9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Ideen

1895 Presseschau-Absätze - Seite 3 von 190

9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.03.2024 - Ideen

Die amerikanischen Politologen William J. Dobson und Christopher Walker erklären in einem ganzseitigen Essay für die "Gegenwart"-Seite der FAZ, was sie unter "scharfer Macht" (sharp power) verstehen, Techniken der Einflussnahme von Autokratien, um Demokratien zu unterminieren. Die Demokratien hätten ihre Stärke - Transparenz und Meinungsfreiheit - bei weitem nicht entschieden genug verteidigt. "Weil die Demokratien die Augen vor den korrupten Praktiken autoritärer Regime verschlossen, Selbstzensur übten oder den diktatorischen Machthabern erlaubten, die Bedingungen der Zusammenarbeit zu diktieren, verloren sie und ihre zentralen Institutionen an Boden. So öffneten sich Universitäten in offenen Gesellschaften viel zu bereitwillig den von staatlicher Seite getragenen Konfuzius-Instituten zur Förderung der chinesischen Kultur und Sprache oder ließen auf andere Weise zu, dass autoritär gelenkte Initiativen die akademische Integrität untergraben konnten."

Antisemitismus kann gar nicht links sein, sondern war immer rechts, "das wissen wir aus der Geschichte, aus dem Geschichtsunterricht", erklärt allen Ernstes der Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz im FR-Interview mit Michael Hesse. "Die Linke ist ideologisch an sich nicht antisemitisch, weder in der religiösen Spielart des Antijudaismus noch in der rassistischen des Antisemitismus. Wenn man generell gegen Juden Stellung bezieht, ist das Antisemitismus. Mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die unbedingte, einseitige und völlig unhinterfragte Parteinahme für oder gegen die eine oder die andere Seite das Problem darstellt."

Im Standard-Interview mit Oliver Geyer spricht Alexander Kluge, der vor Kurzem mit Stefan Aust das Buch "Befreit die Tatsachen von der menschlichen Gleichgültigkeit" herausgebracht hat, darüber, wie man der drohenden Gefahr durch die AfD besser begegnen solle. "Wenn ich das Erstarken der AfD betrachte, dann muss ich zurückgehen in das Jahr 1929. Da hätte man den Hitler verhindern können. 20.000 Lehrer und Lehrerinnen in der Erwachsenenbildung hätten den Mann (...) das Handwerk legen können. Dann hätten wir 1945 nicht im Keller sitzen müssen. Auch heute können wir uns um das kümmern, was 2032 nicht passieren soll." Konkreter wird er leider nicht.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.03.2024 - Ideen

Die postmoderne Philosophie glaubt, dass die Welt durch Sprache konstruiert wird. Judith Butlers Äußerungen zum 7. Oktober und ihre tendenzielle Leugnung des Antisemitismus und der sexuellen Gewalt bei den Hamas-Pogromen ist für Andreas Rosenfelder in der Welt so etwas wie der Super-GAU dieses Glaubens: "Auch wenn Judith Butlers Pariser Auftritt fassungslos macht, folgt er doch einer inneren Logik. Wer nur noch die 'strukturelle Gewalt' der Sprache in den Blick nimmt und sich besessen an der symbolischen Ordnung abarbeitet, der wird irgendwann blind für die reale, physische, ereignishafte Gewalt. So ist es fast schon wieder konsequent, dass Butler den Terror als 'Widerstand' bezeichnet und somit einen Lieblingsbegriff der postmodernen linken Zeichentheorie auf das Morden überträgt."

