Efeu - Die Kulturrundschau

Nicht dümmer gewordene Utopie

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26.02.2024. Der Goldene Bär der diesjährigen Berlinale geht an Mati Diops Restitutionsfilm "Dahomey": die taz hat nichts dagegen, dass wieder ein Dokumentarfilm gewonnen hat - aber war das wirklich der beste Film? Die Zeit findet: hier bleibt einiges im Unklaren. Überschattet wurde die Preisverleihung am Ende allerdings von diversen Palästina-Solidaritätsbekundungen: Von einem "erschreckend undifferenzierten Israel-Bashing" schreibt die SZ, der Tagesspiegel attestiert der Kultur ein handfestes Israelproblem. Und die FAZ starrt bei der Musica Viva mit weitaufgerissenen Ohren ein Glühwürmchen  an.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.02.2024 finden Sie hier

Film

Ein Goldener Bär für einen Film über Raubkuns: Mati Diops "Dahomey"

Die Berlinale geht mit einem Goldenen Bären für Mati Diops Dokumentar-Essayfilm "Dahomey" zu Ende, der einen Blick auf die afrikanische Perspektive auf die Rückgabe von Raubkunst wirft. Bereits im letzten Jahr war der Goldene Bär an einen Dokumentarfilm gegangen. "Daran ist grundsätzlich nichts auszusetzen, doch die Frage ist, ob wirklich der beste Film gewonnen hat", schreibt Tim Caspar Boehme in der taz: "Dieser Wettbewerb fiel durch halbgeglücktes Arthousekino ohne stimmige ästhetische Haltung auf." Andreas Kilb verzweifelt derweil in der FAZ: "Das Zähe, Kitschige, Verworrene, das schlecht Gedachte oder Gemachte hatte im Wettbewerb der Berlinale das Übergewicht." Eine "Neupositionierung im Konzert der großen Festivals ist den beiden Direktoren nicht gelungen". Andreas Busche vom Tagesspiegel sieht das Erzählkino in einer handfesten Krise: Gestandene Autorenfilmer erhalten Nebenpreise, Mati Diop aber den Goldenen Bären für ein Nebenwerk. "Dass auch Olivier Assayas und der mauretanische Regisseur Abderrahmane Sissako ... mit unterentwickelten Filmen in den Wettbewerb geladen worden waren, unterstreicht nur den schleichenden Bedeutungsverlust."

Katja Nicodemus hat in der Zeit ihre Probleme mit dem Gewinnerfilm, der mit 67 Minuten Spielzeit "unbefriedigend kurz" ist: "Vieles wird angerissen, manches bleibt im Unklaren." Kernstück des Films ist eine energisch geführte Diskussion über Restitution unter afrikanischen Studenten: "Diese Zusammenkunft der jungen Menschen - das erzählte Diop auf der Pressekonferenz in Berlin - habe sie eigens für ihren Film organisiert. Warum macht sie das nicht kenntlich? Inwieweit hat sie auch in die Diskussionen eingegriffen? Dass Dokumentarfilme Situationen, Szenen, die sie betrachten, selbst mitinszenieren, ist kein ungewöhnliches Verfahren. Und doch fragt man sich, weshalb die in Benin vorgefundene Wirklichkeit nicht als Beobachtungsmaterial ausreichte." Weitere Berlinalefazits im Filmdienst, in der FR, NZZ und im Standard.

Überschattet wurde die Preisverleihung am Samstagabend allerdings von diversen Parteinahmen für die palästinensische Seite im aktuellen Nahostkrieg. "Von Ästhetik war kaum noch die Rede", schreibt Claudius Seidl in der FAZ. "Eliza Hittman, Jurorin eines Nebenpreises, sagte, ganz unmissverständlich in Richtung Gaza, dass es keinen gerechten Krieg geben könne. Dass am selben Tag sich der russische Überfall auf die Ukraine jährte, war ihr entfallen. Basel Adra, Palästinenser und Ko-Regisseur von 'No Other Land', forderte, keine Waffen mehr an Israel zu liefern. Ben Russell, Ko-Regisseur von 'Direct Action', hatte sein Palästinensertuch wie eine Stola über die Schultern geworfen und nannte den Krieg in Gaza einen Völkermord. Und Mati Diop ... schloss ihre Dankesrede so: 'I stand in solidarity with Palestine!' Widerspruch gab es nicht, und vermutlich wunderten sich manche Gäste, dass man das sagen durfte, wo doch nicht nur 'Strike Germany' das Gegenteil behauptet. Der Jubel des Publikums war beklemmend."

