Efeu - Die Kulturrundschau

Man darf auch mitschwofen

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24.11.2023. Ohne Skandal wäre die Documenta ja auch langweilig, meint Ex-Leiter Roger M. Buergel in der Welt, Verantwortung übernehmen will er aber auch nicht. Dass sich auch bei anderen Kunstveranstaltungen Antisemitismus finden lässt, erkennt die SZ anhand der nun abgesagten Biennale für aktuelle Fotografie. Die Reaktionen auf Ken Loachs letzten Film reichen von Zufriedenheit und Anerkennung bis Skepsis. Reine Irritation ruft indes das neue Album des Ex-Outkast-Rappers André 3000 hervor - aber vielleicht kann man mit Ende Vierzig auch einfach keinen würdevollen Rap mehr produzieren, mutmaßt ZeitOnline.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.11.2023 finden Sie hier

Kunst

In Sachen Documenta unterzieht Marcus Woell in der Welt Roger M. Buergel einer kritischen Befragung, der 2007 künstlerischer Leiter der Documenta 12 war und in diesem Jahr an der Ernennung der jüngst zurückgetretenen Findungskommission (unsere Resümees) mitgewirkt hat. Die Verantwortung dafür, dass die vierköpfige Vorschlagsgruppe, der er angehört hat, mit Ranjit Hoskoté einen BDS-Unterstützer ernannt hat, will er indes nicht übernehmen: "Wir haben deutlich gemacht, dass es eine rote Linie gibt, aber nicht erkennungsdienstlich nach Unterschriften auf Petitionen gefahndet. Ich persönlich habe mich kollegial darauf verlassen, dass alles, was man mir in diesen Gesprächen gesagt hat, wasserdicht ist. Wir hatten auch nur ein Vorschlagsrecht und nicht den Auftrag, die Kommission zu besetzen. Die Nominierung erfolgte durch die Ministerin Dorn." Er sieht das große Grundproblem der Documenta in einer "Überbietungslogik: noch innovativer, noch politischer, noch radikaler und immer noch mehr Besucher und Besucherinnen. Es hat aber keine Methodendiskussion gegeben." Und dennoch ist er im Zweifel für das Risiko: "Ich glaube nicht an diese Verwaltungslogik von Bürokratisierung und Transparenz. Das Künstlerische kann einem immer um die Ohren fliegen. Manchmal ist es besser, einen Skandal zu haben, der auch etwas über die Gegenwart erzählt, wenn man den Ball - also die Energie und die Aufmerksamkeit - aufnimmt, um die Lage zu gestalten."

Nicht nur die Documenta hat ein Antisemitismus-Problem: Die Biennale für aktuelle Fotografie in Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg ist abgesagt, nachdem einer der Kuratoren, Shahidul Amal, "antisemitisch lesbare und antisemitische Inhalte" auf Facebook geteilt hatte und "den Bitten für einen sensibilisierten Umgang mit seinen Posts nicht folgen" wollte, liest Till Briegleb für die SZ beim Vorstand der Biennale: "Auf mittlerweile entfernten Posts, die vom Team der Biennale gesammelt wurden, befinden sich plakative Rechnungen, wie viele jüdische Kinder Hitler pro Tag ermordet habe, und wie viele muslimische Netanjahu in Gaza. Ebenso ein Interview Amals mit dem palästinensischen Botschafter in Bangladesch, wo dieser die Gräueltaten der Hamas leugnet und stattdessen die antisemitischen Stereotypen von der jüdisch gesteuerten Weltpresse, von Amal unwidersprochen, verbreitet. Aber eben auch eigene Aussagen Amals wie: 'Ich fühle für alle palästinensischen und israelischen Leben, die zerstört werden.' Auch formuliert Amal Zweifel an dem von radikalen Pro-Palästinenser-Stimmen verwendeten Begriff des 'Genozids' für die Bombardierung Gazas."

