Efeu - Die Kulturrundschau

Mit einer nach oben offenen Förderhöhe

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16.01.2018. Im Standard erzählt Peter Turrini von der Sehnsucht nach einem anderen Leben. Die FAZ geht mit Madame d'Ora in die Schlachthöfe von Paris und huldigt mit Richard Strauss der apolitischen Konversation. Die SZ freut sich über die neu geweckte Lust an afrikanischer Kunst. Und die NZZ empfiehlt gegen unrealistische Sicherheitserwartungen die Filme John Carpenters.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.01.2018 finden Sie hier

Kunst

Madame d'Ora, Abgezogener Hasenkörper vor 1958, aus der Schlachthof-Serie. Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
In einer seiner großartigen Ausstellungen zeigt das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe die Fotografien der Madame d'Ora, die als Studiofotografin im Wien des Fin de Siècle begann, dann als Modefotografin nach Paris ging und schließlich die Pariser Schlachthöfe von La Villette besuchte. Julia Lutz in der FAZ kann die Schau nur wärmstens empfehlen: "Schließlich vereint d'Ora das Interesse an toten Tieren und die genaue Beobachtung des Menschen in den Porträts des Marquis de Cuevas, um dessen Kopf sie drei gehäutete Schafsköpfe drapiert. Das januskopfartige Memento mori des alternden und kranken Ballettimpresarios zeugt ebenso wie die Schlachthoffotografien vom Verfall des Menschen und seiner Welt: 'Die feurige Verteidigung unserer Ideale ist die einzig bleibende Schönheit."

Jonathan Fischer bemerkt in der SZ, mit wieviel Macht und Geld jetzt auch deutsche Institutionen afrikanische Kunst und Kuratoren in den Fokus des Betriebs rücken. Die nächste Berlin Biennale wird von Gabi Ngcobo aus Johannesburg kuratiert werden, zusammen mit Moses Serubiri, Nomaduma Rosa Masilela, Yvette Mutumba und Thiago de Paula Souza: "Darf man dieses Jahr eine Kunstschau unter dem Stern Afrikas erwarten? Nein, nein und nochmals nein, wehrt Yvette Mutumba ab. 'Gabi Ngcobo hat uns nicht nur wegen unserer Herkunft geholt', sagt die in Berlin lebende Mitbegründerin und Chefredakteurin des Magazins Contemporary And und: 'Uns geht es in erster Linie um Kunst und nicht um Afrika.' Alle Museen bekämen gerade Fördermittel für global angelegte Kunstprojekte, alle großen Kunst-Institutionen wollten Afrika und Postkolonialismus thematisieren. Aber, so sagt sie mit Nachdruck, man müsse die nachträgliche Entdeckung des vernachlässigten Kunst-Kontinents nicht unnötig exotisieren."
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Bühne

Ende Januar hat Peter Turrinis neues Stück "Fremdenzimmer" in Wien Premiere, im Standard-Interview mit Ronald Pohl erklärt er, warum er so gern Volksstücke schreibt, Stücke über Menschen, die nicht wissen, wohin mit ihren Gefühlen und Gedanken: "In meiner Erinnerung gab es auch ein Buch mit Liedern, die von Knechten und Mägden handelten. Es waren keine klassenkämpferischen Gesänge, sie sprachen von einem beschwerlichen, ja verhunzten Leben und der Sehnsucht nach einem anderen. Dieser Topos ist zur Basis meiner späteren Stücke geworden, von der 'Rozznjogd' bis zu 'Fremdenzimmer'. Es sind Volksstücke über Menschen mit einem desolaten Leben und einem Ausblick auf etwas Besseres, auch wenn dieser Ausblick nur einen Moment oder ein wenig länger dauert. Meine Figuren sind schon am Anfang des Stückes am Ende."

Brigitte Fassbaenders Inszenierung von Richard Strauss' "Capriccio" an der Oper Frankfurt preist der überwältigte Jan Brachmann in der FAZ als einzige Huldigung an den Komponisten und an das Rokoko - "die Kultur der apolitischen Konversation, der ästhetischen Differenzierung, der erotischen Causerie".

