9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Europa

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.03.2024 - Europa

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Viktor Jerofejew, aktueller Roman "Der große Gopnik", stellt in der Welt eine düstere Diagnose. Nawalnys Tod wird Putin stärken, glaubt er: "Putin ist klug genug, um für lange Zeit an der Macht zu bleiben. Bei den bevorstehenden Wahlen im März wird die Opposition wieder einmal die Unrechtmäßigkeit des Präsidenten erklären - aber ihn lässt das kalt. Sollte der russisch-ukrainische Krieg mit einer Kompromissvereinbarung enden, ähnlich dem Ende des Koreakrieges nach Stalins Tod 1953, wird der Westen recht schnell die Beziehungen zu Putin regeln, sich dabei die Nase zuhalten vom üblen Gestank oder auch nicht, denn die Atommacht Russland ist ein riesiges Land und eine permanente Bedrohung, aber zugleich auch eine große Kultur in der Vergangenheit. Die kulturellen Beziehungen zum Westen und dann auch die gesellschaftlichen werden noch vor dem endgültigen Abgang Putins von der politischen Bühne aufblühen. Der Westen hat sich als ebenso unfähig wie Nawalny erwiesen, mit Putin fertigzuwerden. Aber falls Putin aus irgendeinem Grund einen Moment der Schwäche zeigt, wird die zivilisierte Welt ihn mit dem größten Vergnügen verschlingen."

Irgendwann wird Russland frei sein, hofft hingegen der inhaftierte Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Murza, mit dem die Novaya Gazeta Baltic über die Ermordung von Nawalny und Nemzow sprechen konnte: "Man kann die Zukunft nicht aufhalten, egal wie sehr man es versucht. Nicht mit Kugeln, Gift oder Gefängnis. Auch wenn keiner von uns überlebt, werden andere unseren Platz einnehmen. Einige dieser jungen Leute, die im Januar Schlange standen, um Boris Nadeschdin zu unterstützen, sind die Zukunft."

"Je strenger die Sanktionen, desto weniger Tod und Zerstörung in der Ukraine", schreibt auf den Wirtschaftsseiten der FAS der russische Wirtschaftswissenschaftler Sergei Guriev, der vorrechnet, dass die Sanktionen gegen Russland sehr wohl Wirkungen zeigen. Während Putin "das Geld ausgeht, die Ausgaben für Bildung, Gesundheitswesen und Infrastrukturinvestitionen weiter kürzen. Dies wird jedoch die Unzufriedenheit in der Bevölkerung erhöhen, sodass mehr Geld für die Bereitschaftspolizei ausgegeben werden muss. In jedem Fall wird die Beschränkung der Geldmenge in Putins Taschen seine Fähigkeit zur Zerstörung der Ukraine verringern. Putins Krieg in der Ukraine ist ein heißer Krieg, der auf dem Schlachtfeld gewonnen werden muss. Die Ukraine braucht Waffen und Geld. Aber es ist auch ein Wirtschaftskrieg, in dem Sanktionen den Krieg für Putin noch teurer machen können und sollten."

Weshalb Olaf Scholz der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern eine Absage erteilt hat, kann Wladimir Klitschko im Welt-Gespräch beim besten Willen nicht verstehen: "Die Zögerlichkeit und Unentschlossenheit immer wieder aufs Neue ertragen zu müssen, ist wirklich frustrierend. Es ist auch schlecht für unsere Demokratie, für unsere Werte, für unser Leben. Zum jetzigen Zeitpunkt kann der Westen Putin noch relativ billig in der Ukraine Paroli bieten. Nämlich ohne dass beispielsweise deutsche Soldaten dabei ums Leben kommen. Aber wenn wir uns in der freien Welt nicht stärker mobilisieren, wird es bald zu spät sein. Dann werden die Kosten später sehr viel höher sein. Ich spreche jetzt nicht nur von finanziellen Kosten, sondern von Menschenleben. Heute ist es noch billig: Wir Ukrainer erledigen den Job, geben Sie uns die dafür nötigen Waffen, wir erledigen den Job."

Ebenfalls in der Welt zerlegt Klaus Wittmann die Bedenken gegen eine Tauruslieferung, etwa die Behauptung "Taurus-Marschflugkörper könnten bis nach Moskau fliegen. Irrelevant, denn die Ukraine hat bisher noch jede mit der Lieferung besonderer Waffensysteme verbundene Auflage eingehalten, besonders die Verpflichtung, sie nicht gegen russisches Gebiet einzusetzen. Dass man deutscherseits offenbar Kiews Zusicherung nicht glaubt, ist schmählich."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.03.2024 - Europa

Ach, warum lässt der Staat diese harmlosen Terrorrentner von der RAF nicht endlich in Ruhe, fragte ein gemütlich gestimmter Jürgen Gottschlich gestern in der taz (unser Resümee). Heute muss Konrad Litschko die Nachricht nachreichen, dass bei Daniela Klette ein ganzes Waffenarsenal sichergestellt wurde: "Teile einer Panzerfaustgranate, eine Kalaschnikow, eine Maschinenpistole, eine Kurzwaffe und Munition".

"Die dritte Generation ist eigentlich unpolitisch", meint RAF-Experte Stefan Aust, der im Tagesspiegel-Gespräch allerdings zugleich an deren Morde erinnert und einräumt, dass wir eigentlich kaum etwas wissen: "Wenn jemand lange im Untergrund ist, dabei mit ausländischen Nachrichtendiensten in Kontakt steht, etwa mit den Palästinensern, wenn es auch die Möglichkeit gibt, bei denen für den Kampf zu trainieren, dann weiß diese Person irgendwann, wie es geht. Wie man keine Fingerabdrücke hinterlässt und vieles anderes. Das waren Vollprofis."

Das Recht auf Abtreibung wird nach Abstimmungen im französischen Parlament und Im Senat wahrscheinlich in die französische Verfassung geschrieben, berichtet Rudolf Balmer in der taz: "Frankreich wird damit das erste Land der Welt, in dem die Verfassung Frauen das Recht auf die Abtreibung garantiert. 'Das Gesetz bestimmt die Bedingungen, unter denen die den Frauen garantierte Freiheit auf freiwilligen Schwangerschaftsabbruch ausgeübt wird', soll es dort in Zukunft heißen."