Eine "Ikone der afroamerikanischen Kunst" lernt Lisa Berins in der FR im Frankfurter Tower MMK kennen: "The Black Woman Speaks" ist die erste große Ausstellung von Elizabeth Catlett in Europa. Die Bedeutung, die Schwarzsein und ständiger Rassismus für das Leben der Künstlerin haben, zieht sich auch durch die Ausstellung: "Eine ausdrucksstarke Serie empfängt gleich am Anfang der Schau: In 'The Black Woman' (1946-47) greift Catlett Eindrücke vom täglichen Leben Schwarzer Menschen auf, wie etwa die Rassentrennung in Bussen, einen Lynchmord, die Arbeit als Haushälterin, vor allem aber geht es um eine Schwarze, feministische Geschichtsschreibung: die Wanderpredigerin Sojourner Truth ist eine der abgebildeten Heldinnen, außerdem die erste afroamerikanische Dichterin Phillis Wheatley und die Schwarze Fluchthelferin Harriet Tubman. Das künstlerische Mittel, den Druck, wählt Catlett, damit sich die Bilder gut verbreiten lassen."

Außerdem: In der NZZ kommentiert Marion Löhndorf die Diskussion um die Identität Banksys: "Das Rätsel um seine Identität ist sein größter Trumpf. Wird es aufgehoben, ist die Marke Banksy so gut wie tot. Victor Sattler unterhält sich mit dem Fotografen Boris Eldagsen über den Einsatz von KI in seinem Metier (mnp).

Besprochen werden: Die Installation "missing link_" von Mischa Kuball auf der Düsseldorfer Kasernenstraße (taz) und die Ausstellung "Modigliani. Moderne Blicke" in der Stuttgarter Staatsgalerie (FAZ).
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Film

Zeigt Solidarität: Ken Loachs "The Old Oak"

Mit "The Old Oak" verabschiedet sich der 87-jährige Ken Loach vom Filmemachen: Es geht um syrische Flüchtlinge, die 2016 in einem Pub in einem abgehängten, englischen Bergarbeiterstädtchen unterkommen - und dabei Solidarität, aber auch Anfeindungen erfahren. "Loach gelingt es dabei, die verzwickte, komplexe Beschaffenheit des Durcheinanders von Motiven, das hier Feuer fängt, differenzierter darzustellen, als man von einem Künstler erwartet hätte, der mobilisieren will", schreibt Maria Wiesner in der FAZ. "Er malt nicht einfach ein Bild von den selbstlosen Helfern, die sich gegen die fremdenfeindlichen Nachbarn durchsetzen müssen. Er zeigt vielmehr die Ursachen der Vorbehalte und Kurzschlüsse, lässt etwa kurz die Immobilienkrise aufblitzen, wenn ein Mann erfährt, dass die Häuser in seiner Straße zu Spottpreisen von zyprischen Investoren gekauft wurden. Vor allem aber nimmt der Film Arbeiterfamilien ernst, die ihren Kindern kaum Essen auf den Tisch bringen können." Der Film passt gut "in Zeiten der Polarisierung", hält Klaudia Lagozinski in der taz fest: "Loach erzählt im Kleinen, macht aus Nummern und Statistiken Gesichter und bleibt beim Erzählen unaufdringlich. Er rückt nur die Worte und Gesichter in den Fokus - auch visuell. Denn die Misere steht den Personen ins Gesicht geschrieben."

Valerie Dirk vom Standard hat sich mit Loach und seinem Drehbuchautoren Paul Laverty getroffen. Beim Film selbst bleibt sie skeptisch: "Ganz geht die Geschichte nicht auf. Sie krankt an der Tatsache, dass das sozialrealistische Kino immer ein wenig betulich wirkt, sobald es von Hoffnung erzählt. Das utopische Schlussbild der geeinten Gemeinde von 'The Old Oak' wirkt denn auch wie dasjenige des Neorealisten Vittorio de Sica in 'Miracolo a Milano', in dem die Ärmsten der Armen in den Himmel aufsteigen: wie eine falsche Erlösung."

