Efeu - Die Kulturrundschau

Drei Akkorde und die Wahrheit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.06.2023. Die FAZ erlebt, wie Hans-Jürgen Syberberg mit seinen "Denimmer Gesängen" eine Kleinstadt aus der Reserve lockt. Sie bewundert auch die Eleganz, mit der Renzo Piano an seinem Museum für moderne Kunst in Istanbul die Sonne und Wellen des Mittelmeers spiegelt. Die taz lernt vom japanischen Fotografen Daido Moriyama die Poesie der Unvollkommenheit. Die Welt verteidigt das Groupietum gegen Rammstein: Ein Groupie ist eine coole Frau. Die SZ feiert den Musiker Jason Isbell als besten Geschichtenerzähler der gegenwärtigen Countrymusik. Außerdem geht die SZ mit der amerikanischen Lyrikerin Ada Limon und der Nasa auf Mondfahrt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.06.2023 finden Sie hier

Architektur

Das Museum für moderne Kunst in Istanbul. Foto: Istanbul Modern.

FAZ-Kritiker Stefan Trinks hat das Gefühl, das neue (und erste) Museum für moderne Kunst in der Türkei sei schon immer da gewesen, so selbstverständlich "schwebt es in stiller Eleganz und Einfachheit" im Zollhafen von Beyoglu in Istanbul. Der Genueser Architekt Renzo Piano hat das Istanbul Modern so entworfen, dass es sich "in perfekter Mimikry" in die Umgebung einfügt, staunt Trinks: "das Azur-Wasser und der helle Steinboden um den berühmten marmornen Uhrenturm des 19. Jahrhunderts und der Moschee ... spiegeln sich in den in Ingolstadt spezialangefertigten Aluminiumpaneelen der Fassade, die fast unmerklich konkav eingewölbt sind, um eine leichte Wellung der Oberfläche zu erzeugen und die harte mediterrane Sonne zu brechen. Der Himmel aber - und das ist der eigentliche Clou des Baus - wird von der fast komplett mit Wasserflächen bedeckten Dachterrasse reflektiert, die nur unterbrochen wird von einem Pavillon-Aufbau in der Mitte, der in seinen filigranen dunklen Stützen der Nationalgalerie Mies von der Rohes in Berlin ähnelt."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Istanbul Modern, Piano, Renzo

Musik

In der Welt setzt Michael Pilz zur Ehrenrettung des Groupies an, das Penny Lane mit ihrem hinreißenden Lächeln unvergesslich machte und das die Popkritikerin Kerstin Grether so definierte: "Die Groupies kriegen den Spaß und den Spott, die Ehefrauen den Sportwagen. Ein Groupie ist eine coole Frau, die im Grunde ihres Wesens selbst eine Künstlerseele hat und deshalb die Spiegelung sucht." Groupies sind eigentlich nicht die Beute, wie Pilz betont: "Die Frauen gingen zu den Männern, weil sie wussten, was sie wollten. Marianne Faithful, Uschi Obermaier und Anita Pallenberg. Sie wurden Sängerinnen, Rollenmodelle und Rebellinnen. Sie entkamen ihrer eigenen behüteten, bürgerlichen Existenz, aus der heraus der Spiegel sie heute verdammt, und sie befreiten sich davon auf ihre Weise. Man kann sie dafür bedauern und, wenn man es nötig hat, verachten. Nur der Wahrheitsfindung im Fall Rammstein dient es ganz und gar nicht. Nach allem, was man über die Frauen, die sich als Betroffene dazu äußern weiß oder zu wissen glaubt, ist ihnen alles andere widerfahren als die sexuelle Selbstbefreiung."

Als den besten Geschichtenerzähler der Countrymusik feiert Hubert Wetzel in der SZ den amerikanischen Musiker Jason Isbell, der auf seinem Album "Weathervanes" so elegant und poetisch vom Alltag in den USA singe, von Schusswaffen an den Schulen, Drogen, Rassimus und einem Süden, dessen Schönheit einen trotzdem umhaut: "Das Wichtigste für ihn sei, die Wahrheit in Texte zu fassen, sagt Isbell. Und was ist Country-Musik? Drei Akkorde und die Wahrheit. Wer also etwas über den Zustand Amerikas wissen will, kann Jason Isbell hören. Zum Beispiel das Lied 'King of Oklahoma'. Isbell singt darin über einen jungen Mann, der bei der Arbeit von der Leiter fällt. Sein Arzt verschreibt ihm Schmerztabletten, er wird süchtig, seine Frau wirft ihn raus, sein ganzes Leben geht den Bach runter, am Ende ist er ein Junkie, der auf Baustellen Kupferrohre klaut, um sich Pillen kaufen zu können."