Charlie Hebdo zeigt die Reaktionen bestürzter Kleriker: "Man hat uns ihren Bauch weggenommen."


Wieder einmal gab es in der Türkei ein Grubenunglück, wieder einmal kamen Arbeiter ums Leben. Bülent Mumay schildert in seiner FAZ-Kolumne das Ausmaß der Korruption, bis es zu diesem Unfall kam. Unter anderem hat er damit zu tun, dass das Erdogan-Regime nehestehenden Unternehmen eine ganze Flut an Bergbaulizenzen erteilt hat: "Sind wir dank dieser Lizenzflut nun an wertvolle Bodenschätze gekommen und schwimmen im Wohlstand? Leider nicht. Wir sind ärmer als zu jenen Zeiten, als Erdogan an die Regierung kam. Während sich gewisse Leute die Taschen füllen, bleiben uns die Umweltkatastrophen und Todesfälle."

"Der russische Staat agiert mit der Brutalität eines pathologischen Idioten", schreibt der russische, im Exil lebende Schriftsteller Sergei Lebedew, der in der NZZ schildert, wie die russische Gesellschaft in Folge des "totalitären Anspruchs" des Staates auf seine Bürger immer mehr in Gleichgültigkeit und Angst versinkt. Die brutalen Repressionen gegen die LGBTQ-Community sind bekannt, derweil wird ein partielles Abtreibungsverbot diskutiert. Und: "Die Gesellschaft bröckelt. Mittlerweile kehren ehemalige Häftlinge, die in Gefängnissen für den Kampf in der Ukraine rekrutiert wurden und ihren Dienst abgeleistet haben, in ihre russische Heimat zurück. Sie sind begnadigt worden, haben ihre Rechte zurückgewonnen - als Lohn für weitere Untaten, sprich für die Tötung von Ukrainern. Dmitri Peskow, Putins Pressesprecher, gebrauchte dafür nicht zufällig den Begriff 'Blutbuße'. Unter den Rückkehrern gibt es kaltblütige Sadisten, Serienmörder und Triebtäter. Sie kehren dahin zurück, wo sie vor kurzem noch verhaftet und verurteilt wurden. Dank ihrer Beteiligung am verbrecherischen Krieg sind sie 'rein'. Nun leben sie wieder in Nachbarschaft der Angehörigen ihrer Opfer. In Nachbarschaft aller."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.02.2024 - Europa

Emmanuel Macron schließt westliche Bodentruppen in der Ukraine nicht aus, Olaf Scholz versichert das Gegenteil - auch noch mal per Video - und behauptet, Europa werde nicht Kriegspartei werden, obwohl das natürlich nie der Angegriffene definiert. Europa steht vor der "schwersten Bedrohung für Frieden, Freiheit und Wohlstand seit Generationen", kommentiert Jörg Lau in der Zeit: "Ein russischer Durchbruch in der Ukraine liegt im Bereich des Möglichen. Und es ist denkbar, dass die USA dabei gelähmt zuschauen oder gar, wie von Trump angekündigt, mit Putin gemeinsame Sache machen werden. Dies sollte - jetzt aber wirklich - die viel beschworene Stunde der Europäer sein. Doch die zwei größten Länder der EU, Deutschland und Frankreich, sind in einer Vertrauenskrise gefangen, die sich kaum noch verbergen lässt."

Inwischen kommt die äußerst beunruhigende Meldung, dass die nicht anerkannte Republik Transnistrien Russland um Schutz gebeten habe, berichtet etwa Barbara Oertel in der taz. "Das oppositionelle russische Nachrichtenportal insider.ru zitiert einen Militärkorrespondenten namens Juri Kotenok, dem zufolge der Präsident Transnistriens Wadim Krasnoselski den politisch Verantwortlichen Moldaus 'eine Politik des Völkermordes' gegen die abtrünnige Region vorgeworfen habe. Die Mehrheit der rund 470.000 Bewohner*innen Transnistriens sind ethnische Russ*innen und Ukrainer*innen, 200.000 sollen mittlerweile auch russische Pässe besitzen."

"Bitte stört diese lukrative historische Versöhnung nicht": So definiert Timothy Snyder im Gespräch mit Jörg Lau und Heinrich Wefing von der Zeit die langjährige deutsche Haltung zur Ukraine mit Blick auf Russland. Dabei habe "die deutsche Politik der vergangenen Jahrzehnte ihren Anteil daran, dass Russland in der Ukraine so agiert, wie es agiert. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung Deutschlands. Die beste Möglichkeit, Einfluss auf ein künftiges Russland zu nehmen, bietet sich heute in der Ukraine. Wer ein friedlicheres Russland will, muss helfen, Putin eine Niederlage zu bereiten. Wir können den Russen eine Chance geben, indem wir ihnen helfen zu verlieren." In der NZZ mahnt Timothy Snyder außerdem, nicht Menschen wie Putin oder Trump, die aus Schwäche handelten, nachzugeben.

Die Türkei droht ihre Jugend gen Europa und Amerika zu verlieren, wird aus einer Reportage von Raphael Geiger in der SZ deutlich. Nicht nur wegen der wirtschaftlichen Lage des Landes, wie Geiger von einer Studentin erfährt. "Weil sie an einen säkularen Staat glaube, sagt Bilge. Weil sie sich empört hat, neulich, als sie in den Nachrichten von einem Vorfall hörte: Ein Mann lief mit der Flagge des Kalifats durch Istanbul, also des islamischen Gottesstaats, der in der Türkei seit einem Jahrhundert abgeschafft ist. Ein Passant habe den Mann darauf angesprochen, sagt Bilge. Es kam zu einem Handgemenge. Verhaftet worden sei, sagt Bilge, na, wer wohl? Der andere. Der Säkulare, der sich an der Flagge gestört hatte. Nicht der Fromme." Derweil steigt die Zahl der Femizide in der Türkei drastisch an - jüngst gab es an einem einzigen Tag acht Morde an Frauen durch Ehemänner oder Väter, was die Regierung nicht sonderlich interessiert, schreibt Jürgen Gottschlich in der taz.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.02.2024 - Europa