Für den Autor Leander Scholz sind die Resakralisierung der Hagia Sophia durch Erdogan und die Restitution von geraubter Kolonialkunst an die Ursprungsländer Ausdruck eines selben Phänomens, wie er in der NZZ darlegt: "Die Restitution der Gegenstände folgt dabei nicht nur dem Grundsatz, dass unrechtmäßig Erworbenes zurückgeführt werden muss. Es geht darüber hinaus auch darum, dass bedeutende Kulturgüter wieder den angestammten Platz in ihrer Herkunftsgesellschaft einnehmen sollen. Dem liegt die Vorstellung von intakten und integralen Kulturen zugrunde. Auch wenn es für die Rückgabe kolonialer Gegenstände ethische Motive gibt, gehört dieser Prozess der Wiederherstellung ebenso dem tiefgreifenden kulturellen Wandel an, der die erneute Umwidmung der Hagia Sophia in eine Moschee bestimmt hat. In diesem Wandel bereitet sich eine neue Weltordnung vor."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.03.2024 - Ideen

Wer dachte, Judith Butler hätte den absoluten Tiefpunkt der Debatte erreicht mit ihrer Behauptung, die Hamas-Massaker am 7. Oktober an israelischen Zivilisten seien ein Akt des Widerstands gewesen (unser Resümee), hat sich getäuscht. In ihrem Pariser Vortrag bezweifelte sie auch, dass Vergewaltigungen stattgefunden hätten: Dafür wolle sie erst mal die Beweise sehen. (Die UNO hat lange gebraucht, "berechtigten Grund für die Annahme" zu finden, dass sexuelle Gewalt stattgefunden hat, sie hat inzwischen aber einen entsprechenden Report veröffentlicht, eine Zusammenfassung finden Sie hier). Butler erklärte nun bei ihrem Auftritt: "Whether or not there is documentation for the claims made about the rape of Israeli women (*sie verzieht das Gesicht*), OK, if there is documentation then we deplore that, but we want to see that documentation and we want to know that it is right." Ein Incel, der einen Vergewaltigungsvorwurf bestreitet, hätte das genauso formuliert.


Auch dies ist eigentlich nichts, was man am Weltfrauentag lesen will, aber leider Realität: Eva Ladipo überlegt in der FAZ, welchen Anteil Frauen (Alice Weidel, Marine LePen, Giorgia Meloni, Isabel Diaz Ayuso, Riikka Purra, Suella Braverman und Priti Patel, Nikki Haley) am Höhenflug des rechten Populismus haben: "Ausländerfeindliche Politik, gespickt mit Ressentiments gegen vermeintliche Eliten, hat einen immensen Aufschwung erfahren, seit sie keine reine Männerdomäne mehr ist und nur von glatzköpfigen Kerlen mit Springerstiefeln vertreten wird." Ihre Wut und Ressentiments verkleiden diese Politikerinnen gerne als Sorge um ihre Kinder, so Lapido, was sie sympathischer wirken lässt. Und weil Frauen eh so emotional sind, können sie gern auch mal für (wenn es gegen Migranten geht), mal gegen den Feminismus sein (wenn es gegen LGBTQ-Rechte geht). "So gesehen besitzen rechte Politikerinnen größere Bein- und Bewegungsfreiheit als ihre männlichen Kollegen. Sie geraten weniger schnell in Verruf und können sich Widersprüche leisten. Ihre wachsende Anhängerschaft scheint nicht zu stören, dass weder die lesbisch lebende Alice Weidel noch die zweimal geschiedene Marine Le Pen oder die alleinerziehende Giorgia Meloni das traditionelle Familienbild leben, das sie hochhalten. Der Vorwurf der Heuchelei kann Donald Trumps Schwestern im Geiste nichts anhaben. Im Gegenteil: Je widersprüchlicher ihre Positionen, desto menschlicher und wählbarer wirken sie."

In Geschichte der Gegenwart denkt der Literaturwissenschaftler Robert Stockhammer über die juristische Bedeutung des Wortes "Genozid" nach. "Als jemand, der sich, ohne ausgebildeter Jurist zu sein, seit über zwanzig Jahren mit Verwendungen des Genozid-Wortes beschäftigt, tendierte ich bis vor wenigen Wochen zum resignativen Ergebnis, dessen juristische Bestimmung sei zunehmend unklarer geworden und seine implizite politische Funktion habe sich entleert. Einige Etappen, die mich dazu geführt haben, seien hier kurz rekapituliert." Das tut Stockhammer dann auch und hofft am Ende, dass die Klage Südafrikas gegen Israel vor dem IGH wieder etwas mehr Klarheit bringt.

