Efeu - Die Kulturrundschau

Sucht nach Entertainment

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21.11.2023. Die Nachtkritik reist mit Falk Richters Monolog "The Silence" an der Berliner Schaubühne ins Herz des Schweigens. Die Künstlerin Bracha Lichtenberg Ettinger spricht mit der FAZ über ihren Rücktritt von der Findungskommission der Documenta: Man ließ ihr keine Zeit zu trauern, sagt sie. Ebendort wird gemeldet, dass Regula Venske als Generalsekretärin des PEN International zurückgetreten ist: Sie beklagt die mangelnde Empathie gegenüber den Hamas-Opfern. Und Elektropionier Jean-Michel Jarre sucht den Fehler in der KI als Quelle der Inspiration, wie er der FR verrät.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.11.2023 finden Sie hier

Literatur

Die Schriftstellerin Regula Venske ist als Generalsekretärin von PEN International zurückgetreten. Als Gründe dafür gibt sie in einer persönlichen Erklärung mit ihr nicht abgesprochene Pressemitteilungen des Verbandes zum Nahostkrieg an, "deren Mangel an Empathie für die israelischen Opfer des Hamas-Massakers vom 7. Oktober" sie "zutiefst schockiert und deprimiert" habe. "Noch jüngst hatte PEN International an Venske vorbei eine Stellungnahme zur Festnahme der palästinensischen Autorin Ahed Tamimi durch das israelische Militär wegen des Verdachts auf Anstiftung zur Gewalt und terroristischen Aktivitäten veröffentlicht, die klar Position für die Palästinenser bezog", schreibt Andreas Platthaus in der FAZ. "Eine von Venske angeregte Diskussion über diese Praxis und den Inhalt der Erklärung sowie die generelle Haltung des PEN gegenüber Israel, wurde von PEN-Präsident Sönmez verhindert. Verstört hat Venske auch, dass Julia Fermentto-Tzaisler, die Gründerin der israelischen PEN-Sektion, erst vor wenigen Tagen die hinausgezögerte Bestätigung ihrer Organisation durch PEN International beklagt hat. ... Das PEN-Zentrum Deutschland, deren Präsidentin Venske von 2017 bis 2021 war, hat aus Unzufriedenheit mit den Erklärungen der Londoner Zentrale eine eigene Presseerklärung veröffentlicht, in der der Hamas-Angriff verurteilt, den Opfern des Kriegs gedacht und die Bemühung um das verbindende Wort betont wurde."

Jan Wiele spricht für die FAZ mit dem Literaturwissenschaftler Dan Sinykin, der sich in seiner Studie "Big Fiction" gerade jener Phase der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts widmete, als Investoren die zuvor noch gründergeführten Verlage übernahmen, die Häuser zu Medienkonzernen ummodelten und Literatur damit zu einem Marktkalkül machten. Interessanterweise ist es zugleich die Zeit, die große Namen wie Don DeLillo, Philip Roth, Toni Morrison, Cormac McCarthy und letzten Endes auch David Foster Wallace hervorgebracht hat. Insbesondere letzterer ist hier ein spannender Protagonist: "Ich glaube, Wallace war besessen von dem Medienumfeld, in dem er sich als Schriftsteller befand, und das spiegelt sich in 'Unendlicher Spaß'. Der Roman handelt von einem Film, der so unterhaltsam ist, dass jeder, der ihn anschaut, stirbt. Die Künstlerfigur, die diesen Film im Roman macht, hat dieselbe Absicht wie Wallace mit dem Roman. Er hat ihn 1996 bei Little und Brown veröffentlicht. Der Verlag gehörte da zu Time/Warner, dem damals größten Medienkonzern der Welt. Dass Wallace das sehr beschäftigte, geht auch aus Korrespondenzen mit seiner Agentin und dem Verleger Michael Pietsch hervor. 'Unendlicher Spaß' handelt von der Angst vor unserer Sucht nach Entertainment. Davor wollte Wallace die Amerikaner bewahren mit erzieherischem Impetus. Pietsch wollte vor allem einen Bestseller, der unterhält. Also versuchte Wallace den Spagat zwischen beidem. Ich glaube, er hat dabei verloren und Pietsch gewonnen. 'Unendlicher Spaß' wurde ein perfekter Konzernroman."