Martin Moskowicz räumt nach zehn Jahren seinen Posten als Vorstandsvorsitzender der Constantin Film, sein bisheriger Stellvertreter Oliver Berben rückt auf, meldet Michael Hanfeld in der FAZ. Außerdem führt Hanfeld ein Bilanzgespräch mit Moskowicz, in dem dieser lange die eigene Firma, deren Produktionen und Bernd Eichinger lobt, aber für die Zukunft des Filmemachens auch viel von KI erwartet. Und es geht um die verhaltenen Reaktionen der Filmbranche auf den 7. Oktober: "Es hat wenig Empathie gegeben. Es hat Wochen gedauert, dass es einen offenen Brief gab, mit jetzt rund 1000 Unterschriften drauf, viele davon stammen von der Constantin Film. Das ist ein Armutszeugnis für die deutsche Kultur. Die Filmakademie hat circa 2200 Mitglieder. Wo sind die? Mich persönlich hat das umgehauen. Ich weiß, wie schwierig es sein kann, in politischen Konflikten öffentlich Position zu beziehen. Aber hier geht es um etwas anderes - um Antisemitismus in Deutschland. Ich bekomme schon lange Beschimpfungen und Hass-Post. Ich kann damit umgehen und ich habe keine Angst. Aber womit ich schwer umgehen kann, ist, dass Kollegen und Kolleginnen, von denen ich der Überzeugung war, dass sie einen funktionierenden moralischen Kompass haben, sich nicht positionieren und relativieren. Ich fand die gesamte Reaktion unterirdisch."

Besprochen werden Ridley Scotts "Napoleon" (Zeit, unsere Kritik hier), Ota Tatsunaris "There is a Stone" (Tsp), Takashi Miikes für Netflix produzierte Anime-Serie "Onimusha" (FAZ), die Serie "Eine Billion Dollar" nach dem gleichnamigen Roman von Andreas Eschbach (FAZ, FR, Welt) und Hayao Miyazakis "The Boy and the Heron" (NZZ).
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Literatur

Besprochen werden unter anderem Paul Austers "Baumgartner" (TA), Inghill Johansens "Ein Bungalow" (FR) und María José Ferradas Band "Als du Wolke warst" mit Kindergedichten (SZ).

Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Stichwörter: Auster, Paul

Bühne

"Carmen" am Staatstheater Kassel. Foto: Sebastian Hannak.

Eine neue immersive Bühne gibt es im Staatstheater Kassel zu entdecken, freut sich Regine Müller in der taz, die diese Art von Theatererlebnis bei dem Intendant Florian Lutz schon zu schätzen gelernt hat. In der "Antipolis" kann sie "Carmen" sehen - oder besser erleben: "Hat man eine Karte im Bereich 'Antipolis' gebucht, geht man durch den Backstagebereich zur Bühne, zunächst in einen muffigen Raum, wo man vom 'Verfassungsdienst' empfangen und instruiert und zur Spionage in der revolutionär unterwanderten Fabrik aufgefordert wird. Dann darf man auf die Bühne, muss einen blauen Kittel anziehen und ein Haarnetz aufsetzen, denn nun mischt sich das Publikum mit dem Chor und Extrachor in jener Zigarettenfabrik, in der auch die aufmüpfige Carmen arbeitet." Und das gelingt: "Florian Lutz erzählt unverschnörkelt und mit viel Sinn für Situationskomik die Geschichte von Freiheitsliebe, Aufbegehren, Eifersucht und Lebensgier im Milieu von Kleinkriminellen. Dabei geht es lustig zu auf der Bühne, zur Party werden (alkoholfreier) Sekt und Bier gereicht, man darf auch mitschwofen, und die Nähe zu den aufgekratzt spielfreudigen Akteuren macht tatsächlich Spaß, der den musikalischen Substanzverlust durch das weit entfernte Orchester verschmerzen lässt."