Der "Global Assembly", die ihre Veranstaltung aus Sorge als antisemitisch gebrandmarkt zu werden, abgesagt hatte, hat offenbar die Courage gefehlt (unser Resümee), meint der Historiker Moshe Zuckermann in der FR. Aber gab es überhaupt Vorwürfe gegen die Veranstaltung? Für Zuckermann jedenfalls ist auch so klar, dass sich Martin Walsers "Auschwitz-Keule" inzwischen bewahrheitet, da "sich der Antisemitismus-Vorwurf im öffentlichen Diskurs Deutschlands immer mehr verdinglicht hat und mittlerweile zum regelrechten Fetisch der ihn Erhebenden geronnen ist… Mit Antisemitismusbekämpfung hat dieses Diktum längst nichts mehr zu tun, mit der zynischen Maulkorb-Taktik der sich in ihrer Rolle offenbar sehr gefallenden 'Antisemiten'-Jäger dafür umso mehr."

Im FR-Gespräch mit Michael Hesse betont die Philosophin Kristina Engelhard die Aktualität von Kant: "Kant ist der Meinung, dass es unsere Aufgabe als Menschen ist, unsere Vermögen zu entwickeln, also einen höheren kulturellen Status zu erreichen, gerade indem wir in der Lage sind, von unseren individuellen Neigungen abzusehen. Was er als Kultivierung bezeichnet, sieht er als einen fortschreitenden Prozess. Ein wichtiger Auftrag, besonders wenn man die zahlreichen Krisen unserer Gegenwart betrachtet. Wir leben in einer Zeit, in der die negativen Seiten des Partikularismus offensichtlich sind, beispielsweise in zunehmenden internationalen Konflikten und Umweltkrisen, die ihren Ursprung in Partikularinteressen haben. Daher ist Kants Auftrag, von den eigenen Interessen zu abstrahieren und stattdessen unsere Fähigkeiten als handelnde Subjekte in den Blick zu nehmen, d. h. uns bewusst zu werden, dass wir fähig sind, vernünftig, auf der Grundlage unseres sichersten Wissens und unter der Maßgabe von Moralität und Freiheit zu handeln, von unschätzbarem Wert."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.03.2024 - Ideen

"Butler spuckt auf Gräber, über die sie vorschlägt, ein Seminar zu Wertungsgesichtspunkten bei Abschlachtungen abzuhalten", antwortet ein zorniger FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube auf Judith Butlers Behauptung, die Pogrome der Hamas seien kein Terror und auch nicht antisemitisch gemeint. Vielmehr versteht sie den Blutkarneval als "Widerstand" (unser Resümee): "Die Eltern der toten Kinder und die Kinder der toten Großeltern werden ihr für diese Unterscheidung danken. Judith Butler will sie wie uns erkennbar für dumm verkaufen. Denn sie weiß ja, dass am 7. Oktober am Rande des Gazastreifens auch Nicht-Israelis massakriert worden sind. Sie weiß, dass unter den Toten Kleinkinder waren und Jugendliche, die mit dem Staat Israel zu identifizieren das Abstraktionsvermögen von Killern erfordert. Der Überfall auf sie war weder eine militärische Operation, noch galt sie staatlichen Zielen. Es ging um ein Blutbad in der Bevölkerung."

Ähnlich sieht es Jan Feddersen in der taz. Butlers Verklärungen der Hamas seien zwar nichts Neues. Markant sei aber unter anderem folgender Umstand: "Dass Butler sich explizit auch politisch argumentierend versteht und dabei (empirisch blind) verkennt, dass der 7. Oktober kein Hamas-Angriff auf israelische Militärs war, sondern ein Schlachten und Morden an Wehrlosen (sehr oft: Teilen der israelischen Friedensbewegung). Die Hamas-Marodeure zeigten sich nicht in Gefolgschaft Mandelas und Gandhis, sondern in der Tradition der SS in Osteuropa."

