Efeu - Die Kulturrundschau

Die Welt zum Frühstück verspeisen

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07.12.2023. FAZ und SZ denken mit Molly Manning Walkers Film "How to Have Sex" über einvernehmlichen Sex nach. Heute wird in Berlin das 25-jährige Jubiläum der Washingtoner Erklärung gefeiert: Zeit und Tagesspiegel fragen angesichts der dürftigen Restitutionen der letzten Jahre, was genau eigentlich gefeiert wird. Im Standard erklärt Milo Rau, weshalb er sich als "linksradikal" versteht: Um ihn herum gibt es nur noch "faschistischen Realismus", meint er. Die NZZ hat die Nase voll vom Lavieren des PEN Berlin in Sachen Israel. Und die taz hört die coole Vorgängerin von Taylor Swift: Nanci Griffith.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.12.2023 finden Sie hier

Film

Jenseits der Psychedelik: "How to Have Sex"

"Besser hat man im Kino länger nicht gesehen, was es heißt, in einer vorgeblich freizügigen Gesellschaft jung zu sein", schreibt Bert Rebhandl in der FAZ über Molly Manning Walkers "How to Have Sex" über drei junge Frauen, die es bei einem Urlaub auf Kreta insbesondere auch sexuell krachen lassen wollen - wobei es Walker nicht um eine weibliche "Eis am Stiel"-Variante geht, sondern um eine Erkundung des Unschärfebereichs von Einvernehmen und sexueller Selbstbestimmung. "Walker stürzt sich mit ihren großartigen Darstellerinnen mitten hinein, bleibt dabei aber zugleich souveräne Beobachterin. Sie ist hier, um in einen Bereich zu gehen, der jenseits der Psychedelik liegt, im Innersten eines Erlebens, von dem sich manchmal erst im Nachhinein begreifen lässt, was da eigentlich gerade passiert ist. Sie macht in einem wichtigen Moment einen Schnitt, der eindeutig wirkt, den sie danach aber sukzessive in Ambivalenz auflöst. 'How to Have Sex' gehört eher in eine Linie mit neuerem Nachdenken, in dem das anscheinend Einvernehmliche an Sexualakten genauer in Augenschein genommen wird."

"Besonders" findet Susan Vahabzadeh in der SZ den Film, weil dieser mal "nicht unter reflektierten jungen Frauen mit feministischer Vorbildung spielt, sondern unter Mädchen, die noch nie über geschlechtsspezifisches Rollenverhalten nachgedacht zu haben scheinen." Wobei die Hilflosigkeit, mit der eine der Drei durch den Film taumelt, in Vahabzadeh dann doch ein "Unbehagen" auslöst, "das über 'How to Have Sex' als einzelnen Film hinausweist": Denn in letzter Zeit häufen sich junge Frauen, die in sexuellen Dingen fast naiv überrumpelt werden. "Das Kino könnte doch auch mal erzählen, warum Mädchen meinen, sie wären prüde und verklemmt, wenn sie nicht permanent sexy und cool sein wollen. .... Vielleicht ist das so, weil es von Haus aus auf Figuren fixiert ist, die eben sexy und cool sind. Und weil es ihm nur selten in den Sinn kommt, Geschichten von Frauen und Mädchen zu erzählen, die sich den Anforderungen an ihren Körpern verweigern. Eine Häufung von sprachlosen Frauenfiguren wäre allerdings ein neues Stereotyp. Gelegentlich dürfte mal eine von ihnen 'Nein' sagen. Vielleicht sogar mit Erfolg." Für den Freitag hat Thomas Abeltshauser mit der Regisseurin gesprochen. Weitere Besprechungen auf critic.de und in der FR.

Außerdem: Für die Zeit spricht Christine Lemke-Matwey mit der Dirigentin Joanna Mallwitz über Bradley Coopers (in der Welt besprochenes) Bernstein-Biopic "Maestro" (mehr dazu bereits hier). Michael Hanfeld (FAZ) und Hanns-Georg Rodek (Welt) plaudern mit Til Schweiger über dessen neuen Film "Das Beste kommt noch".