Hier das Video von der Preisverleihung für den Film "Direct Action":


Nils Kottmann schreibt in der Jüdischen Allgemeinen über den Dokumentarfilmpreis für den Film "No Other Land", der die Besatzung im Westjordanland und die Räumung palästinensischer Dörfer thematisiert: "Die Hintergründe für die Besatzung des Westjordanlandes wurden auf der Veranstaltung allerdings genauso ausgespart wie die Hamas-Massaker vom 7. Oktober. Der größte Massenmord an Juden seit dem Holocaust wird auch in 'No Other Land' mit nur einem Satz erwähnt."

Der Filmemacher Basel Adra, der zum Team von "No Other Land" gehört, forderte auch eine Einstellung deutscher Waffenlieferungen an Israel - unter dem Jubel des Publikums:

Gestern Nachmittag tauchten auf dem Instagram-Konto der Berlinale-Sektion Panorama auch noch antiisraelische Kacheln auf, die den Krieg im Gaza mit dem Holocaust gleichsetzten. Die Berlinale hat sich von diesen Kacheln distanziert und erklärte, Strafanzeige zu erstatten. Hier ein informativer Thread:


"Die Kultur hat ein massives Israel-Problem", kommentiert Christian Tretbar im Tagesspiegel die Geschehnisse: "Wo war die deutliche Kritik an der Terrororganisation Hamas, die Israel am 7. Oktober 2023 brutal überfiel? Wo war die klare Aufforderung, die noch immer festgehaltenen Geiseln freizulassen? Wo ist die Auseinandersetzung damit, dass die Hamas ihr eigenes palästinensisches Volk in Unterdrückung hält - ohne Wahlen, ohne Justiz? Wo ist die Kritik daran, dass Millionen an Hilfsgeldern in unterirdische Tunnel geflossen sind, statt in den palästinensischen Wohlstand? Kein Wort dazu. Stattdessen wohlig-warmer Applaus für eine einseitige Pro-Palästina-Show auf der großen Berlinale-Bühne in Berlin. Die Berlinale rühmt sich damit, ein politisches Filmfestival zu sein. Nur ist dies nicht ernsthaft politisch. Es ist peinlich, beschämend, verstörend und propagandistisch."

Von einem "erschreckend undifferenzierten Israel-Bashing" auf der Abschlussgala spricht SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh. "Nur die Berlinale-Leiterin Mariette Rissenbeek hat am Anfang Empathie ausgedrückt mit den Menschen in Israel. ... Ein Dialog war nicht gefragt. Am deutlichsten zu erkennen war das, als ganz am Anfang der Dokumentarfilm 'No Other Land' über die Zerstörung eines Dorfs im Westjordanland ... den vom RBB gestifteten Dokumentarfilmpreis erhielt. Da wurden Begriffe wie 'Apartheid' und 'Terror' und 'Genozid' von der Bühne gen Israel geschleudert, und eine Jurorin verkündete, dieser Film 'transzendiert jede Kritik'. Darf man nicht mal diskutieren. Das ist kein Dialog, das ist Rechthaberei und die Absage an jede Debatte."

Doch die Galaveranstaltung war nicht der einzige Schauplatz unrühmlicher Szenen. Bei einer Diskussionsveranstaltung, bei der man sich viel für Palästina einsetzte, ohne den 7. Oktober zu erwähnen, wurde eine Person, die auf diese Leerstelle hinwies, "von einem Dutzend Aktivisten niedergeschrien; einer von ihnen setzte sich währenddessen ostentativ auf den leeren Sessel direkt neben diesen Besucher", berichtet Hanns-Georg Rodek in der Welt.

Außerdem vom Festival: Christiane Peitz wirft im Tagesspiegel einen Blick auf die Herausforderungen, die sich der neuen Leiterin Tricia Tuttle stellen. Nadine Lange berichtet im Tagesspiegel von der Verleihung der Teddy Awards. Das Welt-Team sammelt (online vom Samstag nachgereicht) Momente, die in Erinnerung bleiben. Aus dem Berlinaleprogramm besprochen werden Victor Kossakowskys im Wettbewerb gezeigter Essayfilm "Architecton" (Tsp) und Tilman Singers Horrorfilm "Cuckoo" (FAZ).