Es sei richtig, Judith Butlers Aussage über den "bewaffneten Widerstand" der Hamas zu verurteilen - und trotzdem: "Die Feststellung, dass dem 7. Oktober andere Gewalt vorangegangen ist, ist so banal wie richtig", meint Nils Markwardt auf Zeit Online. Das Leid von Juden anzuerkennen, sei auch wichtig: "Aber wenn Debatte kein ideologischer Teamsport sein soll, muss im Gegenzug auch das Leid der Palästinenser anerkannt werden. Oder konkreter gesagt: Es ist skandalös, wenn - wie etwa im Zuge der Abschlussveranstaltung der Berlinale - manchen Leuten die über 1.000 am 7. Oktober getöteten oder in Geiselhaft genommenen Israelis kein Wort wert sind. Doch ebenso skandalös ist es, wenn anderen wiederum die mittlerweile über 30.000 toten Palästinenser im Gazastreifen offenbar lediglich wie ein unvermeidbarer Kollateralschaden des israelischen Rechts auf Selbstverteidigung nach einem Terrorangriff erscheinen."

Warum verteidigt die "berühmteste linke Denkerin der Gegenwart" eine Terror-Organisation wie die Hamas, fragt sich Jens-Christian Rabe in der SZ. "Butler ist der Ansicht, dass die Deutung und Verurteilung der Ereignisse am 7. Oktober als antisemitischer Terror jede Diskussion über die 'politische und gewaltsame Struktur, aus der der Aufstand hervorging' sofort unmöglich mache. Dies erscheint allerdings, auch das ist Teil des Bildes, nicht nur auf der postkolonialen Linken längst viel mehr Menschen plausibel, als einer vernünftigen Diskussion zu wünschen ist."

In Frankreich gibt es übrigens, trotz der kommentarlosen Absage von Vorträgen in der Ecole Normale Supérieure, so gut wie keine Reaktionen der größeren Medien. Nur die trotzkistische Postille Révolution permanente zitiert einige Tweets rechter Politiker und solidarisiert sich mit Butler. "Die Angriffe auf Judith Butler sind Teil der Kriminalisierung des Ausdrucks der Solidarität mit Palästina und mit dem Kampf des palästinensischen Volkes."


In der Frankfurter Paulskirche sollte eine "Global Assembly" stattfinden und sich mit postkolonialen Fragen befassen. Sie wurde sozusagen in vorauseilender Unterwerfung abgesagt, weil man fürchtete, sowieso als antisemitisch gebrandmarkt zu werden. Hier das Statement der Veranstalter. Thomas Thiel bekennt in der FAZ seine Befremdung: "Ein Vorwurf ist keine Zensur, man kann ihm mit Argumenten begegnen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.03.2024 - Ideen

Schwerpunkt Judith Butler

Die Hamas-Pogrome vom 7. Oktober waren nicht antisemitisch, und sie waren auch kein Terrorismus, sondern bewaffneter Widerstand, sagt Judith Butler in diesem Video, das in Paris aufgenommen wurde - bei Twitter ist der Aufruhr riesig.


Bei Unherd hat Laurel Duggan Butlers Äußerungen dankenswerter Weise bereits resümiert: "Butler sagte bei einer Diskussionsveranstaltung in Frankreich, die vom Videopodcast 'Paroles d'Honneur' veranstaltet wurde, dass die Angriffe 'erschütternd' und 'schrecklich' seien, aber dennoch einen 'bewaffneten Widerstand' gegen staatliche Gewalt darstellten und als solcher behandelt werden sollten. Sie sagte auch, man könne darüber diskutieren, ob die Angriffe der Hamas richtig gewesen seien. 'Wir können unterschiedliche Ansichten über die Hamas als politische Partei haben. Wir können unterschiedliche Ansichten über den bewaffneten Widerstand haben', so Butler. 'Aber ich denke, es ist ehrlicher und historisch korrekter zu sagen, dass der Aufstand vom 7. Oktober ein Akt des bewaffneten Widerstands war. Es handelt sich nicht um einen terroristischen Angriff und auch nicht um einen antisemitischen Angriff', sagte sie. 'Es war ein Angriff gegen Israelis.'"

