9punkt - Die Debattenrundschau

Schockierend, aber nicht schockierend neu

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.01.2024. "Da hat sich etwas ein Ventil gesucht", resümiert die taz nach den riesigen Demos am Wochenende, aber was genau? Viel kommt darauf an, wie lange Xi Jinping und Putin noch leben, sagt Russlandexperte Alexander Gabujew in der NZZ: je länger, desto enger die russisch-chinesische Freundschaft. Fania Oz-Salzberger zeichnet auf Twitter einen radikalen Stimmungsumschwung in Israel nach dem 7. Oktober nach. Joe Biden reagiert auf Twitter humorvoll auf Donald Trumps Aussetzer.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.01.2024 finden Sie hier

Europa

Deutschland hat eines seiner größten Demo-Wochenenden der Geschichte hinter sich. Hunderttausende protestierten überall gegen die AfD. Etwas rätselhaft findet Anna Klöpper das in der taz schon auch: "Es ist nicht so ganz klar, wohin diese Protestwelle gegen rechts noch trägt, aber was man wohl festhalten kann nach diesem erneuten Wochenende: Da hat sich etwas ein Ventil gesucht. Was dieses 'Etwas' ist, darüber kann man nun streiten: Ist es ein Protest von Hunderttausenden gegen menschenverachtenden Rechtsextremismus, gegen die Deportationsfantasien von AfD-Politiker*innen und anderen Nazis? Ja, sicher. Nur: Deren 'Remigrations'-Theorien sind zwar schockierend, aber nicht schockierend neu."

Der Politologe Dieter Rucht, Spezialist für Protestbewegungen, glaubt im Gespräch mit taz-Redakteur Konrad Litschko, dass die Bewegung zumindest präsent bleiben wird: "Wir werden vermutlich keine sich immer weiter steigernde Protestwelle erleben. Demnächst wollen die Protestierenden noch einmal eine Menschenkette um den Bundestag ziehen, das dürfte noch mal größer werden. Danach aber dürfte es Abflauen oder Innehalten geben. Aber es besteht eine gute Chance, dass sich der Protest immer wieder neue Angelpunkte suchen wird, dass er sich an kleineren Anlässen wieder entzündet, wenn sich etwa die AfD oder andere rechtsextreme Gruppen bei den Wahlkämpfen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg versammeln." Hier und hier die Die taz-Reportagen von den Demos.

Der Jurist Maximilian Steinbeis hat im Verfassungsblog dargelegt, wie eine Partei wie die AfD staatliche Institutionen kapern kann, wenn sie erst in entsprechende Positionen kommt. Im Gespräch mit Ronen Steinke in der SZ erklärt er, wie das geht. Man nehme etwa die Macht eines Parlamentspräsidenten. "Eine AfD-Person in diesem Amt könnte sagen: 'Hm, interessant! Ich kann die komplette Parlamentsverwaltung kontrollieren. Die Grünen müssen sich jetzt fragen, wer eigentlich ihre Dienst-E-Mails mitliest. Die Linken müssen sich jetzt fragen, ob sie den Auskünften des wissenschaftlichen Dienstes noch trauen können.' Die parteiische Nutzung solcher Institutionen ist Teil der autoritär-populistischen Strategie, und wenn man sich dessen bewusst wird, dann wird auch klar, weshalb es schon der Anfang vom Ende sein könnte, wenn autoritäre Populisten solche bislang neutralen Institutionen erobern."
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Geschichte

Die heutige Ukraine war zumindest in Teilen auch in die Rzeczpospolita einbezogen, erinnert der polnische Publizist Adam Krzemiński auf der "Ereignisse-und-Gestalten"-Seite der FAZ - und gerade aus diesem Umstand lässt sich auch eine frühe Differenz der Ukraine zum imperialistischen Russland ablesen: "Die Rzeczpospolita war eine regionale Macht, verteidigungsfähig, aber mit ihrer föderativen Struktur eher in sich ruhend als imperial. Und - anders als Moskau - war sie in die kommunizierenden Röhren der geistigen Strömungen in Europa fest eingebunden. Durch Reformation und Gegenreformation erlebte in der Rzeczpospolita auch die Orthodoxie einen Modernisierungsschub."

In der FR erinnert Arno Widmann an den ersten Labour-Premier Großbritanniens James Ramsay MacDonald, der vor hundert Jahren die Regierungsgeschäfte übernahm. "James Ramsay MacDonald war sich ganz sicher, dass der Staat den unterdrückten Klassen eine Möglichkeit bot, ihre Lage zu verbessern. Sie mussten sich politisch organisieren und dabei vorgehen 'klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben'. MacDonald war fest entschlossen, Labour auch an den Wahlurnen stärker zu machen als die Liberalen es waren. Das ging nur, wenn man die parlamentarische Arbeit, wenn man die Parlamente ernst nahm. Das hieß auch: Parlamentsreform. Die Suffragetten kämpften für das Frauenwahlrecht. Vielen Sozialisten erschien das als ein Trick des Bürgertums, abzulenken von der sozialen Frage. MacDonald sah das anders. Natürlich musste ein wirklicher Sozialist, fand er, sich an die Seite der Frauen stellen."
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Politik

