Efeu - Die Kulturrundschau

Menschen sehen uns an

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03.05.2024. Lars Henrik Gass erklärt in der NZZ, warum er Antisemitismus auf seinen  Oberhausener Kurzfilmtagen nicht zulässt. "Ariadne auf Naxos" am Nationaltheater ist den Besuch in Mannheim unbedingt wert, befindet die FR. Das ND stellt fest, dass Neuerungen in der Oper gelingen können - zumindest, wenn sie von Kirill Serebrennikov kommen. Die FAZ lässt sich von den Fotografien Alice Springs' begeistern. Die Publikumszahlen in Klassikhäusern steigen nach Corona wieder, hat VAN herausgefunden. Die FAZ bleibt bei Young-Adult-Literatur skeptisch.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.05.2024 finden Sie hier

Film

Andreas Scheiner spricht für die NZZ mit Lars Henrik Gass über die Kampagne, die gegen ihn und die von ihm verantworteten Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen wegen eines böswillig umgedeuteten, israelsolidarischen Postings stattfindet. Rund hundert Filme sind dadurch dem Festival durch Absagen und Rücknahmen abhanden gekommen, erzählt er und verweist auf den straff organisierten Netzwerkcharakter der anonym geführten Kampagne, bei der er es offenbar zum guten Ton gehört, mitzutun und dabei zu sein. "Leute, die mich und dieses Festival sehr genau kennen, machen da mit, obwohl sie ganz genau wissen, dass das, was in dieser Erklärung steht, diffamierend ist", etwa "dass hier palästinensische Stimmen irgendwie zum Schweigen gebracht würden. Wir hatten noch im letzten Jahr ein Programm, das ausschließlich palästinensischen Positionen gewidmet war. Es ist so vieles von vorne bis hinten falsch. Ich war immer auch für sogenannte postkoloniale Fragestellungen offen oder für das, was wir heute als Filmschaffen des globalen Südens bezeichnen. ...  Ein Teil des Problems ist, dass der Charakter einer solchen Kampagne - weil anonym gesteuert - Dialog geradezu ausschließt. Sie ermöglicht also auch keinen Aushandlungsprozess. Eine solche Kampagne bewirtschaftet nur Ressentiments und eine Affektökonomie, die völlig unreguliert Wirkungen hat." In der Welt fasst Hanns-Georg Rodek die Kampagne gegen Gass und das Festival sowie die unmittelbaren Folgen für diesen Festivaljahrgang zusammen. Daniel Kothenschulte, der das Festival auf seinem Facebook-Account mit schweren Vorwürfen übersäht hatte, berichtet in der FR von ersten Filmen des Wettbewerbs und Debattenpodien.

Außerdem: David Steinitz porträtiert für die SZ den Schauspieler Ryan Gosling, der aktuelle an der Seite von Emily Blunt in der (in der NZZ, im Freitag und bei uns besprochenen) Actionkomödie "The Fall Guy" zu sehen ist.In der FAZ gratuliert Dietmar Dath der Schauspielerin Renate Blume zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Robert Gwisdeks "Der Junge, dem die Welt gehört" (Perlentaucher Benjamin Moldenhauer erlebte in den besseren Momenten "eine leise entrückte und trotzdem mit realen Erfahrungen verbundene Liebesgeschichte"), Jerry Seinfelds Netflix-Komödie "Defrosted" (FAZ), Stéphane Brizés Liebesfilm "Zwischen uns das Leben" (Standard), Claudia Rorarius' "Touched" (FAZ), Joanna Ratajczaks Dokumentarfilm "Trust Me" über Polyamorie (SZ) und Cinzia Torrinis Netflix-Biopic "Die schöne Rebellin" über Gianna Nannini (SZ).
Archiv: Film