Die Meldungen sind alle recht neu, aber offenbar haben Butlers Äußerungen in Frankreich bereits für Ärger gesorgt. Die Ecole Normale Supériere, eine der berühmtesten "großen Schulen" des Landes, hat einen Vortrag von Butler abgesagt:

Judith Butler sollte in der ENS ausgerechnet über "Trauer" sprechen, heißt es in der Ankündigung ihres Vortrags auf der Seite der Hochschule: "Für Judith Butler ist es notwendig, mit dem Anthropozentrismus zu brechen und die Interdependenz aller Lebewesen zu betonen. Es geht ihr darum, ihre Analysen zur 'Beweinbarkeit' von Leben zu verdeutlichen und zu erweitern, um nicht nur Lebewesen und Lebensprozesse zu umfassen, die bereits verloren, sondern auch solche, die noch am Leben sind."

Butler ist zur Zeit eine Art "Intellectual in Residence" beim Centre Pompidou (mehr hier). In der Ecole Normale Supériere war sie zu einer Vortragsreihe eingeladen. Einen Vortrag hat sie bereits im Februar gehalten, die für gestern und nächste Woche geplanten Vorträge sind wie gesagt "verschoben". Butlers Video entstand am Sonntag bei einer Veranstaltung einer linken Migranten- (oder "Indigenen"-) Organisation, berichtet Paul Sugy im Figaro. Auf der Seite der Organisation ist das Butler-Video in ganzer Länge allerdings inzwischen verschwunden.

Auf Twitter hat Butler bereits prominente Fürsprecher gefunden. FAZ-Redakteur Patrick Bahners schreibt: "Sie bleibt konsequent in einem politischen Realismus, der ethischen Streit ermöglicht und nicht vorab für gegenstandslos erklärt. Sie ist eben eine Philosophin." Und weiter: Es gehe ihr "um einen realistischen politischen Begriff, der den Disput über die Legitimität der Mittel eröffnet und nicht als vorab entschieden ausgibt." Die Autorin Mithu Sanyal twittert: "Wo ist der Unterschied zwischen bewaffnetem Widerstand und Terrorismus? Ich dachte das sind Synonyme nur von unterschiedlichen Seiten... auch Nelson Mandela wurde vom Westen lange als Terrorist bezeichnet."

====================

Eine "fröhliche Hexenjagd auf Andersdenkende" wirft Thomas Thiel auf den Geisteswissenschaften-Seiten des FAZ Geraldine Rauch, Präsidentin der TU Berlin, vor, die den Vorwurf erhob, das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit stärke das Narrativ der Rechten. (Unser Resümee) Das Netzwerk formuliere deutliche Kritik an der AfD, auch eine pauschale Verurteilung von Migration sei nicht zu finden, so Thiel. "Rauch wirft dem Netzwerk außerdem Kritik an der Dekolonisierungsbewegung vor. Nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober hatte das Netzwerk ein Schreiben verschickt, in dem es vor der Hegemonie postkolonialer Konzepte an den Universitäten warnt. Gemeint sind Konzepte wie der 'weiße Jude', das zur Verbreitung von Antisemitismus benutzt wird, oder Bestrebungen, das Rederecht nach Hautfarbe und Sprecherposition zu bemessen. Das Netzwerk erkennt darin zu Recht eine wissenschaftsfeindliche Tendenz und regt eine kritische Debatte an. Es wendet sich gegen politischen Bekenntnisdruck und identitäre Tendenzen und ausdrücklich nicht gegen postkoloniale Wissenschaft per se, sondern gegen Exzesse innerhalb des Postkolonialismus. Es muss sich aber den Vorwurf gefallen lassen, hier selbst Druck auf die Wissenschaftsfreiheit ausgeübt zu haben. Mit Rechtsextremismus hat das alles nichts zu tun."

taz-Kolumnistin Charlotte Wiedemann durfte bei einem internationalen Kolloquium über politische Macht, kollektives Gedächtnis und nachkoloniales Erinnern in Togo über ihr Buch "Den Schmerz der Anderen begreifen" sprechen. Aber Wiedemann schämte sich bald unter den Blicken der GermanistInnen aus Benin, Kamerun, der Elfenbeinküste und aus Brasilien, wie sie bekennt, vor allem nachdem der deutsche Botschafter kein Grußwort mehr halten wollte, offenbar, weil es in einem der Vorträge um den BDS ging: "Lieber eine Riege westafrikanischer Professoren brüskieren als bei irgendeinem Fuzzi in Deutschland einen Antisemitismus-Alarm auslösen - ungewollt ein luzider Beitrag zum Gegenstand der Tagung, zumal in einer ehemaligen deutschen Kolonie", schreibt sie und wirft den deutschen Feuilletons "feindselige Pauschalisierung" vor.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.03.2024 - Ideen

