Magazinrundschau - Archiv

Pritomnost

5 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 14.11.2023 - Pritomnost

Mit dem Tod von Karel Schwarzenberg verschwindet eine charismatische Figur Mitteleuropas. Schwarzenberg, den die Tschechen familiär "den Fürsten" nannten, stammte aus einem altem Adelsgeschlecht, das die Kommunisten ins österreichische Exil trieben. Nach der Samtenen Revolution holte Václav Havel ihn als Büroleiter auf die Burg, später wurde Schwarzenberg Außenminister. Petr Fischer würdigt ihn in seinem Nachruf als einen Konservativen der Tat ("Manchmal ist es nötig, bestimmte Dinge zu tun, also habe ich sie getan", habe Schwarzenberg lapidar gesagt.), sieht in ihm aber mehr noch als eine politische, eine kulturelle Gestalt, "die beste Verkörperung jener komplizierten und komplexen mitteleuropäischen Kultur, aus der er und seine Familie stammten". Sei es der Kampf für das Recht auf eine provozierende und für viele zu extreme Kunst der Wiener Aktionisten, gegen deren strafrechtliche Verfolgung sich Schwarzenberg im Österreich der sechziger Jahre einsetzte, oder später die Unterstützung der tschechoslowakischen Dissidenten - "immer galt es, Freiheit und Talente gegen das Destruktive eines dumpfen Umfelds zu verteidigen, das sich merkwürdig ähnelte. In Österreich das 'Nachkriegsbiedermeier', in dem die österreichische Gesellschaft ihren Anteil an den Verbrechen des Nazismus unter den Teppich kehrte und das die Aktionisten auf radikale Weise beendeten. In der Tschechoslowakei das 'Normalisierungsbiedermeier', in dem der relative Luxus von Fernsehen, Urlaub und einer Wochenend-Chata die Atmosphäre eines freien Denkens und Handelns niederwalzte. Karel Schwarzenberg konnte weder das eine noch das andere ertragen und solidarisierte sich deshalb mit Menschen, die sich ihre Freiheit und ihre Begabung nicht nehmen ließen. Etwa mit dem Dichter Martin Jirous, der dank der Fürsorge des Fürsten auch in der neuen Zeit überlebte, die sich schnell zum 'Konsumbiedermeier' wandelte." Petr Fischer vermisst schon jetzt "jene Offenheit und Selbstverständlichkeit, mit denen Schwarzenberg die Welt als ein zusammenhängendes Ganzes begriff und die Grenzen zwischen Kulturen überwand, immer mit einem Verständnis für ihre Unterschiede und ihre Individualität".

Magazinrundschau vom 23.05.2023 - Pritomnost

Mit dem Film "Muž, který stál v cestě (Der Mann, der im Weg stand)" widmet sich der tschechische Regisseur Petr Nikolaev dem jüdischen Reformkommunisten František Kriegel, der 1968 als Einziger heldenhaft seine Unterschrift unter die Moskauer Protokolle verweigerte, die das Ende des Prager Frühlings besiegeln sollten. Kriegel stammte ursprünglich aus Galizien, war, weil es an der Lemberger Universität einen Numerus clausus für Juden gab, zum Medizinstudium nach Prag gegangen und als Idealist in den Spanischen Bürgerkrieg gezogen, um verwundete Interbrigadisten zu versorgen. "Er trat mit großer Entschiedenheit auf, und es ist bekannt, dass er mit Pistole in der Hand andere Ärzte daran hinderte, von der Front zu fliehen", erzählt der Regisseur im Gespräch mit Agáta Pilátová. Sein Film, der gerade in den tschechischen Kinos anläuft, konzentriert sich allerdings auf die Ereignisse um 1968 und damit auf die komplexe Persönlichkeit Kriegels, der "ein Kommunist war, der Schwierigkeiten mit den Kommunisten hatte." So gehörte er zu den Politikern um Dubček, die einen anderen kommunistischen Weg ausprobierten, anders als dieser gab er jedoch dem Druck der sowjetischen Führung nicht nach und gehörte später auch zu den (drangsalierten) Unterzeichnern der Charta 77. "Die Sowjets hassten ihn, weil er keine Angst vor ihnen hatte. Er war gefährlich unabhängig und ließ sich nicht einschüchtern." Einen großen Anteil an seiner Unbeugsamkeit habe seine Frau Riva Krieglová gehabt, die als jüdische Widerstandskämpferin während des Naziprotektorats knapp Auschwitz überlebt hatte und ihm in seiner Verweigerung den Rücken gestärkt habe. Ein Teil der russischen Filmszenen wurde übrigens Ende 2021 in der Ukraine, ausgerechnet auch in Butscha gedreht, was dem historischen Thema nachträglich eine bedrückende Aktualität verleiht.