Bühne

Ariadne auf Naxos am NTM. Foto: Christian Kleiner.
Auf ins Nationaltheater Mannheim, ruft die begeisterte Judith von Sternburg (FR), nachdem sie Yona Kims Inszenierung der Hofmannsthal- und Strauss-Oper "Ariadne auf Naxos" gesehen hat. Detailreich und aufwendig werden die Fragen gestellt, die das Stück seit jeher umtreiben, etwa nach der "Verwandlung", die in diesem Fall den möglichen nahenden Tod von Ariadne meint: "Ja, es gibt eine Verwandlung und in Mannheim schaffen sie das, indem sie sich auf das Finale der Oper voll einlassen. Auch die Kostüme verwandeln sich, vom Jahr 2024 ins Rokoko, aber es wird klar, dass das schön, aber bloß Dekor ist. Kein Dekor ist die Liebe, die Ariadne und Bacchus jetzt voll erwischt. Das ist in dieser Ironiefreiheit eine Seltenheit. (...) Die Primadonna und der Tenor sind im Vorspiel wie immer wenig helle. Aber sie werden nun verwandelt, und die Regie schlägt sich auf ihre Seite, wie sich auch Strauss' Musik auf ihre Seite schlägt. Ohne Peinlichkeit und Pathos."

In der Komischen Oper steht "Le Nozze de Figaro" in der Inszenierung von Kirill Serebrennikov auf dem Spielplan und einiges ist anders, modernisiert und dürfte den Opern-Traditionalisten möglicherweise missfallen, so Berthold Seliger im Neuen Deutschland, der an den Neuerungen durchaus viel Freude findet: "Die große Änderung neben der Zurschaustellung des Klassengegensatzes ist die Doppelung beziehungsweise das Splitting des Cherubino in zwei Figuren. Natürlich ist diese Hosenrolle für einen Mezzosopran immer etwas merkwürdig - Cherubino ist ja 'das sexuelle Zentrum der Oper' (...) Serebrennikov löst dieses Problem dadurch, dass er Cherubino zu einem Taubstummen macht, dessen Gebärdensprache nur von seiner 'Antithese', nämlich Cherubina, verstanden wird. Wir erleben Georgy Kudrenko als Tänzer, der sich und seine Gefühle nur körperlich ausdrücken kann (aber wie intensiv ihm das gelingt!), während die ihn liebende Susan Zarrabi ihn gewissermaßen übersetzt." Seliger resümiert: "Ich weiß nicht, ob Serebrennikov mit seiner Aussage, 'dass das Genre der Oper heute eine tiefgreifende Überarbeitung seitens der Regie und der Dramaturgie erfordert', grundsätzlich recht hat. Aber wenn die Modernisierung einer Oper aus ihrem Geist heraus erfolgt, wie in diesem herrlichen 'Figaro' an der Komischen Oper, dann spricht nichts, aber auch gar nichts dagegen."

Weiteres: Das Programm der neuen Spielzeit am Berliner Ensemble steht, der Tagesspiegel stellt Highlights vor, auch die Berliner Zeitung schaut schon einmal ins Programmheft und entdeckt Spannendes von Frank Castorf bis Sophie Passmann. Ein offener Brief von Drama Panorama, dem Forum für Theater und Übersetzung und dem Verbund der Theaterautor:innen fordert mehr Aufmerksamkeit für die Übersetzerinnen und Übersetzer, die Nachtkritik berichtet. Sie hat zudem einen Liveblog für das Berliner Theatertreffen eingerichtet, das gestern Abend gestartet ist.

Besprochen werden: Ein "Falstaff" in Wiesbaden, "Die Guten" von Rebekka Kricheldorf am Stadttheater Fürth (Nachtkritik) und Florentina Holzingers Inszenierung der Hindemith-Oper "Sancta Susanna" am Staatstheater Schwerin (Neue Musikzeitung).
Archiv: Bühne

Kunst

Im Berliner Georg Kolbe Museum und der Ausstellung  "Noa Eshkol - No Time To Dance" lässt sich Dorothea Zwirner (Monopol) von der schmerzhaften Aktualität der israelischen Tänzerin, Choreografin und Künstlerin überzeugen. Bekannt ist sie neben dem Tanz vor allem für ihre Wandteppiche: "Der Titel 'No Time to Dance' beruht auf einem Zitat von Noa Eshkol von 1973, als einer ihrer Tänzer zum Jom-Kippur-Krieg eingezogen wurde. Damals, vor fünfzig Jahren, unterbrach sie ihre Bewegungs-Arbeit, um sich stattdessen mit ihrem Ensemble den großen Wandteppichen aus Stoffresten zu widmen. Offenbar bedürfen wir nach dem 7. Oktober 2023 mehr denn je solch universeller Sprachen der Verständigung und gemeinschaftlicher Arbeitsweisen, wie sie die Künstlerin Noa Eshkol entwickelt hat. Wie universell und aktuell ihr Ansatz ist, zeigt sich in der Ausstellung nicht zuletzt in den expliziten Bezugnahmen zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler wie Sharon Lockhart, Omer Krieger oder Yael Bartana auf ihr Werk."