Brauchen wir wirklich ein Demokratiefördergesetz? Oder anders gesagt: Ist es der Demokratie wirklich förderlich, wenn sich der Staat mit 200 Millionen Euro jährlich seine eigene Zivilgesellschaft schafft? In der FAZ hat Claudius Seidl starke Zweifel: "So soll zum Beispiel Islamfeindschaft bekämpft werden - wer bestimmt aber, wo die Grenze zwischen Kritik und Feindschaft verläuft? Vielfalt soll gefördert werden - ist aber eine konservative Position, die als Folge der Vielfaltsförderung den Minderheiten-Proporz und die identitätspolitische Zersplitterung fürchtet, schon illegitim und antidemokratisch? Demokratische Kompetenz zeigt sich vielleicht eher darin, dass man dem Einspruch zuhört, den Gegensatz aushält und zu ertragen lernt, dass die Meinungsfreiheit auch für hässliche, unsympathische, böse Meinungen gilt."

Wie schwer das vielen fällt, zeigt sich auch am Umgang mit dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, dem unter anderem die Präsidentin der TU Berlin, Geraldine Rauch, "tief besorgt" vorwirft, es stärke "das Narrativ der Neuen Rechten, Rechtsextremist*innen und anderer verfassungsfeindlicher Organisationen", berichtet Hinnerk Feldwisch-Drentrup in der FAZ. Bei einigen Mitgliedern des Netzwerks kann man schon die Augenbrauen hochziehen, aber "was ist überhaupt vom Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit erfasste Wissenschaft? Jene, die von starken ideologischen Vorannahmen geprägt ist, halte sie nicht für gute Wissenschaft, da sie nicht ergebnisoffen sei, sagt [die Netzwerk-Vorsitzende Sandra] Kostner. Aber sie sei 'natürlich genauso geschützt' wie eine nach wissenschaftlichen Standards besonders hochwertige Wissenschaft." Dem würde der Verfassungsrechtler Klaus Ferdinand Gärditz widersprechen, so Feldwisch-Drentrup, weil geschützte Wissenschaft immer von einem echten Erkenntnisinteresse getrieben sein müsse. Wer mit Wissenschaft nur seine Meinung bestätigt sehen wolle, sei zwar vom Recht auf Meinungsfreiheit geschützt, könne sich aber nicht auf Wissenschaftsfreiheit berufen: "Meinungen von Menschen mit Professorentitel sind aber nicht schützenswerter als sonstige Meinungen auch", zitiert ihn die FAZ.

In der NZZ stellen die Wissenschaftshistoriker Nils Güttler, Martin Herrnstadt, Niki Rhyner und Monika Wulz mit Blick auf Gender-Studies, Migration, Kolonialismus und Krieg fest, dass die Vermischung von Wissenschaft und Aktivismus eine ältere Tradition hat. Und warum auch nicht, denken sie mit Verweis auf die "Frauenbewegung, die Schwulen- und Lesbenbewegung, die Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung oder die Dritte-Welt- und die Friedensbewegung der 1970er und 1980er Jahre. So unterschiedlich diese Bewegungen auch waren, immer ging es den Aktivistinnen und Aktivisten auch darum, hegemoniale politische Machtverhältnisse durch die Produktion von Wissen sichtbar zu machen und sie zu verändern. Der zeitgenössische Begriff dafür lautete 'Gegenwissen', eine engagierte Form der Wissensproduktion, die sich gegen die bestehende Ordnung mitsamt den etablierten Wissenschaften richtete. Es sollten andere moralische Ökonomien gelebt und geteilt werden, als man sie im Wissenschaftsbetrieb vorfand."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.03.2024 - Ideen