Der Menschenrechtler Oleg Orlow, 70-jähriges Mitglied von Memorial, muss für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis, berichtet Inna Hartwich in der taz aus Moskau. Orlow hatte öffentlich den Krieg gegen die Ukraine verurteilt, vorgeworfen wurde ihm "Diskreditierung der Armee": "Mit welchen Sätzen Orlow die Armee diskreditiert haben soll und worin sein Hass liege, wurde während der zweitägigen Verhandlung nicht deutlich. Sein Text wurde nicht durchgegangen, es reichte die Überschrift. Während der Sitzungen las Orlow demonstrativ 'Der Prozess' von Franz Kafka und sagte in seinem Schlusswort: 'Wie soll man das politische System, unter dem das alles geschieht, auch nennen? Leider hatte ich in meinem Text recht. Es gibt keine Freiheit in Wissenschaft, Kunst, Privatleben. Willkür wird als Einhaltung pseudolegaler Verfahren getarnt. Selbst gegen den toten Nawalny führen die Behörden Krieg. Kafkas Held erfuhr nie, was ihm vorgeworfen wurde. Mir hat man den Vorwurf formal mitgeteilt, ihn zu verstehen ist unmöglich.'"

"Die Annahme, wenn wir den Ukrainern den Taurus geben, fallen uns Nuklearwaffen auf den Kopf, ist doch ziemlich weit hergeholt", glaubt im Spon-Gespräch Christian Mölling, stellvertretender Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung. Bedenken, dass Deutschland Kriegspartei werden könnte, hat er nicht: "Es liegen längst Lösungen für alle diese Bedenken auf dem Tisch. Die Aussagen des Kanzlers deuten meiner Einschätzung nach auf etwas anderes: Es fehlt offensichtlich an grundlegendem Vertrauen in die Ukrainer und zwar so sehr, dass nicht einmal pragmatische Lösungen für ihn denkbar sind. Wenn der Kanzler Angst hat, dass die Ukrainer auf Moskau schießen, könnte er ja sagen: Erst einmal bekommt ihr einen Taurus und dann sehen wir, was ihr damit macht. Es ist unvorstellbar, dass die Ukraine die Hilfe des größten Gebers riskiert."

Bei einer Konferenz in Paris wurde über Hilfsmaßnahmen für die Ukraine debattiert, der französische Präsident preschte nach vorn und erwähnte die Möglichkeit der Entsendung von Bodentruppen aus den EU-Staaten. Ulrich Ladurner findet das auf Zeit Online fahrlässig, ebenso kontraproduktiv sei aber das Zögern des deutschen Kanzlers, wenn es um Waffenlieferungen geht: "Macron-Bashing, das hat jetzt durchaus seine Berechtigung. Denn es gab keine Notwendigkeit, weiter an der Eskalationsspirale zu drehen. Aber das ist nur der eine Teil. Denn diesem säbelzückenden, nach vorn stürmenden prächtigen Franzosen steht der deutsche Buchhalterkanzler gegenüber, der sich beharrlich weigert, Taurus-Raketen an die Ukraine zu liefern. Hier der Glanz des Franzosen, dort das Grau des Deutschen. Weder das eine noch das andere hilft der Ukraine. Welch beklagenswerte europäische Kakofonie das doch ist, in einem Augenblick, in dem Europa dem russischen Imperialismus geschlossen und entschlossen entgegentreten müsste."

Ebenfalls in der taz wütet Georg Seeßlen: Unis, Öffentlich-Rechtliche Sender, Zeitungen - überhaupt die demokratische Zivilgesellschaft - sie alle sind zu lahm, um dem rechten Kulturkampf etwas entgegenzusetzen, meint er. Visionen? Fehlanzeige. "Die Debatte um ein Verbot der AfD erscheint derzeit als Spiegelfechterei. Es geht vielmehr um konkrete Schritte, um im politischen und kulturellen Alltag klarzumachen, dass die AfD keine Partei wie die anderen ist. Niemand ist gezwungen, AfD-Mitglieder zu Talkshows oder Filmfestivals einzuladen. Demokratie ist nicht nur ein Regel- und Formelwerk, sondern auch ein lebendiges System mit geistigem Inhalt. Jede demokratische Institution, jede kulturelle Einrichtung soll das Recht haben, antidemokratischen Personen und Organisationen den Zutritt zu verweigern. Gerade darin muss sich die Unabhängigkeit und Integrität dieser Einrichtungen beweisen." Auch die internationale Politik agiere rückgratlos: "Ein Europa, das sich mit immer mehr antidemokratischen und rechten Regierungen arrangieren will, ist der Verteidigung kaum noch wert. Die europäische Idee muss als Demokratieprojekt neu gedacht werden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.02.2024 - Europa

In Paris fand ein Gipfel zur Ukraine-Unterstützung statt, wo eine Äußerung Emmanuel Macrons Aufsehen erregte: Es gebe keinen Konsens darüber, westliche Truppen in die Ukraine zu schicken, aber "nichts ist ausgeschlosssen". Macron sagte auch: "Wir wollen keinen Krieg mit dem russischen Volk, wir sind entschlossen, die Kontrolle über die Eskalation zu behalten. Pierre Haski analysiert Macrons Äußerungen in seiner Kolumne in France Inter: "Sie werden bemerkt haben, das es eine Nuance gibt zwischen 'einem Krieg mit dem russischen Volk' und mit seinem Regime, dem von Putin, der nicht namentlich genannt wird. Wir sind weit entfernt vom ersten Jahr des Konflikts, als der französische Präsident Wladimir Putin schonte und 'Russland nicht demütigen' wollte. Die Zeiten haben sich wirklich geändert."

Das Versagen der deutschen Russlandpolitik ist bis heute nicht aufgearbeitet worden, hält Daniel Brössler in der SZ fest. Und Zweifel, ob Scholz die Zeitenwende wirklich ernst nimmt, hat Brössler auch: "Wenn Olaf Scholz trotz aller großen Unterstützung der Ukraine effektive Waffensysteme wie den Marschflugkörper Taurus mit Verweis auf die Reichweite und angeblich vom Grundgesetz diktierte Beschränkungen verweigert, mischt sich im Osten Europas in die Kritik daran der Verdacht, die Deutschen träumten noch von einer Neuauflage der Minsker Abkommen. Dabei kann es seit der Zeitenwende keinen Zweifel mehr geben an den Absichten Putins."