Außerdem: Astrid Böhmisch vom Piper-Verlag wird künftig in Nachfolge von Oliver Zille die Leipziger Buchmesse leiten, meldet die SZ. Besprochen werden Charles Willefords Krimi "Filmriss" (Tsp), Tobias Lehmkuhls "Der doppelte Erich" über Erich Kästner im Dritten Reich (Zeit), Barbi Markovics "Minihorror" (FR), Zadie Smiths "Betrug" (NZZ) und Claire-Louise Bennets "Kasse 19" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Film

"Das Kino sind wir" von Livia Theuer

Mit regem Interesse sieht Lukas Foerster für den Filmdienst Livia Theuers Dokumentarfilm "Das Kino sind wir" über die Geschichte des Filmladens Kassel, einer in den frühen Achtzigern gestarteten Initiative, die mit dem Kino linke Gegenöffentlichkeit schaffen wollte, heute aber im Grunde ein gängiges Arthouse-Kino ist. Es ist ein Blick in eine vergangene Zeit: "Was vor allem verschwunden zu sein scheint, ist der direkte Zusammenhang zwischen den Filmen, ihren Sujets und den Kinos, die sie zeigen. Dieser Zusammenhang ist tatsächlich als Dreieck zu beschreiben: Die Mitglieder des Filmladen-Kollektivs sind selbst Aktivisten und Filmemacher. Das Filmladen-Publikum wiederum schaut sich im Filmladen-Kino einen Film über eine ältere Demonstration gegen die geplante Startbahn West des Frankfurter Flughafens an; wenig später findet es dann auf der Nachfolge-Demo wieder zusammen. Film nicht als Massenunterhaltung, aber auch nicht als exklusive Kunst um der Kunst willen, sondern als 'soziale Plastik' im Sinne Joseph Beuys - dieses Schlagwort des enigmatischen Großkünstlers mit Hut taucht gleich mehrmals auf."

Besprochen wird außerdem die Serie "Lucky Hank" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

The Silence, Photo: © Gianmarco Bresadola, 2023  


Ins "Herz der Familienfinsternis" reist Nachtkritiker Christian Rakow in Falk Richters Stück "The Silence" an der Schaubühne Berlin. An diesem für den Kritiker sehr eindrücklichen Abend geht es um alles, was nicht gesagt wurde. Falk lässt hier sein schwieriges Aufwachsen Revue passieren, mit einem Vater, der nie darüber spricht, was ihm als Soldat im Zweiten Weltkrieg passierte und einer Mutter, die nicht zuhört. Als schwuler Jugendlicher wird er zusammengeschlagen, darüber reden kann er nicht, weiß Rakow. Diesen "poetischen Gang in die Vergangenheit" tritt auf der Bühne der Schauspieler Dimitrij Schaad an und überzeugt den Kritiker dabei vollkommen: "Dimitrij Schaad als Falk Richter navigiert durch all das mit bestechender Klarheit und sagenhafter Balance: zartbitter im Humor, zurückgenommen in allem Traurigen und Ungereimten, locker den Mantel des Metakommentars reichend, falls doch mal Seelenstriptease droht. Er rahmt die Videos mit dem Erzähltext Richters und mit kleineren Szenen, wenn Richter mit aktuellen oder früheren Geliebten telefoniert oder von einer Therapeutin gecoacht wird."
Auch Rüdiger Schaper schreibt bewegt im Tagesspiegel: "Tief beeindruckt die Szene, in der er dem Vater eine Rede in den Mund legt, die der Sohn gern gehört und die dem Vater vielleicht gutgetan hätte. Aber der hatte die entsetzlichen Kriegserlebnisse tief verschlossen und um seine Seele einen Anker gelegt, der ihn hinabzog."