Eine "orchestrale Psychoanalyse" erlebt Jan Brachmann in der FAZ im Schlosstheater Potsdam mit den Opern "Blond Eckbert" von Judith Weir und "Acis und Galatea" von Georg Friedrich Händel, die unter der musikalischen Leitung von Justin Doyle zusammen aufgeführt werden: "Der schön timbrierte, farblich schillernde Sopran von Aoife Miskelly als Vogel lockt einen leicht in die Geschichte. Dominik Köninger singt den Eckbert irre und verstört, oft mit nicht genau bestimmbaren Tonhöhen. Heather Lowe legt die Berthe zurückhaltend, fast matt an. Offensiver, wenn auch nicht gespenstisch, agiert Oliver Johnston in der Wiedergängerrolle als Walther, Hugo und alte Frau. Wer die Geschichte nicht kennt und die Übertitel nicht mitlesen kann, wird Schwierigkeiten haben zu folgen. Wer vorbereitet kommt, kann sie aber durchaus genießen, vor allem dank der psychomusikalischen Manipulation, deren Technik Doyle und die Kammerakademie Potsdam gekonnt handhaben." Das ist noch nicht ganz ausgewogen, aber im Ganzen doch recht kurzweilig, befindet der Kritiker: "So ganz erschließt sich auch nicht, warum überwiegend englischsprachige Sänger die deutsche Textfassung des Händel-Enthusiasten und Mozart-Mäzens Gottfried van Swieten singen müssen. Die Textverständlichkeit leidet erheblich darunter. Aber die Liebe zwischen Nymphe und Schäfer wird von Katharina Ruckgaber als Galatea und Sam Furness als Acis ebenso leidenschaftlich wie geschmackvoll ausgespielt."

Besprochen werden: Das Theaterfestival "Ein Stück: Tschechien" im Berliner Theater unterm Dach (FAZ) und "Symmetrie" von Nils Corte und Philipp Löhle am Staatstheater Nürnberg (SZ).
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Musik

Auch ZeitOnline-Kritiker Florian Eichel steht (wie zuvor Andrian Kreye in der SZ) eher ratlos vor dem Album "New Blue Sun", mit dem der einstige OutKast-Rapper André 3000 nach 17 Jahren nun ein Comeback ausgerechnet im ambientigen Flöten-New-Age-Stil versucht. "Das grenzt an Selbstsabotage" und enttäuscht weniger wegen des Stilbruchs, sondern "weil es mit seinem Ethnopop-Kitsch bereits vor siebzehn Jahren angestaubt gewirkt hätte. ... Womit wir bei der Frage angekommen wären, warum sich André 3000 ausgerechnet in Richtung eines Flöten-Comebacks hat wehen lassen. Im Laufe der vergangenen Jahre gestand der Rapper in Interviews wiederholt, unter großen künstlerischen Selbstzweifeln zu leiden. Um Hip-Hop zu produzieren, müsse man nun einmal zuvorderst hip sein - und je älter man werde, desto schwieriger sei es, den Zeitgeist nicht bloß zu imitieren, sondern tatsächlich zu verkörpern. Worüber solle er denn mit 48 authentisch rappen? Über Darmspiegelungen? Vor diesem Hintergrund verwandelt sich 'New Blue Sun' in eine souveräne Geste, in ein Klagelied über eine Musikform, die kein Konzept des würdevollen Alterns kennt."



Weitere Artikel: Ljubiša Tošić blickt für Standard auf die wirtschaftlich desolate Lage der Popmusik in Österreich. Jakob Biazza erzählt in der SZ von seiner Begegnung mit der einstigen Boyband Take That, die bei ihrem Comeback mit Anfang 50 mitunter auf die Mittel des Nashville-Rocks zurückgreifen ("erstaunlich gelungen", findet Biazza). In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Carlota Brandis über "What's Up" von den 4 Non Blondes.

Besprochen werden Shirin Davids Konzert in Berlin (Tsp, BLZ), Mark Davidsons und Parker Fishels große Dylan-Biografie sowie die Dylan-Konzertbox "The Complete Budokan 1978" (SZ), Ian Bostridges Buch "Das Lied & das Ich" (SZ) und das neue Album von Casper (Zeit Online).

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