Besprochen werden Rodrigo Sorogoyens "Wie wilde Tiere" (Perlentaucher, online nachgereicht von der FAS), Takehiko Inoues japanischer Animationsfilm "The First Slam Dunk" nach seinem in Japan immens erfolgreichen Basketball-Manga (FD), Matt Johnsons "Blackberry" (taz), Aylin Tezels "Falling Into Place" (online nachgereicht von der FAS), der Fantasyfilm "Wonka" mit Timothée Chalamet (FR), und die DVD-Ausgabe von Michal Viniks "Valeria is Getting Married" (taz).
Archiv: Film

Kunst

Am heutigen Donnerstag lädt das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste in Berlin zum 25-jährigen Jubiläum der Washingtoner Erklärung ein, aber noch immer hängt in deutschen Museen und in privaten Villen Raubgut, konstatiert Tobias Timm, der in der Zeit nicht viel Grund zum Feiern sieht. Denn "die Washingtoner Erklärung war rechtlich nie bindend. Private Sammler müssen Naziraubkunst in Deutschland wegen der hier geltenden Verjährungsfristen nicht herausgeben. Selbst dann nicht, wenn ihre Eltern oder Großeltern beim Kunstkauf bewusst die Not jüdischer Menschen ausgenutzt haben. In Deutschland sollte eine 'Handreichung' der Bundesregierung dafür sorgen, dass sich zumindest die öffentlichen Museen an die Washingtoner Vereinbarung halten. Doch weigern sich manche große Museen - wie etwa die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen im Fall des Picasso-Gemäldes Madame Soler - noch immer, zumindest die Beratende Kommission NS-Raubgut anzurufen. Diese Kommission gibt in strittigen Fällen eine Empfehlung ab, auch die ist bisher allerdings rechtlich nicht bindend. Und nur wenn beide Seiten, Anspruchsteller und Museen, zustimmen, darf die Kommission überhaupt beraten. In den vergangenen 20 Jahren hat sie gerade einmal 23 Fälle entscheiden können." "Dürftig" nennt auch Nicola Kuhn im Tagesspiegel das Ergebnis der letzten 25 Jahre.

Statt Fakten Bekenntnisse, statt politischer Perspektiven persönliche Verantwortung - nie war der Kulturkampf im progressiven Lager größer als mit Blick auf den Nahostkonflikt, meint Hanno Rauterberg angesichts aberkannter Preise oder abgesagter Ausstellungen in der Zeit: "Insbesondere im kulturellen Milieu, das jetzt die Nahost-Debatten in offenen Briefen vorantreibt, gibt es eine erkennbare Neigung, das eigene Leben als permanente Gewissensprüfung zu verstehen: Die MeToo-, die Gender-, die Rassismus-, auch die Klimadiskussionen, sie alle tendieren dazu, das Private zu politisieren." Dabei braucht es "die Kultur als Freiraum, für das Unentschiedene und auch fürs Unentscheidbare. Museen, Theater, Bibliotheken müssen auch scharfe Gegensätze ertragen, im Rahmen einer allein juristisch, nicht staatlich eingegrenzten Meinungs- und Kunstfreiheit. Wenn aber ein Metadiskurs wie der über den Nahostkonflikt primär von einem Drang zur Ambiguitätsreduktion getrieben wird, lässt das für alle anderen Fragen, auch für die ästhetischen Diskurse, nichts Gutes hoffen."

Außerdem: In der Berliner Zeitung fragt Ingeborg Ruthe, weshalb Turner-Preisträger Jesse Darling zwar eine palästinensische Flagge hervorzog, aber kein einziges Wort über die Verbrechen der Hamas-Terroristen gegen Israel und die eigene Bevölkerung verlor: "Warum nur ist auch derart engagierte Kunst auf einem Auge blind?" In der FAZ kommentiert Eva Lapido: "Die Tatsache, dass Jesse Darling nicht allen als Favorit galt und dass die Times seine Installation als mit Abstand schwächsten Beitrag 'ohne visuelle Wirkung' bezeichnet hat, hilft dem Ruf des Preises gewiss nicht." Für den Guardian hat Charlotte Higgins mit Darling gesprochen. Auf Hyperallergic porträtiert Mekka Boyle den in Jerusalem lebenden 76-jährigen palästinensischen Künstler Sliman Mansour, der die Geschichte der Palästinenser in Gemälden und Skulpturen festhält.
Archiv: Kunst

Bühne

"aerocircus" von Jacob Höhne auf der Bühne der Berliner Festspiele © Phillip Zwanzig