Katharina Deschka (FAZ) hat sich in die Opelvillen Rüsselsheim begeben, um dort die Ausstellung "Alice Springs - Retrospektive" zu sehen, die die Fotografien der unter Pseudonym auftretenden June Newton zeigt. Im Vergleich mit ihrem berühmten Ehemann Helmut Newton steht sie um nichts zurück, versichert Deschka: "Ob die Modeschöpfer Jean Paul Gaultier, Yves Saint Laurent, Karl Lagerfeld, ob die Modekolumnistin Diana Vreeland oder Filmgrößen wie Billy Wilder und Fellini - Alice Springs gelang es, sie authentisch festzuhalten. Mit einem Lächeln, ernst oder arrogant und mit verschränkten Armen blicken sie den Betrachter aufmerksam an. Dies hinterlässt den vielleicht stärksten Eindruck: dass durch diese Porträts ein Dialog entsteht, der über den Augenblick der Aufnahme hinaus bestehen bleibt. Menschen sehen uns an."

Außerdem: Die Fototriennale Ray hat begonnen, Freddy Langer ist in der FAZ nicht recht überzeugt von dem Gedanken, die verschiedenen Ausstellungen im Rhein-Main-Gebiet zeitversetzt beginnen zu lassen, das diene doch eher einer Ökonomie der Aufmerksamkeit als der Fotografie selbst, meint er. Und Monopol berichtet vom Vatikan-Pavillon auf der Biennale, der durch den Papst eröffnet wurde.

Besprochen werden: "Volker Stelzmann: Dickicht" in der Galerie Poll (Berliner Zeitung) und "Lee Scratch Perry" im Cabaret Voltaire (NZZ).
Archiv: Kunst

Musik

Das Europa-Konzert der Berliner Philharmoniker in Georgien mit der Solistin Lisa Batiashvili bewegte - insbesondere vor dem Hintergrund der Demonstrationen der jungen Generation im Land für Europa und gegen Russland - alle, die ihm beigewohnt haben, berichtet Sonja Zekri in der SZ. "Als Zugabe spielt Batiashvili gemeinsam mit den Philharmonikern die 'Miniaturen' des georgischen Komponisten Sulkhan Tsintsadzes, es sind leichtfüßige, von Volksliedern inspirierte Melodien, aber dabei ebenso wenig einfältig oder schlicht wie die ungarischen Passagen von Brahms Violinkonzert. Für Batiashvili ist es eine Verneigung, eine Liebeserklärung an ihre erste Heimat, und - gemeinsam mit den Philharmonikern vorgetragen - der Gipfel des Glücks. Dieses Europa-Konzert werde über Generationen bleiben, jene, die in Tsinandali dabei waren, werden Kindern und Enkeln davon erzählen, sagt sie später, so wie ihr Vater ihr einst vom Besuch des Cleveland Orchestra 1966 erzählte, damals, als Georgien noch sowjetisch war und der Kalte Krieg jeden Austausch verhinderte. So 'surreal' sich der Auftritt in den ersten aufgewühlten Momenten danach auch anfühlt, eines ist für sie sicher: Das Konzert mit den Philharmonikern werde das Schicksal des Landes verändern. 'Wir haben heute Geschichte geschrieben.'"

