9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.04.2024. In der FAZ bezichtigt Nikolaus Klimeniouk die Zeitungen, über Jahre hinweg für Verständnis für Russland geworben und die deutsche Politik beeinflusst zu haben. Derweil wirft der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev der Berliner Zeitung vor, ein Sammelbecken der Russophilie geworden zu sein. Erdogans Handelsbeziehungen zu Israel sind mitverantwortlich für seine Wahlschlappe, glaubt Bülent Mumay in der FAZ. In der SZ sieht Meron Mendel die Kunstfreiheit sowohl von Pro-Palästina-Aktivisten als auch von der deutschen Kulturpolitik bedroht. Jemand muss Benjamin Netanjahu aufhalten, ruft der Tagesspiegel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.04.2024 finden Sie hier

Medien

"Alles, was irgendwie mit Russland zu tun hat, bleibt in Deutschland auf eine fast magische Art ohne Konsequenzen", ärgert sich auf den Medienseiten der FAZ Nikolai Klimeniouk, der nicht nur den damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier "wegen seiner Beteiligung an gravierenden Fehlentscheidungen vor einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss" gestellt hätte, sondern auch mit den Medien ins Gericht geht: "Führende Zeitungen brachten Berichte ihrer Korrespondenten über krasse Menschenrechtsverletzungen in Russland, Misshandlungen von Andersdenkenden, Zerschlagung der freien Medien, Unterdrückung aller erdenklichen Minderheiten und ideologische Indoktrination. Gleichzeitig erschienen in denselben Zeitungen Gastbeiträge und Appelle, die Verständnis für Russlands Verbrechen (die man natürlich so nicht nannte) forderten und der Ukraine nahelegten, auf die besetzten Gebiete im Namen des Friedens zu verzichten. Die tatsächlichen Entscheidungen der deutschen Politik, die der Ukraine aufgezwungenen Minsk-Verträge und vor allem der Bau der Pipeline Nord Stream 2, folgten insgesamt diesen Empfehlungen. Deutlicher konnte man der deutschen Gesellschaft nicht signalisieren, dass demokratische Grundsätze verhandelbar sind und dass man es mit der Menschenwürde nicht so ernst nimmt."

Ganz empört antwortet die gesammelte Chefredaktion der Berliner Zeitung auf einen Twitter-Thread des ukrainischen Botschafters Oleksii Makeiev. Dieser hatte der Zeitung vorgeworfen, mehr oder weniger zum Sammelbecken der Russophilie und ehemaliger Autoren russlandnaher Medien geworden zu sein. Auf die Vorwürfe gehen die Chefredakteure im Einzelnen nicht ein, sondern bemühen gleich die Pressefreiheit: "Wir sehen die völlig unbegründeten Attacken gegen namentlich genannte Redakteure und Autoren als versuchte Einschüchterung und mithin als Eingriff in die Pressefreiheit... Wir erwarten, dass der ukrainische Botschafter die Pressefreiheit in einer europäischen Demokratie respektiert."

Hier der Thread des Botschafters:


Schmerzlich für die Berliner Zeitung dürfte diese Bemerkung des Botschafters sein: "Ob Russia Today, Ruptly oder RIA Novosti - die @berlinerzeitung ist nach dem 24. Februar 2022 zu einem Arbeitgeber für ehemalige Mitarbeiter russischer Staatsmedien geworden. Wobei man bei diesen Leuten und ihren ehemaligen Jobs kaum von Journalismus sprechen kann." Und natürlich erinnert Makeiev an den Besuch des Verlegers Holger Friedrich und seines Herausgebers Michael Maier bei den Feierlichkeiten der russischen Botschafters zum Jahrestag des Siegs über Deutschland im letzten Mai (unser Resümee).