Bestellen Sie bei eichendorff21!
Christian Geyer liest für die FAZ einige der AfD nahestehende Medien und stößt auf interessante Ergebnisse. So feiert Benedikt Kaiser in der identitären Zeitschrift Die Kehre etwa Steffen Maus "Triggerpunkte", den soziologischen Bestseller der Saison: "Dass der 'rechte Rand' weiterhin großes Wachstumspotenzial zumal auch unter Nichtwählern habe, diese von Mau und seinen zwei Mitarbeitern differenziert dargelegte Beobachtung gelte es 'noch stärker als bisher in den eigenen Analysen zu berücksichtigen', schreibt Kaiser, der seit 2023 vom AfD-Bundestagsabgeordneten Jürgen Pohl als wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt wird. Der Soziologe, auf den der Kanzler hört, findet augenscheinlich auch bei den Identitären Gehör."

Rechte Influencerinnen wie Brittany Sellner, Ehefrau des österreichischen Identitären Martin Sellner, veröffentlichen auf YouTube Videos, in denen sie erklären, "der moderne Feminismus sei schuld an der degenerierten westlichen Kultur", erzählt Birgit Schmid in der NZZ. "Dabei müssen sie sich des Widerspruchs bewusst sein: Sie könnten kaum öffentlich so aktiv sein, wenn sie noch in den 1950er Jahren leben würden. Sie bejahen das reaktionäre Frauenbild der 'tradwife', der traditionellen Ehefrau, die sich ihrem Mann unterordnet und in der Mutterrolle die Bestimmung der Frau sieht. Obwohl viele von ihnen studiert haben, halten sie nichts von Frauen, die Karriere machen. Diese antifeministische Haltung ist nicht ohne Ironie: Brittany Sellner hat schon mehrere Bücher geschrieben. An Ehrgeiz mangelt es ihr nicht."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.03.2024 - Ideen

Buch in der Debatte

Bestellen Sie bei eichendorff21!
Den BDS hält der israelische Historiker Moshe Zimmermann, der gerade das Buch "Niemals Frieden? Israel am Scheideweg" veröffentlicht hat, nicht für "per se antisemitisch", die deutsche Staatsräson für eine "hohle Phrase". Aber auch an der postkolonialen Sicht des Nahostkonflikts übt er im taz-Gespräch Kritik: "Der Zionismus entstand nicht als Kolonialbewegung. Er war national motiviert. Ihm Zugrunde liegt der Wunsch von Juden, sich als Nation zu definieren. Dieser Wunsch ist legitim. Die Auswanderer nach Palästina waren - wie ich im Buch betone - keine Gesandten eines europäischen Imperiums, sondern sie waren Verfolgte und Vertriebene, die gezwungen waren, Europa zu verlassen. Das ist eine Situation, die man nicht eine typisch kolonialistische nennen kann, und deswegen ist diese pauschale postkoloniale Betrachtung des Zionismus im Nahen Osten oder Israel mindestens undifferenziert und im Endeffekt auch unfair. Der Kampf der zionistischen Bewegung gegen die englische Mandatsmacht war sogar ein Kampf gegen Kolonialismus. Die postkoloniale Leseart der Siedlungsbewegung im Westjordanland seit 1967 halte ich, im Gegensatz, für berechtigt."

Ebenfalls in der taz blickt der Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner auf antisemitische Aspekte in der postkolonialen Theorie, die er etwa im Buch "Epistemischer Ungehorsam" des argentinischen Literaturwissenschaftlers und dekolonialistischen Theoretikers Walter D. Mignolo ausmacht: "Zu den Denkern, die die 'Dekolonialität klar formuliert' hätten, zählt Mignolo in einer Nebenbemerkung auch den iranischen Revolutionsführer Ajatollah Chomeini. Chomeini ist bekanntlich für die Inhaftierung Zehntausender und die Exekution von Tausenden Gegner:innen der Islamischen Revolution verantwortlich. Mehrfach hatte er Israel als 'Krebsgeschwür' bezeichnet und zu dessen Vernichtung aufgerufen. Ein weiterer dieser 'islamischen Denker', auf die Mignolo sich en passant beruft, ist Sayyid Qutb (1906-1966). Der islamistische Theoretiker hatte die ägyptische Muslimbrüderschaft stark beeinflusst und in seinem Pamphlet 'Unser Kampf mit den Juden' (1950) wüste Verschwörungstheorien verbreitet. Diese gipfeln in der Behauptung, 'Allah hat Hitler gebracht, um sie [die Juden] zu beherrschen'. Chomeini und Qutb spielen im Werk Mignolos, das muss zu seiner Verteidigung betont werden, ansonsten keine Rolle. Umso mehr muss es daher verwundern, dass er deren Schriften neben anderen dekolonialen Perspektiven als entscheidend 'für die Entwürfe einer globalen Zukunft' einstuft."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.02.2024 - Ideen