Hier der Trailer zum Film:

Magazinrundschau vom 14.06.2022 - Pritomnost

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine, so schreibt der in Prag geborene französische Historiker Jacques Rupnik in einem Essay, berührt auch die alte Frage, was Mittel- und was Osteuropa sei. 1983 hatte Milan Kundera in seinem Essay "Die Tragödie Mitteleuropas" mit seiner These vom "entführten Westen" eine Debatte angestoßen. "Mitteleuropa ist kulturell im Westen, politisch im Osten, geografisch in der Mitte", schrieb Kundera damals, zu Kommunismuszeiten. Nach 1989 habe sich, so Rupnik, Mitteleuropa von einer kulturellen zu einer politischen Idee gewandelt - "von der Kundera-Phase zur Havel-Phase". Die ganze Region hatte dieselbe politische Agenda (Desowjetisierung, Demokratisierung, regionale Zusammenarbeit, die "Rückkehr nach Europa"), auch wenn nicht klar gewesen sei, wer genau dazugehören sollte. 1990 initiierte der italienische Außenminister De Michelis mit der sogenannten "Pentagonale" eine Verbindung der einst zum Habsburgerreich gehörenden norditalienischen Region mit Österreich, der Tschechoslowakei und Jugoslawien. "Später kam Polen hinzu, dann eine lange Reihe von sechzehn Ländern mit immer unklarerem Mitteleuropa-Bezug. Als sich Ende der 90er-Jahre auch Makedonien dem in 'Zentraleuropäische Initiative' umbenannten Projekt anschloss, fragte ich Václav Havel, was das für das Projekt bedeute", erzählt Jacques Rupnik. "Er antwortete mir: 'Es gibt Institutionen, die vor lauter Höflichkeit zugrundegehen.' Darum legte Havel auch auf eine engere Auslegung des Mitteleuropa-Begriffs Wert, die 1991 in der Visegrád-Gruppe Ausdruck fand und 1994 in dem von Havel angeregten Treffen der V4-Präsidenten mit ihren Kollegen aus Slowenien, Österreich und Deutschland. "Die Einreihung der beiden letztgenannten Länder spiegelte die Vorstellung eines West- und Mitteleuropas mit germanischen Elementen wider, auch wenn der deutsche Staatspräsident Richard von Weizsäcker den Begriff 'Mitteleuropa' im Bewusstsein seiner historischen Konnotation mit einer verkappten deutschen Einflusssphäre wohlweislich vermied." Drei Dissidenten, die zu Präsidenten geworden waren - Havel, Lech Wałęsa und Árpád Göncz - hatten die V4 mit klaren Zielen gegründet: an die Zusammenarbeit der Dissidenten Mitteleuropas anzuschließen, eine Rückkehr von Vorkriegsnationalismen zu verhindern und die demokratische Transformation in Hinblick auf die europäische Integration voranzutreiben. Im Unterschied zum kriegsversehrten Südosteuropa und Balkan sei die mitteleuropäische eine Erfolgsgeschichte gewesen, so Rupnik. Nachdem sich die V4-Gruppe in den letzten Jahren mit illiberaler Demokratie und Populismus (Robert Fico in der Slowakei, Andrej Babiš in der ČR) in eine Gegenrichtung bewegt hat und "die Ideologen der regierenden Fidesz in Ungarn und der PiS in Polen deutlich mehr Nähe zu den nationalistischen Ultrakonservativen in Russland zeigten als mit der durchschnittlichen Ausrichtung Westeuropas", habe Russlands Krieg gegen die Ukraine wiederum alles verändert, und die V4 erweise sich nun als ein Nebenopfer des Krieges: "Früher hat Russland die Mitteleuropäer vereint, jetzt trennt es sie. Spätestens seit 2014, als Ungarn und Polen unterschiedlich auf die ukrainische Maidan-Revolution und die russische Annexion der Krim reagierten, glommen die Differenzen auf. Die Invasion vom 24. Februar hat diese Spaltung erneut offenbart - mit wesentlichen Folgen. Die bemerkenswerteste ist das Verschwinden des radikalen Euroskeptizismus in Mitteleuropa." Rupnik schließt seinen Essay: "Erneut werden wir daran erinnert, dass Lwiw einst Lwiw, Lwów und Lemberg zugleich war und ein Teil der Ukraine in Mitteleuropa lag. Heute neigt die Ukraine dem Westen zu, und ihr nächster Westen ist Mitteleuropa - während Mitteleuropa sich in seiner Expansion nach Osten neu zu entdecken versucht."

