Der
Krieg Russlands gegen die Ukraine, so
schreibt der in Prag geborene französische Historiker
Jacques Rupnik in einem Essay, berührt auch die alte Frage,
was Mittel-
und was Osteuropa sei. 1983 hatte
Milan Kundera in seinem Essay "Die Tragödie Mitteleuropas" mit seiner These vom "entführten Westen" eine Debatte angestoßen. "Mitteleuropa ist kulturell im Westen, politisch im Osten, geografisch in der Mitte", schrieb Kundera damals, zu Kommunismuszeiten. Nach 1989 habe sich, so Rupnik, Mitteleuropa von einer kulturellen zu einer politischen Idee gewandelt - "von der Kundera-Phase zur Havel-Phase". Die ganze Region hatte dieselbe politische Agenda (Desowjetisierung, Demokratisierung, regionale Zusammenarbeit, die "Rückkehr nach Europa"), auch wenn nicht klar gewesen sei, wer genau dazugehören sollte. 1990 initiierte der italienische Außenminister De Michelis mit der sogenannten "
Pentagonale" eine Verbindung der einst zum Habsburgerreich gehörenden norditalienischen Region mit Österreich, der Tschechoslowakei und Jugoslawien. "Später kam Polen hinzu, dann eine lange Reihe von sechzehn Ländern mit immer unklarerem Mitteleuropa-Bezug. Als sich Ende der 90er-Jahre auch Makedonien dem in 'Zentraleuropäische Initiative' umbenannten Projekt anschloss, fragte ich
Václav Havel, was das für das Projekt bedeute", erzählt Jacques Rupnik. "Er antwortete mir: 'Es gibt Institutionen, die vor lauter Höflichkeit zugrundegehen.' Darum legte Havel auch auf eine
engere Auslegung des Mitteleuropa-Begriffs Wert, die 1991 in der Visegrád-Gruppe Ausdruck fand und 1994 in dem von Havel angeregten Treffen der V4-Präsidenten mit ihren Kollegen aus Slowenien, Österreich und Deutschland. "Die Einreihung der beiden letztgenannten Länder spiegelte die Vorstellung eines West- und Mitteleuropas mit germanischen Elementen wider, auch wenn der deutsche Staatspräsident Richard von Weizsäcker den Begriff 'Mitteleuropa' im Bewusstsein seiner historischen Konnotation mit einer verkappten deutschen Einflusssphäre wohlweislich vermied." Drei Dissidenten, die zu Präsidenten geworden waren - Havel, Lech Wałęsa und Árpád Göncz - hatten die V4 mit klaren Zielen gegründet: an die
Zusammenarbeit der Dissidenten Mitteleuropas anzuschließen, eine Rückkehr von Vorkriegsnationalismen zu verhindern und die demokratische Transformation in Hinblick auf die europäische Integration voranzutreiben. Im Unterschied zum kriegsversehrten Südosteuropa und Balkan sei die mitteleuropäische eine Erfolgsgeschichte gewesen, so Rupnik. Nachdem sich die V4-Gruppe in den letzten Jahren mit illiberaler Demokratie und Populismus (Robert Fico in der Slowakei, Andrej Babiš in der ČR) in eine Gegenrichtung bewegt hat und "die Ideologen der regierenden Fidesz in Ungarn und der PiS in Polen deutlich mehr Nähe zu den nationalistischen Ultrakonservativen in Russland zeigten als mit der durchschnittlichen Ausrichtung Westeuropas", habe Russlands Krieg gegen die Ukraine wiederum alles verändert, und die V4 erweise sich nun als
ein Nebenopfer des Krieges: "Früher hat Russland die Mitteleuropäer vereint, jetzt trennt es sie. Spätestens seit 2014, als Ungarn und Polen unterschiedlich auf die ukrainische Maidan-Revolution und die russische Annexion der Krim reagierten, glommen die Differenzen auf. Die Invasion vom 24. Februar hat diese Spaltung erneut offenbart - mit wesentlichen Folgen. Die bemerkenswerteste ist das
Verschwinden des radikalen Euroskeptizismus in Mitteleuropa." Rupnik schließt seinen Essay: "Erneut werden wir daran erinnert, dass Lwiw einst Lwiw, Lwów und Lemberg zugleich war und ein Teil der Ukraine in Mitteleuropa lag. Heute neigt die Ukraine dem Westen zu, und ihr nächster Westen ist Mitteleuropa - während Mitteleuropa sich in seiner Expansion nach Osten neu zu entdecken versucht."