Abseits der Berlinale: Marc Zitzmamn resümiert in der FAZ die César-Preisverleihung in Frankreich. Besprochen werden Kaouther Ben Hanias Dokumentarfilm "Olfas Töchter" über die Frauen von IS-Kämpfern (Standard) und die Amazon-Serie "Expats" (Jungle World).
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Literatur

Bei der Neufassung von Michael Endes "Jim Knopf"-Romanen wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, findet Andreas Platthaus in der FAZ: Heute als rassistisch erkannte Begriffe zu ersetzen, sei "bequem, auch wenn dabei Endes eigene Kritik an deren Gebrauch gleich mit getilgt wurde (so spricht nur der negativ charakterisierte 'Untertan' Herr Ärmel den kleinen Jim direkt als 'Neger' an)." Dass die Illustrationen überarbeitet werden, findet Platthaus zwar nachvollziehbar, denn die Kleinen "schenken solchen Darstellungen Glauben. Dass indes im Text harmlose Unterschiede wegredigiert werden (Chinesen dürfen zum Beispiel keine Mandelaugen mehr haben; 'Schlitzaugen' hatten sie bei Ende eh nie), das vermindert die Toleranzbotschaft von 'Jim Knopf'. Michael Endes Text wie Jims Mund pauschal auf Linie zu bringen ist Abwehrzauber, keine Aufklärung."

Außerdem: In der Jungle World verteidigt Magnus Klaue die Schriftstellerin Esther Kinsky vor der Zuordnung zum Nature Writing. Die Lyrikerin Katharina Tiwald denkt in einem Standard-Essay über das Russland ihrer Studienzeit nach, das es so nicht mehr gibt. Marc Reichwein ärgert sich in der Welt darüber, dass das Gymnasium in Pullach sich dazu entschieden hat, Otfried Preußler aus seinem Namen zu streichen.

Besprochen werden unter anderem Sofi Oksanens "Putins Krieg gegen die Frauen" (Standard), Comics über den Krieg in der Ukraine von Igort und Nora Krug (Standard), Gerbrand Bakkers "Der Sohn des Friseurs" (NZZ), Roberto Savianos Buch über den Mafiajäger Giovanni Falcone (vom TA online nachgereicht für die SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter die deutsche Erstausgabe nach 60 Jahren von Tomi Ungerers "Herr Groß und Herr Klein" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Tobias Bulang über Michael Buselmeiers "Wie in Banden":

"In alten Zeiten schlief ein dunkles Lied
in meinem Hirn vor meiner Stirn ein Wald ..."
Archiv: Literatur

Kunst

Tilman Baumgärtel besucht für die taz den ungarischen Konzeptkünstler Endre Tót, dessen "Mail Art" in einer Ausstellung der Galerie aKonzept in Berlin zu sehen ist. Besprochen wird die Ausstellung "Double Take / Der zweite Blick" im Kunstraum Hase 29 in Osnabrück (taz).
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Bühne

Szene aus "Der große Wind der Zeit" am Schauspiel Stuttgart. Foto: Katrin Ribbe.

Kann man seine Feinde lieben, fragt sich Nachtkritiker Steffen Becker während der Aufführung "Der große Wind der Zeit" am Schauspiel Stuttgart. Der Mehrgenerationenroman von Joshua Sobol über die Geschichte Israel und Palästinas, hier inszeniert von Stephan Kimmig, dreht sich um die Verhörspezialistin Libby, die nach ihrem Ausstieg aus der Armee das Tagebuch ihrer Großmutter findet und in deren Leben eintaucht. Dabei durchmisst der Roman einhundert Jahre Nahostkonflikt und Hoffnung auf eine mögliche Lösung: "Regisseur Stephan Kimmig konzentriert seine Fassung stark auf den inneren Dialog Libbys mit Eva, durch die Zeit und die von Sobol aufgefächerte Geschichte Israels hindurch. Die Bühne von Katja Haß bietet dafür den perfekten Rahmen, egal ob eine Szene 1933 in Berlin oder 2001 im Kibbuz spielt: Ein drehbarer Rohbau aus unverputztem Beton symbolisiert die rissige Vorläufigkeit der Existenzen als Kontinuum über alle Jahrzehnte hinweg." Leider verpasst die Inszenierung die Chance auf wirklich "zeitgenössisches Theater", bemerkt Becker, auf eine Aktualisierung der Handlung wird verzichtet, der 7. Oktober spielt hier keine Rolle - da wollte man den Konflikt wohl lieber vermeiden, meint Becker.

Auch FR-Kritikerin Judith von Sternburg ist vor allem betroffen, dass der Ruf nach Verständigung, der hier laut wird, in der gegenwärtigen Situation so ungehört verhallen muss: "Markerschütternd ist dieser Abend tatsächlich allein vor dem Hintergrund einer Realität, die den schlimmsten Befürchtungen im Text recht gibt. Und die jene dadurch nicht dümmer gewordene Utopie, dass man miteinander ebenso gut zurechtkommen könnte, auf eine sehr ferne Zukunft verschoben hat." In der taz bespricht Sabine Leucht das Stück.