Zumindest einige Klassikhäuser haben die Pandemiekrise offenbar mehr als überwunden: Das Publikum ist zurück und übertrifft zahlenmäßig hier und dort sogar die Jahre vor Corona, informiert Hannah Schmidt in VAN: Demnach nähern sich bei 15 Orchestern die Zahlen dem Vorpandemie-Status wieder an, elf sprechen davon, diese Marke bereits gerissen zu haben - und fünf Häuser können sich gar über "historisch gute Verkaufszahlen" freuen. Zurückzuführen ist der Erfolg einerseits auf "Phantomzuwachs" durch Social-Media-Aktivitäten während der Pandemie, aber auch auf eine Neuausrichtung der Kommunikation nach außen wie beim Deutschen Symphonieorchester: "Anders als sein Vorgänger stellte Orchestermanager Thomas Schmidt-Ott nicht die programmatische Dramaturgie an erste Stelle, sondern die Kommunikation und Distribution des Programms - ganz so, wie er es in seiner Vergangenheit im Marketing, vor allem in der Reisebranche, gelernt und weiterentwickelt hatte. Das Orchester versteht er als Wirtschaftsunternehmen, das mittels Neubranding und zielgruppenorientierter Kommunikation und Dramaturgie verschiedene Publika anziehen soll - zuletzt habe die 'feministische Musikpolitik' der vergangenen Saison eine ganze Reihe junger und jüngerer Hörer:innen angezogen: Kein Programm ohne das Werk einer Komponistin war die Devise - und die entsprechende Platzierung dieser Entscheidung in vielen verschiedenen Medien."

In einem Themenschwerpunkt widmet sich die FAZ Beethovens Neunter, die vor 200 Jahren uraufgeführt wurde: Jan Brachmann führt durchs Festprogramm im Beethoven-Haus Bonn und anderswo. Gerald Felber hat sich mit dem Dirigenten Antonello Manacorda getroffen, der die Neunte eben neu hat einspielen lassen. Außerdem sprach Jan Brachmann mit der Beethoven-Forscherin Birgit Lodes über das Begleitprogramm der Uraufführung.

Weitere Artikel: In seinem Blog auf Medium denkt Berthold Seliger ausführlich über einen Berliner Klavierabend von Tamara Stefanovich nach. Benjamin Moldenhauer berichtet in der taz vom niederländischen Metalfestival Roadburn. Anna Schors durchstreift für VAN die Welt der Systemkritik in der Klassik. In der taz erinnert Robert Mießner an den 1987 verstorbenen José Afonso, der mit seinem dem Song "Grândola, Vila Morena" der Sound der Nelkenrevolution in Portugal vor 50 Jahren geprägt hat. Jan Wiele (FAZ) und Jakob Biazza (SZ) schreiben zum Tod des Gitarristen Duane Eddy. Für die SZ spricht Andrian Kreye mit Kamasi Washington, der heute sein neues Album "Fearless Movement" veröffentlicht, unter anderem über Spiritualität im Jazz. Hier Washingtons Zusammenarbeit mit Andre3000:



Besprochen werden ein Konzert von Grigory Sokolov (VAN), ein Auftritt von John Zorn (Standard), ein Konzert der ukrainischen Band Okean Elzy in Berlin (taz) und das Debütalbum "Miniano" der Wiener Musikerin Rahel (taz).
Archiv: Musik

Literatur

Tilman Spreckelsen befasst sich für die FAZ mit dem "Young Adult"-Trend, der den Publikumsverlagen gerade ansehnliche Umsätze beschert: "Dieses in mancher Hinsicht so seltsam konforme Genre ... setzt auf altbackenste Boy-meets-Girl-Geschichten, auf Sex und Gewalt, und warnt im selben Atemzug davor." Im SZ-Gespräch rät der Jugendbuchforscher Felix Giesa, der grassierenden Leseschwäche unter Kindern mit Kindercomics beizukommen. Alida Bremer schreibt im Freitag einen Nachruf auf Paul Auster (mehr zu dessen Tod bereits hier).

Besprochen werden unter anderem Paul Murrays "Der Stich der Biene" (Freitag), Uwe Wittstocks "Marseille 1940" über deutsche Exil-Literatur (FR), neue Sachbücher (Freitag), Patrick Oberholzers Sachcomic "Games" (SZ) sowie Murray G. Halls und Georg Renöckls "Welt in Wien" über die 100-jährige Geschichte des Paul Zsolnay Verlags (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur
Stichwörter: Auster, Paul

Design

Für die FAZ spricht Alex Bohn mit den Designern Hillary Taymour und Charlie Engman über deren Modemarke Collina Strada. Niklas Maak beobachtet in Frankfurter Allgemeine Quarterly mit Wohlwollen, dass Renault mit seinem Modell 5 dem Elektroauto endlich etwas ästhetischen Glanz verleiht.
Archiv: Design