Besprochen werden David Böschs Inszenierung von Richard Strauss' 'Elektra' am Theater Basel (Badische Zeitung, NZZ), die neue Inszenierung von Rimini Protokoll "Weltzustand Davos" im Zürcher Schiffbau (NZZ, SZ), Mascha Alechinas Pussy-Riot-Performance im Berliner SO36 (den Thomas Mauch in der taz soliden Agitprop nennt), Robert Borgmanns Kafka-Inszenierung "Das Schloss" am Schauspiel Frankfurt (FR), der Horvath-Abend "Glaube, Liebe, Hoffnung" im Gorki-Theater Berlin (FR), Ibsens "Volksfeind" in Bregenz (Standard), Oleg Soulimenkos Choreografie "Swimming Pool" im Wiener Jörgerbad (Standard) und Rafael Sanchez' Inszenierung von Becketts "Endspiel" am Schauspiel Köln (Kölnische Rundschau, FAZ).
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Literatur

In der NZZ bringt Jürgen Ritte Hintergründe zu Louis-Ferdinand Célines antisemitischen Pamphleten aus den dreißiger und vierziger Jahren, die nach Protesten nun doch nicht bei Gallimard erscheinen werden.

Besprochen werden die René Goscinny gewidmete Ausstellung im Musée dʼart et dʼhistoire du Judaïsme in Paris (taz), Ari Folmans und David Polonskys Comicadaption der "Tagebücher der Anne Frank" (Tagesspiegel), Robert Prossers "Phantome" (Zeit), Peter von Beckers "Céleste" (SZ) und Oskar Roehlers "Selbstverfickung" (FAZ).

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Film

Weltweit boomen die Serien, nur die hiesige Produktion bringt jährlich kaum mehr als drei, vier international vorweisbare Produkte hervor, beklagen sich Nico Hofmann, Geschäftsführer der Ufa, und Wolf Bauer, Filmproduzent, im Medienteil der FAZ. Beide plädieren für eine großzügige Aufstockung ihrer zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel - nicht durch Investoren, sondern aus öffentlichen Töpfen, versteht sich: Sie wünschen sich "ein Anreizmodell", dessen "Volumen bei jährlich mindestens zweihundert bis dreihundert Millionen Euro liegen müsste. ... Auch ein rein steuerliches Modell wäre gegebenenfalls flankierend denkbar. Allerdings würde ein solches Modell zusätzlichen Aufwand und Kosten in der Abwicklung mit sich bringen, da hierfür neue Strukturen geschaffen werden müssten. Ein haushaltsbasiertes Modell mit einer nach oben offenen Förderhöhe würde sich daher am ehesten eignen."

John Carpenter wird siebzig: Der Regisseur war in in den siebziger und achtziger jahren zum Kult-Regisseur im Horror- und Science-Fiction-Kino avanciert. Doch wer dessen Film "auf das reine Effektspektakel reduziert, übersieht dessen politische Dimension", schreibt Tobias Sedlmaier in der NZZ.  Carpenter "spielt mit unseren Sicherheitserwartungen und zeigt Mal für Mal, dass die Stabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse trügerisch ist. Nicht einmal das Polizeirevier in Carpenters zweitem Spielfilm, 'Assault on Precinct 13', kann noch zuverlässig Schutz vor marodierenden Banden bieten." Glückwünsche übermitteln außerdem Fritz Göttler (SZ) und Verena Lueken (FAZ).

Besprochen werden Amat Escalantes Horrorfilm "The Untamed" (Tagesspiegel) und "Wir töten Stella" mit Martina Gedeck (Welt).
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Musik

Nadine Lange schreibt im Tagesspiegel zum Tod der Cranberries-Sängerin Dolores O'Riordan.

Besprochen werden Jonny Greenwoods Soundtrack zu Paul Thomas Andersons neuem Film "Phantom Thread" (Pitchfork), Sun Ras "Plays Gershwin" (Pitchfork), ein Auftritt von Mascha Alechina von Pussy Riot in Berlin (taz), ein Konzert des Ensembles Preußens Hofmusik im restaurierten Apollosaal der Staatsoper Berlin (Tagesspiegel), das Geburtstagskonzert zu Ehren des Komponisten Heinz Karl Gruber (Standard).

Und die Spex präsentiert das neue Video von Tocotronic:


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