Buch in der Debatte

Bestellen Sie bei eichendorff21!
Die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter hat mit ihrem "Der lange Schatten Maria Montessoris" eine neue Diskussion über die Schulreformerin Maria Montessori angestoßen (unser Resümee). Der Bildungsforscher Heiner Ullrich hält im Gespräch Jeannette Otto an den Verdiensten Montessoris fest, rät aber die Befunde Seichters ernst zu nehmen: Montessori "wollte das 'neue Kind' erschaffen, das die Menschheit voranbringt und vollkommener macht. Sie sprach auch von einem 'Erlöserkind' oder vom 'Normalisieren' des Kindes. Als Empirikerin war sie stark am Vermessen des Kindes interessiert. Sie hat Größe, Gestalt, Gesichts- und Schädelform gemessen. Das statistisch normale Kind galt als Orientierung. Sie hat daran geglaubt, dass jedes Kind einen immanenten Bauplan in sich trägt und eine Höherentwicklung und Steigerung des geistigen Potenzials möglich ist."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.02.2024 - Ideen

Der Jurist und Journalist Noah Feldman macht sich in einem sehr langen Time-Essay Gedanken über den neuen Antisemitismus. Während der Antisemitismus von rechts bestehen bleibt, scheint ihm die heute "schädlichste und kreativste Strömung im zeitgenössischen antisemitischen Denken eher von links" zu kommen. Feldman erklärt, wie sich der neue Antisemitismus zugleich aus der antiimperialistischen Tradition und atavistischen Motiven speist. Als Verschwörungstheorie präsentiere er sich nicht mehr: Aber "um das Narrativ der Juden als Unterdrücker zu betonen, muss der neue Antisemitismus nicht nur zwei Jahrtausende jüdischer Unterdrückung, sondern auch den Holocaust, den größten organisierten, institutionalisierten Mord an einer ethnischen Gruppe in der Geschichte der Menschheit, irgendwie ausblenden. Auf der rechten Seite leugnen Antisemiten entweder, dass der Holocaust jemals stattgefunden hat, oder sie behaupten, dass sein Ausmaß überbewertet wurde. Auf der Linken wird behauptet, dass die Juden den Holocaust als Waffe benutzen, um die Unterdrückung der Palästinenser zu legitimieren." Der Vorwurf des Völkermords gegen Israel sei nicht an sich antisemitisch, so Feldman, dennoch sei er "besonders anfällig für Antisemitismus, weil der Holocaust das Paradebeispiel für das Verbrechen des Völkermords ist. ... Nennen wir es den Völkermord-Trick: Wenn die Juden als Völkermörder dargestellt werden - wenn Israel zum Archetyp eines völkermordenden Staates wird -, dann ist es viel unwahrscheinlicher, dass die Juden als ein historisch unterdrücktes Volk wahrgenommen werden, das sich selbst verteidigt."

Weitere Artikel: Auf geschichtedergegenwart blickt die Slawistin Sylvia Sasse auf die Verknüpfung zwischen Impfgegnerinnen und Putinunterstützern. Es ist nicht nur russische Propaganda, die da greift, etwa die Behauptung, die USA würden geheime Biowaffenlabore in der Ukraine betreiben, schreibt sie. Hier wirken vor allem "opportunistische Synergien", wie sie die polnischen Kulturwissenschaftlerinnen und Soziologinnen Agnieszka Graff und Elzbieta Korolczuk beschreiben, erklärt sie.