In Belarus ist "gewählt" worden, Gegenkandidaten zu Lukaschenko gab es nicht, die Opposition sitzt im Gefängnis, berichtet Friedrich Schmidt in der FAZ. "In der vergangenen Woche ist Ihar Lednik in der Gewalt des Regimes gestorben. Er war damit schon mindestens der fünfte Häftling seit 2022, den die ihrerseits verfolgten Menschenrechtsaktivisten von 'Wjasna' als politischen Gefangenen eingestuft haben, dem dies geschah. Der 64 Jahre alte Lednik war trotz eines bekannten Herzleidens im April 2022 inhaftiert worden. Er hatte in einem Artikel die frühere Neutralität von Belarus als Sicherheitsgarantie bezeichnet und gefordert, den Unionsstaat mit Russland aufzulösen. Dafür wurde er wegen 'Beleidigung Lukaschenkos' zu drei Jahren Haft verurteilt. ... Befürchtet wird, dass diese fünf Todesfälle, von denen vier im vergangenen Dreivierteljahr verzeichnet wurden, nur 'die Spitze eines Eisbergs der Gewalt' sind, so die KAS [Konrad-Adenauer-Stiftung]. Zu den 1412 politischen Gefangenen, die 'Wjasna' derzeit zählt, dürften noch Tausende weitere dazukommen."

Die umstrittene Begnadigung eines Pädophilie-Mittäters könnte Viktor Orban gefährlich werden, meint im Interview mit der taz die Politologin Andrea Pető. Aber sicher ist das nicht, auch wenn letztes Wochenende 100.000 Menschen auf die Straße gingen: "Dass der Amnestie-Fall solche Wellen schlägt, zeigt, wie wichtig die verbliebenen unabhängigen Medien weiterhin sind. Für die bisher größte Demonstration, die Sie ansprechen, hatten jedoch Youtuber und Influencer mobilisiert. Die klassische Zivilgesellschaft hingegen ist leer und fragil, es gibt kaum unabhängige, kritische Organisationen. Und ihre Arbeit wird ihnen zunehmend schwergemacht, etwa von dem neuen Gesetz gegen 'ausländische Agenten' nach russischem Vorbild. Damit können jene überwacht werden, die die Regierung nicht unterstützen. Vor allem aber geht es um Einschüchterung."

Auch nach dem Krieg wird der Hass zwischen Russen und Ukrainern kein Ende finden, dafür wurzelt er zu tief, befürchtet Sergej Gerassimow in der NZZ mit Blick in die Geschichte: "Am 2. November 1708, um 6 Uhr morgens - schon damals griffen die Russen gerne frühmorgens an - starteten feindliche Truppen unter der Führung von Menschikow, einem Günstling von Zar Peter dem Großen, einen Angriff auf die ukrainische Stadt Baturin. Zwei Stunden später war die Stadt eingenommen, aber nicht dank dem Mut der Russen, sondern weil ein Verräter dem Feind einen unterirdischen Gang gezeigt hatte, der zur Festung führte. Darauf schlachteten die Russen alle (bis zu 15 000) Einwohner von Baturin ab. Vor ihrer Hinrichtung wurden die ukrainischen Kosaken auf die raffinierteste Weise gefoltert. Selbst Vlad Dracula wäre nie darauf gekommen: Ihre verstümmelten Körper wurden auf Flöße gelegt, die man den Fluss hinuntertreiben ließ, um alle Anwohner einzuschüchtern. Frauen, Kinder und alte Menschen wurden in Stücke gehackt, gerädert oder aufgespießt. Das Massaker von Baturin ist das erste ukrainische 'Guernica', es fand früher statt und war zehnmal so blutig wie das spanische. Und es war zwanzigmal so blutig wie Oradour-sur-Glane und vierzigmal so blutig wie Lidice."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.02.2024 - Europa

Eine nukleare Aufrüstung in Europa lehnt Florian Eblenkamp vom Bündnis gegen Atomwaffen, ICAN, im Interview mit der taz kategorisch ab. Auch die jüngsten Äußerungen von Donald Trump und Putins Angriffskrieg in der Ukraine können ihn nicht umstimmen: "Wir sollten nicht jede dumme Aussage von Trump überbewerten. Es ist nicht gesagt, dass er die Wahl gewinnt, und nicht, dass er als Präsident wirklich aus der Nato aussteigen würde. Es ist nicht gesagt, dass Putin das Baltikum überfällt und Europa die Füße stillhalten würde, falls doch. Gleichzeitig müssen wir uns fragen, wie weit wir dieses atomare Spiel denn mitspielen würden. Rüstet Europa nuklear auf, führt das ja nicht zu einer Entspannung, sondern zu einer Eskalation. Putin würde entsprechend nachlegen, und schon sind wir in einem Überbietungswettbewerb mit Massenvernichtungswaffen."

Buch in der Debatte

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Die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen legt ein Buch über "Putins Krieg gegen die Frauen" vor. "Sexuelle Gewalt ist das am meisten vernachlässigte Kriegsverbrechen", sagt sie im Gespräch mit Nadine A. Brügger  von der NZZ. Zur Perfidie gehört dabei vor allem die psychische Wirkung der Verbrechen: "Eine Kriegsverletzung kann jemanden zum Helden machen. Aber die Stigmatisierung von Vergewaltigungsopfern will niemand. Das spielt Russland in die Hände: Wenn sich die Opfer für das schämen, was ihnen widerfahren ist, fangen sie an, sich selbst infrage zu stellen. Das ist typisch für Opfer von sexuellem Missbrauch, unabhängig von ihrem Geschlecht. Und es führt dazu, dass der Fokus gar nicht erst auf den Tätern liegt."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.02.2024 - Europa

Vor zwei Jahren überfielen die Russen die Ukraine. Es ist nicht nur Putins Krieg. Die russische Gesellschaft ließ sich gleichschalten und trottet hinter ihm her wie ein alter Pudel. "Das Volk schweigt und macht alles mit", sagt Michail Schischkin im Tagesspiegel.