Der Streit hat einen Nebenschauplatz: das Scharmützel der Berliner Zeitung mit dem Konkurrenzorgan Tagesspiegel. "Welche Rolle spielt der Tagesspiegel bei der seltsamen Aktion", fragt die Chefredaktion der Berliner Zeitung dann auch in ihrem heutigen Artikel. Der Streit mag mehrere Episoden haben, aber der aktuelle Anlass ist folgender: Tagesspiegel-Autor Sebastian Leber hatte der Berliner Zeitung am 8. März vorgeworfen, ein geschöntes Interview mit Roger Waters veröffentlicht zu haben - die antiisraelischen Passagen fehlten und wurden sichtbar, als Waters seine Version der Interviews selber publizierte. In der Berliner Zeitung war man sehr verärgert. "So verzerrt der Tagesspiegel die Wahrheit", antwortete Sören Kittel in der Berliner Zeitung, worauf Leber in seinem Artikel zwei Updates publizierte. Mit Freude berichtete die Berliner Zeitung daraufhin, dass der Tagesspiegel zum 7. April seine Sonntagsausgabe einstellen muss. Dabei werden sogar Küchengeheimnisse preisgegeben: Die Angaben zur "harten" Printauflage des Tagesspiegel seien geschönt: "Laut Statista belief sich die verkaufte Auflage der E-Paper-Ausgabe im vierten Quartal 2023 auf rund 54.300 Exemplare, das heißt, mehr als die Hälfte der 'harten Auflage' wurde nicht mehr auf Zeitungspapier gedruckt. In der Branche werden E-Paper-Verkäufe allerdings grundsätzlich mit Zurückhaltung beurteilt: Die Vertriebswege sind oft intransparent." Und wie steht's also mit dem Epaper der Berliner Zeitung?
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Europa

Die breite Unterstützung für den Krieg in der Ukraine, wie sie propagiert wird, gibt es in der russischen Bevölkerung nicht, meint im SpOn-Gespräch die Ökonomin Alexandra Prokopenko, die ihren Job bei der russischen Zentralbank mit Kriegsausbruch kündigte. Viele Beamte sind mit Ausreisesperren belegt oder werden mit geheimen Dokumenten unter Druck gesetzt - und auch der Westen bietet ihnen keinen Ausweg, erklärt sie. Um die russische Wirtschaft wirklich zu schwächen, müsste der Abfluss von Kapital aus Russland stimuliert werden: "Jede Milliarde weniger in Russland bedeutet weniger Unterstützung der Kriegsmaschinerie. Selbst zu einem Zeitpunkt, als die russische Zentralbank bereits Kapitalverkehrskontrollen eingeführt hatte, flossen immer noch Dutzende Milliarden Dollar ins Ausland. Warum sollte der Westen solche Bewegungen nicht fördern, statt sie wie aktuell zu bekämpfen? Ich glaube, es wäre an der Zeit, dass der Westen alles tut, um sowohl den Braindrain als auch die Kapitalflucht aus Russland zu fördern. Das würde Putins Regime aushöhlen. Es wäre an der Zeit, Russlands Wirtschaft so langsam ausbluten zu lassen."

Die Ukraine hat nach internationalem Recht den Vorrang, wenn es darum geht, Russland für seine Kriegsverbrechen anzuklagen. Aber ist es auch sinnvoll, dieses Vorrecht zu nutzen, wie das gerade passiert, fragt Ronen Steinke in der SZ. Bei einer Konferenz in Den Haag wurde klar: "Der ukrainische Generalstaatsanwalt zeigt sich fest entschlossen, möglichst alles unter seiner Kontrolle zu behalten. Er und seine Leute wollen Russen anklagen, sie bestehen auf Tempo - notfalls klagen sie Russen auch in Abwesenheit an, ohne Verteidigung. Nach dem Recht Deutschlands und der meisten anderen europäischen Staaten wäre so ein Vorgehen undenkbar." Eigentlich, meint Steinke "wäre das Weltstrafgericht prädestiniert, um hier aus neutraler Warte zu urteilen - über Vorwürfe gegen Russland, aber auch gegen die Ukraine, die derzeit kaum aufgeklärt, auch kaum ausgeräumt werden können."

Vier Gründe macht Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne für das Scheitern Erdogans bei den Kommunalwahlen aus: Einen starken Gegenkandidaten, die schwache Wirtschaft, den Wahlboykott enttäuschter Erdogan-Wähler und: "Dass Ankara trotz der Ereignisse in Gaza die Handelsbeziehungen zu Israel nicht aussetzte, dürfte der dritte Grund für Erdogans Schlappe gewesen sein. Selbst Islamisten, die zuvor für die AKP gestimmt hatten, entschieden sich nun anders, weil sogar Schiffe im Besitz von Erdogans Kindern Waren nach Israel transportieren. Die neue Wohlfahrtspartei YRP, nicht zuletzt durch ihre antiisraelische Haltung groß geworden, machte einen überraschenden Sprung und wurde mit mehr als sechs Prozent drittstärkste Partei."

