Efeu - Die Kulturrundschau

Anrufen magischer Namen

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29.12.2015. Absolut zeitgenössisch findet die FAZ die Druckgrafiken von Vija Celmins. Ebenfalls in der FAZ fordert der Komponist Jüri Reinvere: Spielt mehr neue Opern. Die Berliner Zeitung macht sich Sorgen um die Weinsteins. Arabische Lyrik eignet sich vorzüglich zur Werbung von Terroristen, lernt der Guardian. Er bedankt sich außerdem im Namen der Beatles bei Karlheinz Stockhausen. Und: alle trauern um Lemmy Kilmister und Ellsworth Kelly.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.12.2015 finden Sie hier

Kunst


Vija Celmins, Untitled, 1970, zweifarbige Lithografie

Mit regem Interesse durchstreift FAZ-Kritikerin Rose-Maria Gropp die dem druckgrafischen Schaffen von Vija Celmins gewidmete Ausstellung in der Secession in Wien: Hier "erschließt sich unweigerlich die künstlerische Dimension grafischen Schaffens, wie sie sonst nur beim Betrachten der Druckwerke Alter Meister aufscheint. Ihre vorsätzliche Taktik, den von ihr als uferlos inszenierten galaktischen und ozeanischen Weiten durch den Bildträger, das Papier nämlich, eine Kante zu geben und so die Wahrnehmung zu brechen, machen diese Grafiken absolut zeitgenössisch. Vija Celmins enthüllt die Illusion, die sie so bezwingend gestaltet, als Fiktion." (Die Künstlerin, die als Kind von Lettland erst nach Deutschland und dann in die USA flüchtete, sprach im November mit der Presse über ihr Werk und ihr Leben.)

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel besucht Peter von Becker das neue Museum Grimmwelt in Kassel, wo er sich insbesondere darüber freut, die Bekanntschaft mit dem relativ unbekannten Grimmbruder Ludwig Emil zu machen, der "ein überragender Zeichner war" und neben Wilhelm Busch "als Miterfinder des Comics gelten" könne. Zum Tod des Malers Ellsworth Kelly schreiben Hans-Joachim Müller (Welt), Hanne Wescott (NZZ) und Bernhard Schulz (Tagesspiegel).

Besprochen werden die Ausstellung "Artist & Empire" in der Tate Britain (Berliner Zeitung), der Bildband "Body of Art" (taz), die Ausstellung der Ponto-Stipendiaten im MMK3 in Frankfurt (FR) und die Ausstellung "Bart - zwischen Natur und Rasur" im Neuen Museum in Berlin (Freitag).
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Film

In der Berliner Zeitung macht sich Sebastian Moll Sorgen um die Finanzen der Indiefilm-Großproduzenten Bob und Harvey Weinstein, die zwar prestigeträchtige Filme ins Kino bringen, ihren Auktionären aber kaum Dividenden zahlen können. Trotz politischer Spannungen wird der schöne russische Weihnachts- und Silvester-Klassiker "Ironie des Schicksals" entgegen anderslautenden Ankündigungen nun doch im ukrainischen Fernsehen laufen, berichtet Jarina Kajafa in der taz. Für die FAZ bespricht Andreas Kilb Atom Egoyans neuen Film "Remember" und kann darin nurmehr "eine gefallene Ikone des Autorenfilms" betrauern. Das Filmfestival in Marrakesch bildete eine "Oase der Aufklärung", meint Marco Schmidt in der FAZ.

Und: Gestern Abend vor 120 Jahren führten die Brüder Lumière in Paris erstmals vor öffentlichem Publikum ihren Kinematografen vor und begründeten damit das Kino. Hier kann man sich alle zehn Filme des damaligen Programms ansehen. Außerdem eine schöne Lektüre für die ruhige Zeit zwischen den Jahren: Der Film Comment hat einen umfangreichen Auszug aus seinem epischen Interview mit Melodram-Meister Douglas Sirk aus dem Jahr 1978 online gestellt.
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Literatur

Poesie spielt in der arabischsprachigen Welt eine große Rolle. Die Liebe zum Gedicht hat aber eine Kehrseite, die Poesie eignet sich nämlich auch hervorragend zur Rekrutierung islamistischer Terroristen, schreibt Emma Hartley im Guardian nach Lektüre einer neuen Studie der Islamwissenschaftlerin Elisabeth Kendall: "In 'Yemen's al-Qaida and Poetry as a Weapon of Jihad', published in a forthcoming book, 'Twenty-First Century Jihad', she writes: 'The power of poetry to move Arab listeners and readers emotionally, to infiltrate the psyche and to create an aura of tradition, authenticity and legitimacy around the ideologies it enshrines make it a perfect weapon for militant jihadist causes.' Osama bin Laden composed an ode to the destruction of the USS Cole in 2000, which he recited at his son's wedding, and a second example of his verse was discovered in an abandoned safe house in Kabul, having been distributed among trainee jihadis as an exhortation to fight."

Weitere Artikel: In der FR staunt Petra Pluwatsch über Umfang und Akribie der in Göttingen seit 1971 herausgegebenen und mit dem letzten Band nunmehr erfolgreich abgeschlossenen "Enzyklopädie des Märchens" (mehr dazu hier). 2015 wurden in den USA noch weniger Bücher ins Englische übersetzt als in den Jahren zuvor, notiert Angela Schader in der NZZ.