Weiteres: Eva Lapiro erzählt in der FAZ die Geschichte des Glastonbury-Festivals, das sich von einer Hippie-Party auf dem Acker zu einer festen Größe der britischen Pop-Industrie gewandelt hat. In der SZ resümiert mit großer Begeisterung das Leipziger Bachfest. Georg Rudiger verabschiedet im Tagesspiegel Udo Dahmen als künstlerischen Leiter der Popakademie Mannheim.

Besprochen werden das Debütalbum der britischen Band Island Of Love (FR), Saroos neues Album "Turtle Roll" (so versponnen und eklektizistisch wie ein Sommer-Mixtrape, freut sich taz-Kritikerin Stephanie Grimm) sowie neue Alben von Sigur Rós, Decisive Pink und Dudu Tassa & Jonny Greenwood (Standard).
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Kunst

Untitled', Tokyo, 1970, from 'A Hunter' © Daido Moriyama/Daido Moriyama Photo Foundation

Der Künstler Daido Moriyama war ein Pionier der Straßenfotografie, lernt taz-Kritiker Tom Mustroph in der Retrospektive, die das Ausstellungshaus für Fotografie und visuelle Medien (C/O Berlin) dem japanischen Fotografen widmet. Durch "manisches Auslöserbedienen" fing Moriyama fotografisch den  Alltag ein. Bei Moriyama lernt man ex nagativo auch, was die Digitalisierung veränderte, so der Kritiker: : "Die Alltagsaufnahmen von Moriyama haben eine viel rauere Ästhetik als heutige Bildnotizen. Sie sind oft schlecht belichtet, unscharf und wirken bei Vergrößerung sehr körnig. Er konnte noch nicht auf so hübsche Tools wie Autofokus, automatische Belichtungssteuerung und Stabilisatoren zurückgreifen. Andererseits wurden die Begriffe 'are', 'bure' und 'boke' - japanisch für körnig, verwackelt und unscharf - zu Markenzeichen einer ganz neuen Generation von Fotografen. Das Unvollkommene erzeugt dann oft auch sehr poetische Effekte. Beim Bild einer Motorradgang aus Tokio sind die Gesichter aufgrund der Überbelichtung fast komplett ausgelöscht. Das lässt über den Wunsch nach Anonymität, den Eindruck von Homogenität durch gemeinsamen Lebensstil und auch den Verdacht nicht ganz gesetzeskonformen Verhaltens trefflich spekulieren."

Weitere Artikel: FR-Kritikerin Lisa Berins macht sich auf einen Streifzug durch New Yorks Galerien und Museen und findet dort "weibliche und diverse Perspektiven, Selbstbestimmtheit, Emanzipation...schrille Acts und eine kreative Maschine mit künstlicher Intelligenz, die live ihre Träume in Kunst verwandelt." In der monopol trauert Oliver Koerner von Gustorf um die Bildhauerin Inge Mahn. Ebenfalls in der monopol teilt Alicja Schindler ihre Eindrücke von der zweiten Ausgabe der Biennale für Freiburg. Stefan Platthaus hat sich für die FAZ die Ausstellung von drei Monumentalgemälden Max Klingers im Leipziger Museum der bildenden Künste angesehen, unter anderem die fast dreißig Quadratmeter große Arbeit 'Das Urteil des Paris'.

Besprochen wird die Ausstellung "Flashes of Memory - Fotografie im Holocaust" im Museum für Fotografie in Berlin (NZZ).
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Literatur



Die Nasa funkt von jeher Musik ins Weltall, nun wird ihr Raumschiff Europa Clipper für seinen Flug zum Jupitermond Europa ein Gedicht der amerikanischen Lyrikerin Ada Limón auf den Bordwänden tragen. Im SZ-Interview mit Niklas Elsenbruch erklärt die Poeta Laureate ihre Botschaft ins Außerirdische: "Ich wollte vermitteln, dass die Erde der beste Planet bleibt, auch wenn wir das All erkunden. Sie ist wunderschön und benötigt dringend unsere Zuwendung. Deshalb richtet sich mein Gedicht zugleich in die Ferne und nach innen. Je mehr wir über andere Orte lernen, desto mehr erfahren wir über uns selbst und die Wunder vor unseren Augen... Es fühlt sich an, als sprächen meine Gedichte immer auch in eine Leere hinein, einen nicht definierbaren Raum. Darin äußert sich ein schmerzlicher Wunsch nach Verbindung - zu was genau auch immer. Ich glaube, ein Kunstwerk ins All zu bringen, ist die ultimative Vergegenwärtigung dieser Sehnsucht. So gesehen ist der Weltraum genau der richtige Ort für Lyrik."