Mit Sorge beobachtet Richard Herzinger in einem Essay für die Zeitschrift Internationale Politik die Erosion der Unterstützung für die Ukraine: "Was gerne euphemistisch als wachsende westliche 'Kriegsmüdigkeit' bezeichnet wird, ist nichts anderes als ein Prozess schleichender Kapitulation, eine Art München 1938 in Zeitlupe." Auch klassische strategische Analysen des Kriegs überzeugen Herzinger nicht: "Sie gehen von einer Rationalität aus, die auf russischer Seite nicht existiert. Putins Russland geht es nicht um einen Sieg im herkömmlichen Sinne, sondern darum, unter seinen vermeintlichen Feinden maximale Zerstörung anzurichten. Es kann nicht anders als den Krieg immer mehr auszuweiten, weil die entgrenzte Gewalt ihr einziger 'Wert' und Daseinszweck ist." So auch der Zeithistoriker Jan Claas Behrends in der taz: "Ein Sieg Russland Sieg in der Ukraine hätte dramatische Folgen für Deutschland und Europa. Millionen von Ukrainern würden ihr Zuhause verlieren, und unsere Sicherheitslage würde sich ein weiteres Mal dramatisch verschlechtern."


Was mit einer besiegten Ukraine geschieht, weiß man ja, mahnt Anastasia Magasowa in der taz, denn die Russen haben den Krieg vor zehn Jahren begonnen und zwanzig Prozent des ukrainischen Territoriums stehen unter russischer Besatzung, und "Russland tut alles, um diese beiden Teile der Ukraine dauerhaft zu trennen - sowohl physisch als auch mental. In einigen dieser Siedlungen gibt es noch immer keine Handy- oder Internetverbindungen, da sie von den Besatzern absichtlich blockiert werden. Seit Jahren können Kinder ihre alten Eltern nicht kontaktieren und umgekehrt. Wenn eine Familie unter der Besatzung Glück hatte, wurden ihre Kinder nicht unter dem Deckmantel der Evakuierung dauerhaft auf russisches Gebiet gebracht, also verschleppt. Diejenigen, die es geschafft haben, zu Hause zu bleiben, werden in den örtlichen Schulen dazu erzogen, zu vergessen, dass sie Ukrainer sind. Sie sollen zu neuen Russen werden."

Timothy Snyder macht im Gespräch mit Jan Pfaff von der taz klar, was mangelnde Unterstützung für die Ukrainer im Kriegsalltag bedeutet: "Das Fehlen von genügend Flugabwehr und Artilleriemunition hat ganz konkrete Auswirkungen auf das Leben der Menschen, das ist keine militärische Abstraktion. Wenn die Ukrainer nicht genug Artillerie haben und die Russen einen Durchbruch erzielen, bedeutet das, dass mehr Ukrainer unter russischer Besatzung leben müssen. Das bedeutet mehr Morde, mehr Vergewaltigungen, mehr Entführungen von Kindern, mehr Folter. Für Ukrainer gibt es in diesem Krieg keinen Unterschied zwischen einer militärischen Lage und einer sozialen Erfahrung. Es läuft auf das Gleiche hinaus."

"In Kiew mag sich das Leben tagsüber normal anfühlen, aber nachts sieht es ganz anders aus", erzählt die ukranische Journalistin Nataliya Gumenyuk im Guardian. "Zu dieser Zeit finden die meisten Angriffe statt. Inzwischen haben die Menschen herausgefunden, wie man mit diesen Risiken umgeht: Es gibt einen staatlichen Alarm und mehrere Telegram-Kanäle, die den Grad der Gefahr je nach Art der Waffen angeben. Wir alle wissen, dass es riskanter ist, in den oberen Etagen zu wohnen, große Fenster zu haben oder in Vierteln zu leben, die in der Nähe von Umspannwerken liegen."

Wer von Kompromissen mit Russland träumt, dem rät Frank Nienhuysen in der SZ auf die jüngsten Äußerungen von Dmitrij Medwedjew zu hören: "'Odessa, komm zurück nach Hause', sagte Medwedjew in einer russischen Interviewrunde über die ukrainische Schwarzmeerstadt: 'Es ist unsere russische Stadt.' Auch Kiew steht immer noch oben auf seiner To-do-Liste, 'wenn nicht jetzt, dann irgendwann später'. Das sind schlechte Grundlagen für Verhandlungsfantasien." Ebenfalls in der SZ blickt Timothy Garton Ash zurück auf die Münchner Konferenz und stellt fest: Die westlichen Regierungschefs "schaffen es nicht, ihren jeweiligen Gesellschaften das Gefühl einer existenziellen Bedrohung zu vermitteln".

Wie sähe ein Frieden mit Russland aus? Gebiete, die von Russland besetzt sind, sind verloren, warnt Galia Ackerman in Deskrussie. Putin würde die Methoden des KGB-Vorgängers NKWD anwenden: "Gleichzeitig mit dem militärischen Kommando wird die politische Polizei installiert. Anhand von Listen, die mithilfe lokaler Kollaborateure und eingeschleuster Ermittler erstellt wurden, verhaftet sie reihenweise alle, die auf die eine oder andere Weise Widerstand leisten könnten: ehemalige Beamte, Mitglieder verschiedener politischer Parteien, Lehrer, Professoren, Schriftsteller und generell alle, die zu Recht oder Unrecht verdächtig erscheinen. Einige werden sofort erschossen, andere in den Gulag oder ins sibirische Exil geschickt, wieder andere durchlaufen Filterlager, aus denen nur wenige körperlich und seelisch verstümmelt wieder herauskommen."

Noch beschönigen wir in Deutschland unsere Lage, so Jörg Lau in Zeit online: Aber "wir haben einen Feind, der mit allen uns verfügbaren Mitteln gestoppt werden muss... Denn dieses russische Regime hat uns als Feind identifiziert. Und es schert sich nicht darum, dass wir derartige absoluten Kategorien ablehnen. Putin sieht im Westen seinen Todfeind, den er immer weiter dämonisiert - als dekadent, böse, unwert. Auch die Ukraine wurde für Putin zum absoluten Feind ('Nazis'), seit sie den Weg in den Westen eingeschlagen hatte."