Magazinrundschau vom 04.07.2017 - Pritomnost

Nach den soeben in Tschechien beschlossenen verschärften Ausländergesetzen und Waffenbesitzerleichterungen fragt sich Edita Wolf, wann genau eine Zeitenwende spürbar sei, sprich, wann Tschechien sich endgültig von der Demokratie abkehre. Ihr Musiklehrer habe damals von der Neuzeit gesprochen, die 1492 begonnen habe, und gesagt: "Aber denkt nicht, dass Kolumbus eines Tages auf seinem Schiff aufwachte, aus dem Fenster guckte, die Morgenluft schnupperte und sagte: Ich spüre die Neuzeit!" Wann ist dieser Moment, fragt sich Wolf, wenn sich etwas endgültig geändert hat und diese Änderungen spürbar werden? "Ist Thomas Mann eines Morgens aufgewacht, hat das Fenster seiner Berliner Wohnung geöffnet, die Luft geatmet und gesagt: 'Ich spüre den Holocaust'? Die tschechische Geschichte verläuft schlecht, sehr schlecht. In dieser Woche hat das Abgeordnetenhaus in ungewöhnlicher Hast direkt vor den Ferien gleich vier Gesetze beschlossen. Von jedem kann man sagen, dass es nicht nur gegen die europäischen Normen und Werte verstößt, sondern auch auf grundlegende Weise das demokratische System beschädigt. (…) Ist das jetzt der Wandel oder ist er schon lange geschehen? (…) Wird die Europäische Union das schon wieder geradebiegen, oder sogar wir selbst, weil die tschechischen Massen sich auf wundersame Weise zur Demokratie durchringen werden, weil plötzlich jemand bemerken wird, dass Journalisten, Schriftsteller, Filmemacher oder anderes Kulturgeschmeiß schon seit Monaten oder gar Jahren auf die Probleme und Gefahren aufmerksam machen, die die Demokratie bedrohen? (…) Als Sie heute Morgen das Fenster geöffnet und die Luft eingeatmet haben, was haben Sie gespürt?"

Magazinrundschau vom 10.02.2015 - Pritomnost

Nicht zum ersten Mal erregt der tschechische Staatspräsident Miloš Zeman mit seinen öffentlichen Äußerungen Anstoß. Adam Drda kritisiert: "Zeman hat mit seiner unnachahmlichen Art seinen Beitrag zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz geleistet, indem er verkündete: " Ich bin einer der sechs Millionen Juden, die in Europa von den Nationalsozialisten ermordet wurden." (…) und hinzufügte, er paraphrasiere den Kennedy-Satz "Ich bin ein Berliner". (…) Es ist höchst unanständig, sich selbst und andere gutgenährte Machthaber den Juden zuzurechnen, die - vor nicht langer Zeit - unter unbeschreiblichen Qualen sterben mussten. Das Wort "Paraphrase" kaschiert hier nur Geschwätz, und JFK wird sich vermutlich im Grabe umdrehen." Auch Zemans Ankündigung, es drohe ein "Superholocaust" durch den IS, dem man sich militärisch entgegenstellen müsse, fand Drda einfach unpassend: "Ein Gedenktag für die Opfer des Holocaust gehört den Opfern des Holocaust; es ist nicht der Tag des Kampfes gegen den Terrorismus, Islamismus oder Rassismus. Dementsprechend sollte der Charakter öffentlicher Auftritte sein. Es ist eine Frage des Taktes."