Besprochen werden Alaa al-Aswanis Roman "Der Automobilclub von Kairo" (NZZ), Piero Schäfers Roman "Piratinnen" (NZZ), die Comic-Fortsetzung von Chuck Palahniuks Roman "Fight Club" (Tagesspiegel), Sascha Rehs "Gegen die Zeit" (taz), Jackie Thomaes "Momente der Klarheit" (Zeit), Thomas Blubachers Biografie über Ruth Landshoff-Yorck (SZ) und das von Anja Grebe herausgegebene Buch "Die ruhmreichen Taten des Ritters Theuerdank. Ein illustriertes Meisterwerk der frühen Buchdruckerkunst" (SZ).

Mehr aus dem literarischen Leben in unserem fortlaufend aktualisierten Metablog Lit21.
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Bühne

In einem Gastkommentar in der FAZ zur Debatte um das Verhältnis zwischen Oper und Tagespolitik, bekennt der Komponist und Librettist Jüri Reinvere seine Abneigung gegenüber hektisch eingestreutem Aktualitätskolorit in der Oper - auch wenn er politische Opern für "durchaus möglich" hält: "Solch ein politisches Musiktheater hält die Opernbesucher für dumme Leute, die nicht Zeitungen lesen, und serviert ihnen Politik als dünne Fettglasur auf einem alten Kuchen." Wichtiger sei es, die Stärke der Oper - der Blick aufs große Ganze von gegenwärtiger Position aus - zu pflegen. Doch "sich mit Tod, Angst, und Grausamkeit von einer höheren Warte aus, jenseits kurzatmiger Aktualität, auseinanderzusetzen, dessen ist das Theatergeschäft meinem Eindruck nach müde geworden. Der wichtigste Grund ist das Gefangen-Sein im Repertoire von stets denselben Opern."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel schwärmt Frederik Hanssen von der Opéra de Lyon unter Intendant Dorny: "Eine verstörende Bekenntnisarchitektur, die zum offenen Haus wird, Forderndes und Zugängliches unter einem Dach und ein Programm, das weit in den Stadtraum ausstrahlt, so sieht Serge Dornys ganzheitlicher Ansatz aus." Und im Guardian erklärt Robert Wilson im Telefoninterview, warum Lady Gaga und Marlene Dietrich seiner Ansicht nach phantastische Performance-Künstlerinnen sind.
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Design



Sehr beeindruckt schildert Anna Battista in ihrem Modeblog, wie das Het Nieuwe Instituut für Architektur, Design und Mode in Rotterdam wechselnde Modeausstellungen zu einem festen Bestandteil seines Hauses gemacht hat: "So far the programme has included evenings about the social power of fashion with fashion designers Pascale Gatzen and Saskia van Drimmelen (in the early 1990s fashion designer Gatzen was part of Le Cri Néerlandais together with van Drimmelen, Lucas Ossendrijver and Viktor & Rolf, a group of fashion graduates from the Arnhem Academy of Art and Design, who were also the first Dutch designers to show their collections in Paris); workshops to repair cherished garments with gold thread emulating the traditional Japanese kintsugi technique, explorations of prints and patterns via the work of textile artists and lecture nights about the transformative power of cyber-couture."
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Musik

Robert Worby erinnert in Guardian daran, was die Beatles Karlheinz Stockhausen verdankten, aus dessen Musik der Welten sie auf dem Weißen Album experimentellen Pop für die Welt machten. Und umgekehrt: "Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen Stockhausens 'Hymnen' und dem Track 'Revolution 9': Das Intonieren der Zahl neun, das Auf- und Abebben lärmender Menschenmengen, das Anrufen magischer Namen - Lennons und Harrisons magische Namen sind populäre Tänze wie Watusi und Twist, zusammen mit willkürlichen Zeitungsschnipseln: 'wirtschaftlich lebensfähig', 'Industrieproduktion', 'finanzielles Ungleichgewicht'. Sowohl die 'Hymnen' als auch 'Revolution 9' wurden mit einer vierspurigem Bandgerät aufgenommen, zu der Zeit die avancierteste Audiotechnik. Diese achtminütige Collage wirft ein Schlaglicht auf das Ende der Sechziger und brachte die Avantgarde zu Millionen von Menschen."

Hier Stockhausens "Hymnen" im unnachahmlichen Kurzwellen-Sound:



Das ist sehr traurig: Lemmy Kilmister ist tot. Der Frontmann von Motörhead starb zwei Tage nach seiner Krebsdiagnose, meldet die Berliner Zeitung: "'Wir können nicht beginnen, unseren Schock und unsere Traurigkeit auszudrücken, es gibt keine Worte', schrieb die Band auf Facebook. Sie kündigte an, sich in den kommenden Tagen ausführlicher äußern zu wollen. 'Aber für den Moment: Spielt Motörhead laut, spielt Hawkwind laut, spielt Lemmys Musik laut. Habt einen Drink oder mehrere.'" Ausführlichere Nachrufe und Videos im Guardian. Hier sind Motörhead noch mal komplett, frisch und laut:



Und hier der bestürzte Tweet von Metallica:


Besprochen werden Stephen R. Witts Buch "How Music Got Free" über die Geschichte der Musikpiraterie (taz) und die Musikschnippselsammlung "Montage of Heck" von Kurt Cobain (taz).
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