Muss man ein Literat sein, um Putins Wahnsinn zu begreifen und vor Augen stellen zu können? Viktor Jerofejw, der in der taz erklärt, warum "Gopnik" ein Putin-Roman ist (mehr heute in efeu), porträtiert den Finsterling im Feuilleton-Aufmacher der FAZ: "Den Zaren kann man nicht von der Magie der Macht losreißen, er badet förmlich darin. Darum ist der große Krieg mit der Ukraine auch kein Zufall, er stand schon lange auf der Agenda, denn der Zar weist noch eine andere Besonderheit auf: Er ist schrecklich schnell beleidigt und verzeiht Beleidigungen niemals. Die Ukraine hat ihn sowohl mit ihrem Drang nach Europa beleidigt als auch mit ihrem 'hinterfotzigen' Ungehorsam. Ebenso widerwärtig ist ihm das 'russophobe' Polen, das, so meint er, Hitler in den Zweiten Weltkrieg getrieben oder, anders gesagt, diesen provoziert habe."

Hendrik Kafsack und Katharina Wagner stellen im Wirtschaftsteil der FAZ die ganz konkreten Fragen: Was nützen die Sanktionen? Ihr Befund ist zwiespältig. Durch die Investitionen in die Rüstung ist die russische Wirtschaft sogar noch gewachsen. Zugleich läuft das System auch auf Reserven aus dem Nationalen Wohlfahrtsfonds, die demnächst verbraucht sind. Ziel der Sanktionen müsse es sein, "dass Putin weniger Geld habe, das er in die Rüstung stecken könne. In diesem Sinne wirkten die Sanktionen natürlich, sagt der in Barcelona lehrende Ökonom Ruben Enikolopow: Ohne sie würde Russland noch deutlich mehr Geld verdienen. Nur könne der Effekt noch größer sein, wenn die Umsetzung strukturierter wäre. Brüssel und Washington müssten eine Infrastruktur aufbauen, Organe schaffen, die die Einhaltung der Sanktionen überwachen, sagt Enikolopow."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.02.2024 - Europa

Morgen vor zwei Jahren hat Putin seinen Krieg gegen die Ukraine entfesselt. Eine Zeitlang hoffte die Welt auf eine ukrainische Gegenoffensive, doch nun sieht es so aus, als sei das Land von seinen Verbündeten im Stich gelassen worden, resümiert Barbara Oertel in der taz: "Die Hoffnung auf die wie ein Mantra beschworene und versprochene Unterstützung der Verbündeten weicht zunehmender Verunsicherung. Ein Finanzpaket von knapp 56 Milliarden Euro blockieren die Republikaner im US-Repräsentantenhaus - Ausgang offen. Auch die EU hinkt ihren Zusagen hinterher. Von einer Million Artilleriegeschossen könnte bis Ende März nur die Hälfte geliefert sein." Und Anastasia Magasowa ergänzt: "Nach zwei Jahren brutaler Invasion in der Ukraine ist das autoritäre Russland so stark wie eh und je, während die liberalen Demokratien schwächer werden."

Wir zur Illustration stimmte der Bundestag gestern gegen einen CDU-Antrag, der eine Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern in die Ukraine forderte. Die finnische Sicherheitsexpertin Minna Alander erklärt im Gespräch mit Tanja Tricarico von der taz, warum das so wichtig gewesen wäre: "Es wäre dann möglich, die Brücke zur Krim zu zerstören und militärische Infrastruktur dort zu eliminieren. Die Krim ist für Russland ein wichtiger Punkt, um die Ukraine anzugreifen. Auch hier bleibt die Frage: Ist Deutschland bereit, die Ukraine so weitgehend zu unterstützen, dass Russland tatsächlich an weiteren Angriffen gehindert werden kann?"

Der in Deutschland lehrende belarussische Historiker Alexander Friedman registiert ebenfalls in der taz vermehrt antisemitische Töne bei Putin. Der Krieg in Gaza "wird von Moskau genutzt, um die vermeintlich humane und behutsame russische Kriegsführung dem israelischen 'totalen Krieg' gegenüberzustellen. Im Umlauf sind Völkermordvorwürfe und von Putin besonders beliebte Vergleiche zwischen der nationalsozialistischen Leningrader Blockade und der israelischen Gazapolitik."

"Wir brauchen die Unterstützung der Welt mehr denn je", fleht im Tagesspiegel Olga Rudenko, Chefredakteurin von The Kyiv Independent: "Das Haupthindernis auf dem Weg zum Sieg ist nicht Russlands militärische Stärke. Unser größter Feind ist vielmehr der Mythos von Russlands imperialer Macht und Unbesiegbarkeit. Ja, Russland ist ein großes Land mit großen Ressourcen. Aber es ist auch korrupt und ineffizient. Die Ressourcen und die militärische Stärke des Westens übertreffen die Russlands bei weitem. Alles hängt von der Effektivität des Westens und seinem Willen ab, Russland zu besiegen. Wenn er das hat, hat Russland keine Chance. Der Kreml weiß das - deshalb verbreitet er Propaganda, um Unruhe zu stiften und uns gegeneinander auszuspielen."

Heribert Prantl laviert in der SZ indes lange herum, bis er schließlich zum Punkt kommt: Verhandlungen mit Putin müssen irgendwann sein, meint er: "Die Erwägung, mit einem Staatsverbrecher zu verhandeln, wenn er denn die Bereitschaft dazu hätte, ist unmoralisch; sie wird verdammt von denen, die darin einen Verrat an Freiheit, an Werten und an Nawalny sehen. Aber Putin ist nicht Hitler. Und es ist auch unmoralisch, die Opfer eines jahrelangen Krieges einfach billigend in Kauf zu nehmen. Es geht um die Abwägung von Unmoralitäten."

Geradezu "obszön" findet Deniz Yücel in der Welt, dass sich der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla nach der Ermordung Nawalnys darüber echauffierte, dass "bereits feststeht, wer für diesen Tod verantwortlich gemacht wird". Aber irgendwie kann man Chrupalla auch dankbar sein, meint Yücel: "Dankbar dafür, dass der Malermeister aus Sachsen stulle genug ist auszuplappern, wofür Alexander Gauland und Alice Weidel und sogar Björn Höcke zu clever sind: dass es sich bei der AfD eben nicht um eine bürgerlich-konservative Partei handelt. Ihre Anmaßung, die Parole der DDR-Bürgerbewegung ('Wir sind das Volk') zu kapern und ihre Klagen über eine angebliche 'DDR 2.0' können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Partei nicht in der Tradition der friedlichen Revolution steht. Gerade im ostdeutschen Parteiflügel, zu dem Chrupalla gehört, träumt man vielmehr von einer Art DDR minus Marxismus: autoritär, übersichtlich, deutsch - nach dem Vorbild der postsozialistischen Diktatur Putins, der man sich genauso ausliefert wie einst die SED dem 'sozialistischen Bruderstaat' (und von dem man sich zumindest im ideologischen Sinne so füttern lässt wie die DDR von der Sowjetunion). Patriotisch ist das nicht."