Die Türkei hat das Ruder herumgerissen und ist in Richtung Demokratie unterwegs, frohlockt hingegen Can Dündar auf Zeit online: "Im Gegensatz zur weltweiten Tendenz bewegt sich die Türkei auf eine Wende zu, die sie vom Autoritarismus entfernen und wieder näher an demokratische Prinzipien heranführen wird. Ein konkretes Zeichen für diesen Wandel ist, dass die einst von der AKP über und über orange gefärbte politische Landkarte bei der Wahl am letzten Wochenende von der CHP zu großen Teilen in Rot getaucht wurde."
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Politik

Jemand muss Benjamin Netanjahu aufhalten, ruft Stephan-Andreas Casdorff im Tagesspiegel. Die jüngsten Ereignisse werden nur dazu beitragen, dass Israel weiter isoliert wird: "Israel hat in Damaskus ein iranisches Botschaftsgebäude angegriffen, damit Hoheitsgebiet Teherans. Das setzt Israel vor aller Welt ins Unrecht und heizt alle Debatten um sein Verhalten weiter an. In einer angesichts bedrückender Berichte aus Gaza ohnedies provokanten Lage noch zusätzlich zu provozieren, droht Israel auch unter seinen Freunden zu isolieren. Und das alles, weil Benjamin Netanjahu waltet, wie er will. Israels Premier scheint sich, um im Bild zu bleiben, in einem Tunnel zu befinden, er schaut nicht rechts, nicht links, er verrennt sich."

Auch Ulrich von Schwerin hält den Angriff auf das Konsulatsgebäude in der NZZ für einen taktischen Fehler: "Nach sechs Monaten ist klar erkennbar, dass weder Iran noch der Hizbullah Interesse an einem größeren Krieg haben. Das Regime in Teheran scheint vielmehr bemüht, eine gewisse Schwelle nicht zu überschreiten. Israel spekuliert womöglich darauf, dass Iran auch jetzt eine weitere Eskalation vermeiden wird. Doch Israels Strategie ist riskant. Denn der Angriff auf das Konsulat könnte Iran zwingen, härter als bisher zu reagieren, um die Abschreckung wiederherzustellen. Das Ergebnis könnte ein Krieg sein, den auch Israel nicht wollen kann."
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Wissenschaft

Angesichts des wachsenden Antisemitismus nicht nur an amerikanischen, sondern auch an deutschen Universitäten begrüßen die Soziologin Karin Stögner und der Politikwissenschaftler Lars Rensmann auf den Geisteswissenschaften der FAZ den im Dezember 2023 verabschiedeten Aktionsplan gegen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit der Kultusministerkonferenz, der Universitäten zu einer klaren Positionierung gegen jegliche Form des Antisemitismus aufruft und sich dabei auf die IHRA-Definition bezieht: "Die KMK sollte beim Wort genommen werden, dem auch Taten zu folgen haben. Um Antisemitismus an Hochschulen bekämpfen zu können, braucht es vermehrt Forschungen zu jenen modernisierten Formen des Antisemitismus im Kontext rabiater Israelfeindschaft, die an Universitäten und im künstlerischen Milieu zuvörderst relevant sind. Tatsächlich gibt es in Berlin mit dem Zentrum für Antisemitismusforschung eine hoch dotierte wissenschaftliche Institution, die sich genau dem widmen sollte. Stattdessen lehnt der amtierende Direktor Uffa Jensen die IHRA-Definition seit Jahren ab, gerade weil mit ihr Formen der Israelfeindschaft als Antisemitismus benannt werden können. Damit redet er jenen Wegbereitern eines universitären Antisemitismus das Wort, die wie Judith Butler behaupten, die Opfer des Hamas-Pogroms seien nicht Juden, sondern Israelis gewesen, weshalb dies keine antisemitischen Gewalttaten seien."