Gemeinsam mit dem argentinischen Performance-Künstler Tomás Saraceno und dem inklusiven RambaZamba-Theater hat Jacob Höhne Thomas Köcks Stück "aerocircus" auf die Bühne der Berliner Festspiele gebracht, die großen Schauspielerinnen Ilse Ritter und Angela Winkler traten auf, dazu tanzten Elefanten, Zebras und Geister im Angesicht der Apokalypse. Kann da noch was schiefgehen, fragt Nachtkritiker Michael Laages. Ja, viel sogar, "weil Köcks Text schwach wie keiner zuvor geraten ist." Die Fabel ist "derart proppevoll gestopft mit Köck-Ideologie, plattgeklopft mit dem größtmöglichen politischen Holzhammer, dass sie in zwei Theaterstunden dann eben doch nie wirklich 'typisch RambaZamba' wird. Ganz ernsthaft etwa scheint der Autor vermitteln zu wollen, dass das Ende aller Dinge nur den finstren Umtrieben gewinngeiler Wirtschaftsbosse geschuldet sei, die sozusagen die Welt zum Frühstück verspeisen, und nicht etwa ausgelöst worden ist durch Jahrhunderte blinder Fortschrittsgläubigkeit auch all derer, die da täglich mitarbeiten an der Vernichtung rundum - also von uns selbst, unschuldig schuldig geworden, um des kurzfristigen Überlebens und des Wohlstands willen. Wie praktisch, wenn statt uns allen immer nur böse Männer zuständig waren."

Ähnlich, wenngleich gnädiger urteilt Daniel Völzke im Monopol-Magazin: "Der Text von Thomas Köck rührt dann leider … fahrig in einem Themenbrei herum, dessen Zutatenliste von Artensterben über Frauenrechte bis Robotik reicht, wobei jeder einzelne Komplex doch nur scheinbar aufgelöst wird in der redundanten Anklage gegen die verdammten neoliberalen CEOs, die 'Ausbeuter' und die Reichen dieser Welt." "Bewegend" findet Katja Kollmann in der taz allerdings einen bewegenden Abend.

Unter seiner Leitung werden die Wiener Festwochen "Widersprüche, Absurditäten, faschistisches Denken zulassen und untersuchen", warnt Milo Rau, der im Standard-Gespräch auch erklärt, weshalb er sich als "linksradikal" versteht: "Heute gilt jeder, der aufgeschlossen ist und an das Gute glaubt, schon als 'linksradikal'. Und rundherum hat sich ein gewisser faschistischer Realismus durchgesetzt, der besagt, dass die anderen zuerst dran sind mit Sterben und in der Sonne verbrutzeln. Das ist eine rationale Einstellung nach dem Prinzip 'Rette sich, wer kann'. Das kann ich verstehen, aber man muss für kurze Zeit Nachteile in Kauf nehmen, um als Menschheit eine bessere Zukunft zu haben. Linksradikal heißt für mich also, dass ich in langfristigen Strukturen versuche zu denken. Aber das Problem ist das Handeln: Wir haben zwar das Wissen, aber als Bürgerinnen und Bürger keine Möglichkeit, außer die bekannten Parteien zu wählen, die dann nichts ändern. Die Grünen in Deutschland haben nicht einmal eine Geschwindigkeitsbegrenzung durchgekriegt. Das führt dazu, dass sich Menschen vom parlamentarischen System abwenden. Diese Entwicklung möchte ich als Theatermacher gerne aufhalten."

Weitere Artikel: In der SZ wirft Egbert Tholl einen vielversprechenden Blick auf das kommende Programm der Salzburger Festspiele, die unter anderem mit einem von Christian Thielemann dirigierten "Capriccio", einem "Don Giovanni" unter dem Dirigat von Teodor Currentzis, aber auch mit Opern fernab vom Mainstream wie Georg Friedrich Haas' "Koma" oder Beat Furrers "Begehren" aufwarten. Für die Berliner Zeitung blickt Doris Meierhenrich derweil auf das Programm der Berliner Sophiensäle, das erstmals gemeinsam von Jens Hillje und Andrea Niederbuchner verantwortet wird und schon von finanziellen Kürzungen bedroht ist. Pinar Karabulut und Rafael Sanchez übernehmen ab der Saison 2025/26 für zunächst fünf Jahre die Intendanz am Zürcher Schauspielhaus, meldet Ueli Bernays in der NZZ.