Wir müssen das Bundesverfassungsgericht "sturmfest" machen, befürchtet der Jurist und Ex-FDP-Innenminister Gerhart Baum im großen SZ-Gespräch mit Blick auf Ungarn, Polen oder die Türkei: "Es hat sich in Deutschland in langen Jahren ein Rechtsextremismus entwickelt, der gefährliche Elemente des Rassismus enthält. Die Politik hat ihn lange sträflich unterschätzt, obwohl er sich in Netzwerken, nicht nur in der AfD, sondern auch in anderen Teilen der Gesellschaft, etabliert hat. Gott sei Dank rütteln die Bürger jetzt die Öffentlichkeit auf mit Bekenntnissen zu unserer Demokratie. (…) Unsere Demokratie, die Verfassungsfeinden so viele Spielräume eröffnet, muss wehrhaft sein."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.02.2024 - Europa

Für Putin ist Alexej Nawalnys Tod der "grausigste persönliche Triumph in seiner 24-jährigen Amtszeit", schreibt Michael Thumann in der Zeit, aber noch grausiger scheint Thumann, dass es die Leute hierzulande nicht zu kümmern scheint. Putin stehe nach einer Umfrage für die hiesige Bevölkerung nur an siebter Stelle der größten Bedrohungen, "weit hinter den Migrationsproblemen. Andere EU-Nationen wie Italien sehen das ganz ähnlich. Das dürfte eine Fehleinschätzung sein. Die Radikalisierung des Systems Putin ist keine innerrussische Angelegenheit. ... Insbesondere die baltischen Staaten sind im Visier der russischen Führung. Wladimir Putin kritisierte vor zwei Monaten erneut den Umgang Lettlands mit seiner russischsprachigen Bevölkerung: 'Wenn sie sich weiter so schweinisch gegenüber der Bevölkerung benehmen, dann werden sie bald die Vergeltungsmaßnahmen zu spüren bekommen.'"

Die französische Russland-Historikerin Françoise Thom will im Gespräch mit Stefan Brändle von der FR Anzeichen einer Putin-Dämmerung erkennen. Sie nimmt an, dass Putin durch eine Palastrevolution abserviert wird, sobald er seine Geländegewinne in der Ostukraine konsolidiert hat - wobei sie nicht viel Hoffnung auf seine Nachfolger setzt. Außerdem spricht Thom auch über die Russophilie in Deutschland und in Frankreich, die unterschiedlich geprägt ist: "In Deutschland gibt es seit dem Vertrag von Rapallo von 1922 eine russophile Lobby. Die Wirtschaft mit Kanzler Schröder an der Spitze blieb es weitere hundert Jahre lang. Zudem vermochte Putin die deutschen Schuldgefühle seit dem Zweiten Weltkriegen sehr gut auszunützen. In Frankreich waren dagegen eher die Intellektuellen russophil, und zwar aus purem Antiamerikanismus. Dieses Relikt aus der Ära des Parti Communiste Français (KPF) ist immer noch sehr stark. Es wird unterstützt durch Politiker wie Nicolas Sarkozy, und genährt durch die russische Propaganda, laut der Frankreich nicht frei sei, sondern abhängig von den USA, wie ihr Pudel."

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesjustizministerin a. D., hält in der taz ein Verbot der AfD für juristisch schwer zu realisieren, aber auch für politisch verfehlt, denn "das Denken in den Köpfen bliebe bestehen. Eine neue Parteigründung wäre nicht ausgeschlossen. ... Wie also kann man der AfD und ihren Vertretern auf politischer Ebene begegnen? Was kann man ihrem Polarisieren, Radikalisieren und Desinformieren entgegenstellen? Wie so oft ist fehlende oder fehlgeleitete Kommunikation das Kernproblem. Schon frühere Bundesregierungen äußerten sich zu hochsensiblen Themen zu spät oder überließen die Kommunikation allein den Regierungssprechern. Das ermöglichte es der AfD, diese Themen frühzeitig mit destruktiven Narrativen zu besetzen."

Bülent Mumay setzt in der FAZ seine Chronik des türkischen Niedergangs unter dem islamistischen Autokraten Erdogan fort. Die Türkei verliert Bevölkerung, erstens wegen einer sinkenden Geburtenrate (jetzt 1,5), die aus der Krise zu erklären ist, zweitens wegen des Exodus der Qualifizierten, übrigens nicht nur nach Deutschland: "Auch die Einreisen türkischer Staatsbürger in die USA über Mexiko erreichten im vergangenen Jahr ein Rekordniveau. Mehr als 50.000 türkische Bürger flogen zuerst nach Mexiko, um von dort aus die Grenze zu den USA illegal zu Fuß zu überqueren." Erdogan versucht unterdessen die kommenden Kommunalwahlen zu manipulieren, vor allem gegen den populären Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu: "All seinen Anstrengungen zum Trotz deutet keine Meinungsumfrage auf einen Sieg für Erdogans Partei in den Großstädten hin, auch nicht in Istanbul. Das Geschehen der letzten Tage aber lässt uns besorgt fragen: Wird das altbekannte Szenario neu aufgelegt? Diverse Terrorgruppen, die zuletzt nicht durch Aktivitäten aufgefallen waren, vergossen Blut in Istanbul. Zunächst stürmten IS-Militante den Gottesdienst in einer Kirche und töteten eine Person. Was für ein Zufall: 47 Tage vor dem Anschlag waren die Terroristen im Prozess wegen einer anderen Sache freigekommen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.02.2024 - Europa