Weiteres: Tilman Spreckelsen schreibt in der FAZ zum Tod des Jugendbuchforschers Klaus Doderer. Besprochen werden Clemens Meyers Buch "Über Christa Wolf" (FR), Wilhelm Genazinos Werktagebuch (FAZ) sowie eine Geschichte der Ekstase von Paul-Philipp Hanske und Benedikt Sarreiter (SZ).
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Stichwörter: Limon, Ada, Weltall

Bühne

"Wozzek" im Theater Chemnitz. Foto: Nasser Hashemi.

nmz-Kritiker Roland H. Dippel stimmt ohne zu Zögern ein in den begeisterten Applaus nach Balàcz Kovaliks Inszenierung von Alban Bergs Oper "Wozzeck" am Theater Chemnitz. Kovaliks inszeniert das Stück als "kalt-weiße Gegenwartsstudie", lesen wir: "Wozzeck wirkt nicht verrückt und nicht arm, sondern 'nur' hilflos. Ein unauffälliger Arbeitsbeflissener in Weiß und Grau. Auf dem Männerklo überwältigen ihn die Wahnvisionen, sonst bleibt Wozzeck bis zum Mord an Marie voll normal. Das System flutscht, allerdings ohne menschliche Nähe. Sehnsüchte brechen sich Bahn trotz junger Moraldiktatur, die sich als Beobachtung aller durch alle zeigt. Manchmal funktioniert der Text zur inszenierten Geschichte, manchmal klaffen Risse zwischen Situation und Wort. Musikalisch ist die Regie insofern, dass Bergs formale Strenge sich in der szenischen Klarheit und Knappheit spiegelt. Ein ästhetisch bestechender Alptraum aus dem begonnenen Zeitalter der totalen Transparenz."

Weitere Artikel: In der SZ schreibt Egbert Tholl einen Nachruf auf die Opernsängerin Gabriele Schnaut. Ebenfalls in der SZ trifft Dorion Weickmann die Primaballerina Alessandra Ferri, die mit sechzig Jahren immer noch große Rollen tanzt.

Besprochen werden Marshall Pynkoskis Inszenierung von Marc-Antoine Charpentiers Oper "David et Jonathas" sowie Niels Niemanns Inszenierung von Andrea Bernasconis Oper "L'huomo", beide im Rahmen der Musikfestspiele Sanssoucis (FAZ), Paula Rosolens Tanzstück "Orbis" im Gießener Stadttheater (FR) und Mirja Biels Inszenierung von "Endstation Sehnsucht" am Staatstheater Wiesbaden (FR).
Archiv: Bühne

Film

Jan Brachmann hat sich für die FAZ nach Demmin in Mecklenburg-Vorpommern gewagt, wo Hans-Jürgen Syberberg erstmals öffentlich seinen Film "Demminer Gesänge" zeigte. Es geht in ihm um jene Tragödie der letzten Kriegstage, bei der sich Hunderte Frauen aus Angst vor der Roten Armee das Leben nahmen (mehr dazu beim NDR). Die Berlinale hatte den Film abgelehnt, auch Brachmann bemerkt, Syberberg keine Fragen von Moral und Schuld stellt, sondern die Trauer um die Toten in den Mittelpunkt stellt. Aber er fordert die Demminer, die sich ihm stellen: "Hier steht ein zartes Charisma des Künstlers, der so etwas Unheroisches wie ein Café in die Welt setzt und jetzt als Gastgeber eines sommerlichen Festes auftritt, gegen das Regelwerk eines demokratisch organisierten Gemeinwesens mit der Verwaltung von Anträgen und Genehmigungsverfahren. Syberberg träumt nicht nur von der Wiedererstehung der Demminer Marktsüdseite, er will, dass der Traum zur Tat wird. Doch da stoßen nicht nur Charisma und Demokratie gegeneinander, sondern ebenso Kunstanspruch und Massengeschmack: 'Was hier den Ton angibt, ist eine Mischung aus Supermarktkultur und Schlagerdomäne. Da liegen die Prioritäten; dafür setzt man sich ein', sagt (Kunsthandwerker Wolfram) Esch. 'Wenn da nun ein Künstler wie Syberberg auftaucht, der nicht so gleitfähig ist, der scharfe Ecken und Kanten hat, dann ist die Stadt damit überfordert.'"

Besprochen wird Gene Stupnitskys Teenagerkomödie "No Hard Feelings" mit Jennifer Lawrence (NZZ, Standard).
Archiv: Film
Stichwörter: Syberberg, Hans-Jürgen, NDR