmemacher ist, vor allem, wenn man bedenkt, wie bescheiden die Förderstrukturen hier im Vergleich zu vielen anderen Ländern sind (siehe die letzte Post aus der Walachei). Die internationalen Erfolge bedeuten jedoch nicht, dass die Regisseure es danach leichter haben im eigenen Land.


Deutsch-rumänische Kooperation

Falls alles erfolgreich verläuft, werden wir irgendwann in Deutschland einen Film sehen können, dessen Drehbuch Christi Puiu zusammen mit Razvan Radulescu geschrieben hat: "Offset", eine Dreiecksgeschichte über einen Deutschen in Rumänien, eine jungen Rumänin und ihren Arbeitgeber, einen Druckereibesitzer. Didi Danquart führt Regie bei diesem Projekt, das im November 2003 den Förderungszuschlag von Kulturstaatsministerin Christine Weiss erhalten hat.


Rumänischer Filmpreis

Es geht auch andersherum. Bereits zum dritten Mal fand vor kurzem das Transilvania International Filmfestival in Cluj (Klausenburg) statt. Bekannte Namen waren dabei: Lars von Trier, Michael Moore, Quentin Tarantino, Oliver Stone. Fatih Akins Berlinale-Gewinner "Gegen die Wand?wurde gezeigt. Und Michael Schorr nahm mit "Schultze gets the Blues" am Wettbewerb teil. Gewonnen hat "Dias de Santiago?des peruanischen Regisseurs Josue Mendez.

Der ersten Preis für ein rumänisches Filmdebut erhielt Constantin Popescus bereits erwähnter Kurzfilm "Apartamentul?. Als bester rumänischer Film wurde "Livius Tagebuch? von Corneliu Porumboiu ausgezeichnet. Er handelt vom dem 24jährigen Livius, der wie viele seiner Generation aufgrund des rigiden Abtreibungsverbots kein Wunschkind war. Der junge Christian Mungiu saß mit in der Jury.