Momo nach Michael Ende / Regie: Christina Rast / Tanja Merlin Graf
Foto: Robert Schittko

Michael Endes Geschichte von Momo wird nie alt werden, da ist sich FR-Kritikerin Sylvia Staude nach dem Besuch von Christina Rasts Adaption des Buches von 1973 am Schauspiel Frankfurt sicher. Zumindest nicht, solange es die Zeit gibt, so Staude, denn die wollen ihr ja die "Grauen Herren" bekanntermaßen stehlen: "Diese Momo hat himmelblaue Haare und wohnt in einem seltsamen Iglu, der aus Sperrmüll gebaut zu sein scheint (Bühne: Franziska Rast). Drumrum ragt ein großes altes Amphitheater in den Himmel - und schon beginnt eine Geschichte, wonach in diesem Amphitheater einst ein Goldfisch schwamm, der sich aber als Wal entpuppte und einfach nicht golden werden wollte. Eine Pleite. Allerdings kommen Touristen mit Regenbogenhaaren, die sich von Fremdenführer Gigi alles erklären lassen - um dann noch schnell ein Selfie zu machen, was 1973 noch nicht möglich war."

Besprochen werden Tobias Kratzers Inszenierung von Jaromir Weinbergers Oper "Schwanda, der Dudelsackpfeifer" am Musiktheater an der Wien (Welt), Philipp Stölzls Inszenierung des Musiktheaterstücks "Andersens Erzählungen" im Münchner Residenztheater (FAZ), Peter Sellars Inszenierung von Marc-Antoine Charpentiers Oper "Médée" bei den Berliner Barocktagen an der Staatsoper Berlin (nmz, taz) und Lukasz Twarkowskis Inszenierung von "WoW-Word on Wirecard" an den Münchner Kammerspielen (SZ, nachtkritik).
Archiv: Bühne

Kunst

Sandra Kegel berichtet in der FAZ von einem Gespräch mit der israelischen Künstlerin Bracha Lichtenberg Ettinger, die als erste die Findungskommission der Documenta verließ (unser Resümee). Es sei ihr gar nicht um die BDS-Debatte um den indischen Kurator und Schriftsteller Ranjit Hoskoté gegangen, gibt Kegel Ettinger wieder, oder um den Antisemitismus-Skandal in Kassel. Nach dem 17. Oktober habe sie eine Pause gebraucht, zum Trauern, sich Sammeln. Die wurde ihr verweigert: "Die insgesamt sechzehn Stunden dauernden Sitzungen in Kassel fanden fünf Tage nach dem Hamas-Massaker statt. Sie konnte nicht nur nicht anreisen, weil der Flughafen in Tel Aviv gesperrt war. Sie stand wie das ganze Land unter Schock. Die Sitzung wurde trotzdem abgehalten und Ettinger aus Tel Aviv digital dazu geschaltet. Die Tatsache, dass während der Kaffeepausen Videos von Vergewaltigungen, Massakern an Frauen und dem Abschlachten von Babys über ihren Bildschirm liefen, erwähnte sie in ihrem Rücktrittsschreiben ebenso wie ihren Schmerz über den Tod israelischer und palästinensischer Zivilisten."

Nele Pollatschek reagiert in der SZ auf einen Artikel der Zeit über ihre Aussagen zur Ranjit Hoskotés Unterschrift einer BDS-Petition (unsere Resümees). Darin heißt es, Pollatschek habe Hoskoté als Antisemiten bezeichnet, dies sei "eine Unverschämtheit". Pollatschek macht die Kollegen auf einen Denkfehler aufmerksam: "Die Zeit behauptet, ich hätte Ranjit Hoskoté Antisemitismus nachgesagt, und zwar infolge von 'Unkenntnis seiner Person'. Der Verfasser des Textes versucht daher, diesen Antisemitismusvorwurf durch Kenntnis der Person Hoskoté zu entkräften. Tatsächlich habe ich Hoskoté keinen Antisemitismus nachgesagt, sondern geschrieben, dass er eine Petition unterschrieben hat, die antisemitisch ist." Und weiter: "Wer die Aussage 'Ranjit Hoskoté hat eine antisemitische Petition unterschrieben' widerlegen will, hat zwei Möglichkeiten diese Aussage zu falsifizieren. Er muss entweder beweisen, dass Hoskoté diese Petition nicht unterschrieben hat. Das war das erste was ich versuchte, als ich den Namen Ranjit Hoskoté unter der BDS-Petition sah: Ich kontaktierte Hoskoté, seinen deutschen Verlag und die Documenta, mit der Frage, ob es sich tatsächlich um seine Unterschrift handelt. (…) In seinem Rücktrittsbrief schreibt Hoskoté, dass 'keiner seiner Kritiker es für wichtig gehalten hätte, seine Perspektive einzuholen'. Das stimmt nicht."