Fania Oz-Salzberger ist auf Twitter einer der besten Seismografen der Stimmung in Israel nach dem 7. Oktober. Ihr jüngster Post zeigt, dass diese Stimmung sich radikal ändert - weil die Geiseln nach wie vor nicht befreit sind: "Es wird immer dringender, dem Recht der Geiseln auf Leben den Vorrang vor der Entfernung der Hamas von der Macht in Gaza zu geben. Vorrang sowohl chronologisch als auch moralisch. Der Preis, den die Hamas verlangt, ist enorm: kein humanitärer Waffenstillstand, sondern ein Ende des Krieges, ein vollständiger Rückzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen und die Freilassung Tausender palästinensischer Gefangener, darunter Mörder und Massenmörder von Zivilisten. Eine wachsende Zahl von Israelis ist ebenso wie die große Mehrheit der Familien der Geiseln davon überzeugt, dass dieses schmerzhafte Abkommen geschlossen werden muss. Was hat sich geändert? Der Zeitfaktor. Das Schwinden der ursprünglichen Hoffnung, die Geiseln mit militärischen Mitteln zu befreien. Das anhaltende Leid in Gaza. Und vor allem: das unwiederbringlich zerstörte Vertrauen zwischen der politischen Führung und Bürgern. Unsere breite Einsicht, dass Netanjahu sein Volk konsequent belügt."

Der Autor Tobias Huch hatte in der Jüdischen Allgemeinen geschrieben, dass "die Zivilisten in Gaza nicht unschuldig" seien. Dagegen wehrt sich SZ-Redakteur Ronen Steinke zunächst mit dem Argument, dass die Hälfte der Bewohner des Gazastreifens minderjährig sind. Außerdem: "Die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten ist im Krieg elementar. Kombattanten haben sich ausgesucht, dass sie am Krieg teilnehmen wollen. Zivilisten haben das nicht. Für die Unterscheidung kommt es auf das individuelle Verhalten an. Wer sich individuell dafür entscheidet, an einem kriegerischen Überfall auf Kibbuzim teilzunehmen, der trägt die Konsequenzen - er ist dann nach allen geltenden völkerrechtlichen Regeln kein Zivilist mehr, und er darf sich nicht wundern, wenn er vom gegnerischen Militär als Kombattant behandelt wird. Aber für die große Masse der Unbeteiligten gilt das nicht."

Clemens Wergin resümiert in der Welt Recherchen der NGO "UN Watch", die Beweise dafür bringt, dass sehr viele für die UNRWA tätige Lehrer im Gazastreifen den 7. Oktober in Chatgruppen begeistert begrüßt haben. "Angesichts dieser Recherchen stellt sich inzwischen immer mehr die Frage, ob die UNRWA und andere UN-Institutionen in Gaza von der Hamas unterwandert oder gar kooptiert wurden. Die UNRWA stellt einen erheblichen Wirtschaftsfaktor für Gaza dar, weil der Flüchtlingsstatus laut Statut von Generation zu Generation weitervererbt wird und UNRWA somit weiter zuständig bleibt für die Nachkommen derjenigen, die im ersten arabisch-israelischen Krieg von 1949 vertrieben wurden."

Alles scheint nach Ron de Santis' Rückzug aus den Vorwahlen (mehr hier) auf ein Duell zwischen Joe Biden und Donald Trump hinauszulaufen, falls Nikki Haley nicht Terrain gut macht.  Biden eröffnet das unheimlichste amerikanische Wahljahr seit Menschengedenken mit einem ziemlich witzigen Tweet:


In der NZZ weist der Russlandexperte Alexander Gabujew im Gespräch mit Philipp Wolf und Patrick Zoll auf die engen Bande zwischen Russland und China hin. Der gemeinsame Hass auf den Westen schweiße zusammen. Dieses Verhältnis könnte auch den Tod einer der beiden autoritären Machthaber, Putin und Xi, überleben. "Der Tod eines der beiden könnte für die chinesisch-russischen Beziehungen fundamentale Folgen haben, weil die beiden in ihren Ländern so viel Macht haben. Viel hängt davon ab, wer Nachfolger wird. Je länger die gegenwärtigen Machtstrukturen bestehen, desto dauerhafter werden die chinesisch-russischen Beziehungen. In zehn Jahren wird Russland völlig losgelöst sein vom Westen in Bezug auf Wirtschaft, Finanzinfrastruktur, Technologie und Kontakte zwischen den Bürgern. China ist Russlands wirtschaftliches Rückgrat. Wenn es einmal einen neuen russischen Präsidenten gibt, wird es unmöglich sein, die Beziehung zum Westen ohne sehr schmerzhafte Zugeständnisse zu reparieren. Das ist die russische Wahrnehmung."
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Ideen

Der chilenische Autor Rafael Gumucio versucht in einem Essay für Jungle Word dem Wesen des Antisemitismus auf die Spur zu kommen, der immer zugleich aus Unbehagen vor der Kompliziertheit und Sehnsucht nach radikaler Vereinfachung agiere, Beispiel: "In dem Engagement der weltweiten Linken für die palästinensische Sache kommt seit den siebziger Jahren eine seltsame Umkehrung der Schuld zum Tragen. Schuldig für das, was ihre Väter den Juden im Zweiten Weltkrieg angetan hatten, sah eine neue Generation junger deutscher Linksradikaler (die Mitglieder der Baader-Meinhof-Bande und verwandter Gruppen) in der palästinensischen Sache eine Möglichkeit, die Sünden ihrer Vorfahren wiedergutzumachen. Sie griffen zu den Waffen, um die 'neuen Juden' zu verteidigen: die Palästinenser."

Das Fortschrittsnarrativ der Moderne sei durch eine "Verlust-Eskalation" abgelöst worden, orakelt der Soziologe Andreas Reckwitz im Zeit Online-Interview mit Nils Markwardt. "Das ist keine Frage der Kulturkritik mehr, sondern die Wissenschaften selbst prognostizieren ja problematische Zukünfte, etwa klimatische Kipppunkte. Vor diesem Hintergrund wird die ganze Verlustmechanik äußerst fragil."
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Stichwörter: Reckwitz, Andreas