Besprochen werden Manfred Trojahns Kammeroper "Septembersonate" im Opernhaus Düsseldorf (VAN, FAZ) und Lydia Steiers Inszenierug der "Aida" in der Oper Frankfurt (FR).
Archiv: Bühne

Literatur

Paul Jandl von der NZZ blickt genervt auf das Lavieren des jungen PEN Berlin in Sachen Israel, insbesondere was die Wortmeldung von dessen Sprecherin Eva Menasse betrifft. Material findet er unter anderem in einem Gespräch, das die Berliner Zeitung mit Menasse und Deniz Yücel zum Thema geführt hat. "Während auf der einen Seite die Meinungsfreiheit so weit hochgehalten wird, dass auch der Antisemitismus darunterpasst, übt sich die PEN-Sprecherin Eva Menasse gegenüber anderen missliebigen Stimmen in brachialer Rhetorik: Der österreichischen Wochenzeitung Falter sagte sie vor ein paar Tagen, also deutlich nach dem Terrorangriff der Hamas: 'In Deutschland gibt es in den letzten Jahren ein erstaunliches Anwachsen kultureller Hysterie. Die mit Scheuklappen einfach immer nur 'pro Israel' brüllt.' Und dann wird noch ein klassisches Denkmuster bedient, das sich bei linken und rechten Feinden Israels großer Beliebtheit erfreut. Eva Menasse: 'Die Enkel der SS-Männer sind psychologisch immer noch so unter Druck, für die Verbrechen der Großeltern zu sühnen, dass sie beim Thema Israel überhaupt nicht differenzieren können.'"

Außerdem: Der Schriftsteller Tuvia Tenenbom erzählt in der Zeit von seinen Begegnungen mit Menschen in Tel Aviv und im Westjordanland, die den 7. Oktober noch immer kaum fassen können. Außerdem porträtiert Elisabeth von Thadden den aus Ost-Jerusalem stammenden, auf arabische Bücher spezialisierten Berliner Buchhändler Fadi Abdelnour, der in Deutschland das Mitgefühl mit den Palästinensern vermisst.

Besprochen werden unter anderem Louise Kennedys "Übertretung" (Standard), Søren Ulrik Thomsens "Store Kongensgade 23" (Zeit), Paula Rodríguez' Krimi "Dringliche Angelegenheiten" (FR), Eva Menasses Essay "Alles und nichts sagen" (Zeit) und Gunnar Deckers Biografie über Rainer Maria Rilke (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Das Boxset "Working in Corners" macht die ersten Alben der Countrymusikerin Nanci Griffith wieder zugänglich - sehr zur Freude von tazler Oliver Tepel, dem beim Hören auch noch einmal klar wird, was von Taylor Swift, deren Blockbuster-Pop aus dem Country hervorgegangen ist, zu halten ist: "Griffith erfand den postmodernen Zitatpop für die Country-Welt, gleich Madonna prägte sie ihr eigenes Image. Ihre melodisch reichen Songs waren keinesfalls im Retro verhaftet, sondern strebten in die Zukunft. ... In ihren Liedern über Trennungen oder über das Überleben der Ernteausfälle in der 'Dust Bowl' der 1930er Jahre lebt weit mehr als das selbstbezogene Ich, welches Taylor Swift geblieben ist, nebst einer Musik, die keine Zukunft mehr sucht und sich nirgends abarbeitet." Ihre Songs werden zum "Gesamtkunstwerk, ein gestaltetes Leben, die Selbstbefreiung stiller Außenseiter. Und ja, vielleicht ist es das: Wo Nanci Griffith zu jenen sprach, die nicht passen, richtet sich Taylor Swift heute an jene, die sich sorgen, nicht zu passen. Cool war nur eine von beiden." In dieser Playlist ist die Box zusammengestellt, außerdem gibt es ein offizielles Lyric Video zu ihrem Song "Love at the Five & Dime":



Außerdem: Olivia Giovetti spricht für VAN mit James Gaffigan, dem neuen Generalmusikdirektor an der Komischen Oper Berlin. Dominika Hirschler erfährt im VAN-Gespräch mit dem Chorleiter Mathieu Romano das Geheimnis eines idealen Chorklangs. Juan Martin Koch schreibt in der NMZ einen Nachruf auf den Komponisten, Pianisten und Dirgenten Hans Huber. Harry Nutt schreibt in der FR zum Tod des Gitarristen Denny Laine.

Besprochen werden ein in Alltagskleidung gespieltes "Casual Concert" des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin mit Schuberts C-Dur-Sinfonie (VAN), die Apple-Doku "Murder Without A Trial" über den Lennon-Mörder Mark David Chapman ("Schenken Sie sich anderthalb Stunden Zeit, indem Sie diesen Dreiteiler meiden", rät Lennon-Experte Alan Posener in der Welt).
Archiv: Musik