Weiteres: FAZ und tagesspiegel gratulieren dem Kunstprofessor und Kurator Kasper König zum Achtzigsten. Anlässlich der Feierlichkeiten schenkt er dem Museum Ludwig 35 Werke, die in der Ausstellung "1000 miles to the edge. Schenkung Kasper König" zu sehen sind.

Besprochen werden die Ausstellung "Der Weg des größten Widerstandes" mit Werken von Fabian Knecht in der Städtischen Galerie Wolfsburg (taz) und die Ausstellung "Blick in die Zeit" der Stiftung Schloss Neuhardenberg (FR).
Archiv: Kunst

Musik

Andreas Hartmann berichtet im Tagesspiegel von einer Diskussionsveranstaltung im AboutBlank über Antisemitismus in der Clubszene. Das AboutBlank war der einzige Berliner Club, der das antisemitische Massaker der Hamas auf das Supernova-Festival eindeutig verurteilt hat. Hartmanns Bericht ist bedrückend: Der israelische DJ Ori Raz erzählt etwa davon, wie ihn der BDS seit Jahren cancelt, wie selbst als einstige Weggefährten einseitig Partei ergreifen. Doch dann "kommt die wohl härteste Aussage, die man an diesem Nachmittag zu hören bekommt: So wie gerade, wo einerseits relativiert wird und Verschwörungstheorien verbreitet werden und andererseits dröhnendes Schweigen herrscht, so muss es sich damals vor dem Holocaust angefühlt haben. Bedenkenswert ist auch diese Aussage von ihm: 'Ich bin besorgter über den Antisemitismus überall in der Welt als über die Probleme in Israel und Palästina. Wir können vielleicht irgendwann Frieden schließen, der Antisemitismus aber wird bleiben.'"

Für die FR spricht Max Dax mit dem Elekro-Pionier Jean-Michel Jarre, der gerade mit "Oxymoreworks" ein Remix-Projekt seines 2022er-Albums "Oxymore" fertiggestellt hat. Ganz erfrischend ist es, einmal einen Künstler zu hören, der KI nicht rundheraus verteufelt: "Am Anfang steht für mich immer die Suche nach Zufällen. Die KI sammelt digitale Daten, aber was ist eine musikalische Idee? Woher kommt eine musikalische Idee eigentlich, aus der ein Komponist ein Stück entwickelt? Technisch gesprochen, entwickelt sie sich aus Ihren eigenen analogen Daten, also Ihrer Kultur, Ihren Erinnerungen, Ihrer Familiengeschichte, den Geschichten Ihrer Freunde, Ihrem persönlichen Erfahrungshorizont. Und wenn Sie in diesen analogen Daten graben, entsteht daraus eine musikalische Idee. In diesem Sinne betrachte ich die KI als eine Erweiterung der Vorstellungskraft. ... Die Idee ist, den Prozess zu hijacken, um etwas Unerhörtes, etwas Unerwartetes zu erschaffen, das aber im Kern von Ihnen selbst stammt. ... Der Glitch ist für mich die Quelle der Inspiration."

Außerdem: Die Welt hat Elmar Krekelers Porträt der vor allem auch auf Social Media sehr populären Organistin Anna Lapwood online nachgereicht. Russland hat die Sängerin Jamala, die 2016 den Eurovision Song Contest gewonnen hat, zur Fahndung ausgeschrieben, melden die Agenturen. Marco Frei resümiert in der NZZ die "Forward"-Reihe des Lucerne Festivals.

Besprochen werden ein Konzert des Orchestre de Paris unter Klaus Mäkelä mit dem Pianisten Alexandre Kantorow (Standard), ein Auftritt der Rapperin Shirin David in Wien (Presse) und das Album "Adria" des Berliner Trios Zahn (Jungle World). Hier ein Schmuckstück aus der Platte:

Archiv: Musik