Weiteres: Auf Welt Online porträtiert Jakob Hayner die Schauspielerin Lina Beckmann, die in Karin Beiers "Anthropolis"-Projekt am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zu sehen ist.

Besprochen werden außerdem Julien Chavaz' Inszenierung von seinem und Bastian Lomschés Stück "Hojotoho! Hojotoho! Heiaha! (sehr, sehr) frei nach Richard Wagner!" am Theater Magdeburg (nachtkritik), Andreas Merz-Raykovs Inszenierung von Natalka Vorozhbyts Stück "Non-existent" am Theater Essen (nachtkritik), Robert Borgmanns musiktheatrale Inszenierung von "Athena" nach Aischylos' "Eumeniden" am Residenztheater in München (nachtkritik), Oliver Reeses Inszenierung von Marius von Mayenburgs Stück "Ellen Babic" am Berliner Ensemble (nachtkritik, tsp, BlZ), Armin Petras Adaption von Serhij Zhadans Roman "Die Erfindung des Jazz im Donbass" (nachtkritik), die Performance "Space Dudes" vom Tanzkollektiv Henrike Iglesias in den Sophiensälen in Berlin (taz), Nino Haratischwilis Inszenierung von "Penthesilea" am Deutschen Theater Berlin (taz, SZ, BlZ), Ulrich Rasches Inszenierung von Goethes "Iphigenie auf Tauris" am Akademietheater in Wien (FAZ, SZ), Ansgar Haags Inszenierung von Torstein Aagaard-Nilsen Oper "Gespenster" am Staatstheater Meiningen (nmz), Elisabeth Papes Inszenierung Franz Lehárs Operette "Lisas Land des Lächelns" an der Oper Neukölln in Berlin (nmz), Ligia Lewis Choreographie "A Plot / A Scandal" im Rahmen der Tanzplattform Deutschland 2024 (FAZ) und Constantin Hochkeppels Tanzstück "In decent times" am Stadttheater Gießen (FR).
Archiv: Bühne

Musik

Bei der Musica Viva in München spielte das BR-Symphonieorchester unter Duncan Ward Milica Djordjevićs Komposition "Kleines Glühwürmchen, grell beleuchtet und erschrocken von unerträglicher Schönheit", dessen niedlicher Titel einen nicht einlullen sollte, warnt Jan Brachmann in der FAZ: "Die Adjektive sind die Hauptsache, die Substantive nebensächlich. ... Es beginnt mit dem Klang von Blutrauschen in den eigenen Ohren, wie man es im schalltoten Raum hören kann, dann folgt der filzgedämpfte Herzschlag der Großen Trommel. Der Puls ist hoch. In das gesamtorchestrale Rauschen von hoher Fließgeschwindigkeit mischen sich septimengesättigte Bedrohungsakkorde des Blechs, die von einer ausrangierten Bruckner-Symphonie übrig geblieben sein müssen. Bald glühen sie auf mit der spektralen Physiognomie der Schwerindustrie. Das Glühwürmchen ist ein Hochofen. Man starrt es mit weitaufgerissenen Ohren an. ... Stille Kontrastfelder zum Lärm erweisen sich als raffinierte Buketts aus Nachhall: das Leise als dekantierter Krach."

Weitere Artikel: Sorgenvoll blickt Konstantin Nowotny in seiner Musikkolumne für den Freitag auf die neuesten Fortschritte im Berich KI-Video, die es in absehbarer Zukunft wohl jeder Garagenband gestatten würde, aufwändig aussehende Musikvideos zu gestalten, während eine ganze Branche arbeitslos wird. Ljubiša Tošić betrachtet für den Standard neue Konzert-Konzepte, die der Klassik ein neues Publikum erschließen soll. Marco Frei empfiehlt den NZZ-Lesern die Schweiz-Tour der Hongkonger Philharmoniker unter ihrem Chef Jaap van Zweden. Jonathan Fischer erzählt in der NZZ, online nachgereicht, von seinem Treffen mit dem afrikanischen Reggaemusiker Tiken Jah Fakoly in Mali.

Besprochen werden ein Berliner Konzert von Benjamin Grosvenor mit dem DSO unter Robin Ticciati (Tsp) und das neue Album von Sleater-Kinney (FR).
Archiv: Musik