Im Westen wurde von manchen gern auf nationalistische Positionen des jungen Alexej Nawalny verwiesen, schreibt der Historiker Martin Schulze-Wessel auf Zeit Online, das ist "sachlich richtig", ignoriert aber, was das bemerkenswerte an Nawalnys Position war, auch aus historischer Sicht: "Demokratisch gesinnte Russen opponierten im 19. und 20. Jahrhundert gegen die Autokratie, akzeptierten oder bejahten aber meist die imperiale Form der Herrschaft über nicht russische Territorien. Erstaunlich ist insofern nicht, dass sich Nawalny in einer Reihe mit Solschenizyn fühlte, sondern dass er seine Position radikal überdachte. Nach der russischen Invasion in die Ukraine forderte Nawalny am 2. März 2022 seine russischen Mitbürger zu täglichen Demonstrationen gegen den Krieg auf. Ende 2022 entwarf er in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung einen Ausweg aus dem 'imperialen Autoritarismus' Russlands. Der Krieg könne nur durch die Niederlage der russischen Invasionsarmee beendet werden. Anders als viele russische Regimegegner der Vergangenheit kämpfte Nawalny am Ende nicht nur gegen die polizeiliche Unterdrückung der Russen, sondern auch gegen die lange Tradition imperialer Machtausübung, die Russlands Nachbarn unterdrückt und Russland selbst vergiftet.

Auf geschichtedergegenwart zeichnet die Politikwissenschaftlerin Hanna Perekhoda sehr ausführlich die Entstehung des russischen Imperialismus nach, der sich nicht nur in den Köpfen der russischen Eliten, sondern auch bei "Durchschnittsbürgern" festgesetzt habe. Hoffnung für ein demokratisches Russland setzt Perekhoda in die "russischsprachigen Ukrainer, die teilweise in ebenjenem russischen imperialen Diskurs aufgewachsen sind, die aber zugleich Zugang zu alternativen, antiimperialen Narrativen gefunden haben. Der Krieg hat Millionen von Ukrainern die Erfahrung von Solidarität, Selbstorganisation und horizontaler Vernetzung gegeben, im Zuge dessen sich eine politische 'Nation' formiert, wenn wir eine solche als politische Solidargemeinschaft betrachten. Diese Ukrainer könnten den Russen demonstrieren, wie man ein politisches Gemeinwesen aufbauen und ohne Imperium leben kann. Sie könnten dafür die russische Sprache nutzen, die kein exklusives Eigentum der Russen und schon gar nicht Putins ist, um mit ihrer Hilfe eine emanzipatorische Kultur zu schaffen und Russland zugleich das Monopol auf die russische Sprache zu nehmen."

Julija Nawalnaja will das Erbe ihres Mannes fortführen, aber schafft sie es auch, fragt Alexander Kauschanski auf Spon: "Es sei schwer einzuschätzen, wie Nawalnaja sich als Oppositionspolitikerin machen wird. Das schreibt die russische Politikanalystin Tatiana Stanovaya. Nawalnaja müsse aus dem 'Schatten von Nawalny' heraustreten, um nicht nur als Witwe bemitleidet, sondern als unabhängige Persönlichkeit wahrgenommen werden. Sollte Nawalnaja sich dann allerdings zu 'prowestlich' positionieren, würde sie dem russischen Publikum als Verräterin gelten, die für den Feind arbeite, Russland eine Niederlage zufügen wolle. Kremlnahe Medien würden schon jetzt bizarre Gerüchte verbreiten, sie habe ihren Mann getötet, um seinen Platz einzunehmen." Auch Maxim Kireev hat auf Zeit Online Sorge, ob Julija Nawalnajas ein politisches Lager einen kann, "das nicht nur untereinander verfeindet und zerstritten ist, sondern auch in Russland zuletzt zunehmend an Einfluss und Bedeutung verloren hat."

Alexander Estis und Leni Karrer haben für die FAZ mit oppositionellen Russen gesprochen, die in Berlin Alexej Nawalnys gedachten und nicht mehr weiter wissen: "Es offenbart sich die totale Hilflosigkeit oppositioneller Russen angesichts des übermächtigen, unmenschlichen und jedem menschlichen Zugriff entzogenen Apparates. Die naive Hoffnung, das Putin-Regime von Berlin aus durch friedliche Aktionen irgendwie zu treffen, die Vorstellung, Nawalnyj hätte selbst aus dem Lager heraus etwas gegen das Regime anrichten können, das mit seinen Gewaltapparaten das Land unter strengster Kontrolle hält - beides dürfte illusorisch sein. In einer Art Schockstarre steht auch der Journalist Arsenij auf dem Platz, den jemand mit einem Schild in Nawalny-Platz umgetauft hat. Arsenij kannte Nawalny persönlich. Sein Tod sei der größte Schlag gegen Russlands Opposition, für sie sei jede Hoffnung verloren, zumindest innerhalb Russlands. Es könne dort zwar noch einzelne Protestaktionen geben, aber nur von anderen Kräften wie den Soldatenmüttern, glaubt Arsenij. Alle hätten in Nawalny den Anführer der Oppositionsbewegung gesehen, alle hätten seine politische Autorität anerkannt."

Am 20. Februar 2014 eskalierte die Situation zwischen Demonstranten und den Schergen des Regimes von Viktor Janukowitsch auf dem "Platz der Unabhängigkeit" in Kiew, erinnert Cathrin Kahlweit in der SZ. Das Massaker auf dem Euromaidan mit hunderten Toten, bei der die Sondereinheiten der Regierung ohne Erbarmen Zivilisten erschossen, ging in die Geschichte ein als "Geburtststunde der Nation", als entscheidender Schritt der Ukraine gen Westen: "Nun, zehn Jahre später, mitten in den Feierlichkeiten zum Jahrestag des Maidan-Massakers in Kiew, steht das Land vor einer weit größeren Katastrophe. Sie könnte das Land zerstören. Serhij Zhadan, eine der wichtigsten ukrainischen Stimmen, schreibt in seinem Essay 'Blut erregt immer Aufmerksamkeit' über die Begeisterung 2014 und die zunehmend leeren Versprechen der Verbündeten 2024: 'Uns in der Ukraine kommt es oft so vor, als hätte man uns in diesem Krieg allein gelassen mit dem Bösen und der Ungerechtigkeit, auf niemanden zählen zu können. Es bleibt dabei, dass man sich zuallererst auf sich selbst verlassen muss.'"