Eine Koalition aus jüdischen Studierendenverbänden fordert die Aberkennung des Adorno-Preises für Judith Butler nach ihren Aussagen zu Israel (unser Resümee). Butler will die Hamas unter anderem nicht als Terrororganisation ansehen und hält das Massaker vom 7. Oktober nicht für antisemitisch. Die FR druckt ein kurzes Statement Butlers, in dem diese auf die Vorwürfe reagiert und beteuert, die Gewalt gegen israelische Zivilisten nicht legitimieren zu wollen: "Ich bin gegen alle sexuellen Gewalttaten, Verletzungen und Morde, die seit dem 7. Oktober stattgefunden haben, einschließlich der grausamen Taten der Hamas, die ich unmissverständlich verurteilt habe und weiter verurteile."
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Kulturpolitik

Luftbild der im Wiederaufbau befindlichen Garnisonkirche, 2023, © Raimond Spekking, Lizenz: CC BY-SA 4.0 DEED

Ähnlich wie die wiedererrichtete Fassade des Berliner Hohenzollernschlosses am Berliner Humboldt-Forum spaltet auch die geplante Rekonstruktion der Potsdamer Garnisonkirche die Gemüter (siehe auch hier). Andreas Kilb berichtet in der FAZ von der Eröffnung eines Teils des Baus, des Kirchturms. Von Gegendemonstrationen begleitet, verwahrte sich Bischof Stäblein vor Gläubigen gegen eine Vereinnahmung durch die extreme Rechte. Kilb ist dem Wiederaufbau insgesamt zugetan, kritisiert aber beide Konfliktparteien: "Anhänger wie Gegner des Rekonstruktionsprojekts verbindet die Illusion, man könne die Garnisonkirche von ihrer Geschichte reinigen - sei es, dass man sie, wie die Sprengkommandos der DDR, möglichst vollständig beseitigt, sei es, dass man ihre Relikte demokratischen Zwecken weiht wie jenen Feldaltar, vor dem sich einst die Soldaten der Wehrmacht versammelten. Aber Geschichte lässt sich nicht exorzieren. Man kann sie nur bewältigen, indem man sie erzählt. Das muss in Potsdam geschehen."

Das Klima in der Kulturwelt ist "vergiftet" - und zwar für israelische und palästinensische Künstler, konstatiert Meron Mendel in der SZ. Während auf der einen Seite alle Stimmen delegitimiert werden, die Empathie für die israelischen Opfer fordern, wie es jüngst beim Magazin Guernica geschah (unser Resümee), macht Mendel auch die Absagen von Kunstveranstaltungen palästinensischer Künstler als Problem aus: "Im Kontext des Nahostkonfliktes wird die Kunstfreiheit von mindestens zwei Seiten angegriffen: von Pro-Palästina-Aktivisten, die Veranstaltungen sprengen und Menschen niederbrüllen, wie zuletzt bei einer Lesung im Hamburger Bahnhof in Berlin. Und auf der anderen Seite von Amtsträgern in der Kunst- und Kulturwelt, die palästinensische und propalästinensische Stimmen aus der Öffentlichkeit verdrängen wollen. Beide Seiten bedienen die Logik des Boykotts. Beide Seiten bedrohen die Kunstfreiheit in diesem Land. Wir sollten eines nicht vergessen: In Zeiten, in denen die AfD in Geheimtreffen schon Pläne für die Phase nach der Machtübernahme schmiedet, ist die Gefahr für die Kunstfreiheit nicht nur eine Spekulation."

Aus Spargründen wollen die Staatlichen Museen zu Berlin ab dem 16. April die Öffnungszeiten verändern, einige Museen sollen nicht nur montags, sondern auch am Dienstag geschlossen bleiben, darunter das Alte Museum, das Bode-Museum, das Kunstgewerbemuseum und die Sammlung Scharf-Gerstenberg, meldet Andreas Hergeth in der taz: "Das alles gilt übrigens nicht für die 'Stars' unter den Berliner Museen. Unverändert bleiben laut SPK die Öffnungszeiten für die Alte und Neue Nationalgalerie, die Gemäldegalerie, den Hamburger Bahnhof, das Museum für Fotografie sowie das Pergamonmuseum. Auch die langen Donnerstagabende bis 20 Uhr in der Neuen Nationalgalerie, dem Hamburger Bahnhof und dem Museum für Fotografie bleiben erhalten."

"Der Landesregierung, speziell dem Kultur- und dem Finanzsenator (beide CDU) möchte man zurufen: Geht's noch?", kommentiert Hergeth in einem zweiten Artikel: "Das ist am falschen Ende gespart. Nicht nur wegen der Touristen aus aller Welt, die Geld in die Stadt bringen. Sondern auch, weil Museen niedrigschwellige und inklusive Bildungsorte sind."
Archiv: Kulturpolitik