Post aus Istanbul

Die Republik als Fetisch

Von Constanze Letsch
13.07.2007. Am 22. Juli finden in der Türkei vorgezogene Neuwahlen statt. Die Annahme, im Land stehen sich ein aufgeklärter liberaler Laizismus und ein fundamentalistischer Islamismus gegenüber greift nicht nur zu kurz, sie ist schlicht falsch.
"Alle diese Ereignisse zeigen, dass das Volk die Liebe zu Atatürk und die kemalistischen Ideale verinnerlicht hat. Werden alle diejenigen, die versuchen diese Liebe auszulöschen, um sie durch fremde Ideologien zu ersetzen, angesichts dieser Bilder endlich sehen, wie sehr sie sich täuschen? Wenn sie es nicht verstehen oder nicht verstehen wollen, wird sie ein an die Ideale Atatürks gebundenes Volk in Wellen dieser Liebe zu Atatürk ertränken und vernichten."

Diese Worte stammen aus der Rede des Generals Kenan Evren anlässlich der Enthüllung einer Gedenkstatue in Erzurum am 24. Juli 1981, nur Monate nach dem von ihm geführten Militärputsch vom 12. September 1980. Ein prophetisches Versprechen. Heute, einige Tage vor der am 22. Juli 2007 geplanten Parlamentswahl, spiegeln sie mehr denn je den aggressiven Konflikt, der sich in den letzten Wochen in der Türkei zuspitzt. Doch die Annahme, dass sich ein aufgeklärter, moderner Laizismus und ein fundamentalistischer Islamismus antagonistisch gegenüberstehen, greift nicht einfach zu kurz, sondern ist schlichtweg falsch. Die Diskussion um den Laizismus, davon sind vor allem auch die liberalen Intellektuellen hier überzeugt, ist eine Scheindebatte, die den zweiten Blick auf den eigentlichen Kern des Problems verstellt: den zunehmend aggressiver werdenden Nationalismus. Intellektuelle, die Ziel des Unmuts radikaler Nationalisten geworden sind, stehen seit dem Mord an Hrant Dink im Januar immer noch unter ständigem Polizeischutz.

Es ist nicht nur als Außenstehende schwer zu verstehen, wie es kommt, dass die gemäßigt islamische Regierungspartei AKP verdächtigt wird, die Türkei in einen fundamentalistischen Schariastaat verwandeln zu wollen. Seit viereinhalb Jahren ist sie an der Macht, der Wirtschaft geht es im Vergleich zu vorangegangen Jahren gut, wie keine andere türkische Partei der letzten Jahrzehnte hat sie das Land an Europa angenähert. Und war nicht Europa das Ziel des Staatsgründers Mustafa Kemal? Trotzdem wird selbst das der Erdogan-Regierung jetzt vorgeworfen. Beim Gemischtwarenhändler, in kemalistischen mittelständischen Kreisen und in den atatürktreueren Medien wird geschimpft, der Premierminister hätte sich an die EU verkauft, hätte die Ehre des Landes mit dem allzu kompromissbereiten Reformkurs zerstört, der Außenminister Abdullah Gül sei eine Marionette der USA. Auf den Frühlingsdemonstrationen wurde neben einem laizistischen Staat auch die "vollständige Unabhängigkeit" von der EU und den USA gefordert, Umfragen zufolge geht die Unterstützung für einen EU-Beitritt der Türkei in der Bevölkerung zurück.

Die Millionen, die zum ersten Mal am 14. April 2007 in Ankara und zum vorerst letzten Mal am 20. Mai 2007 in Samsun auf die Straße gingen, spiegeln das Bild einer in höchstem Maße beunruhigten Bevölkerung. Die Mehrheit stellen sie keineswegs dar. Vor allem diejenigen, die in den ärmlichen Vorstädten und auf dem Land leben, sind es, die sich von der Regierungspartei am ehesten verstanden fühlen. Für sie verkörpert die AKP, besser als die anderen Parteien, den Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Korruption. Aus den letzten Schätzungen geht hervor, dass die AKP auch jetzt wieder in der Wählergunst vorn liegt. Auf die Behauptung, dass die Laizität der Republik in einen religiösen Fundamentalismus entgleiten würde, antwortet der Journalist und Professor für Politikwissenschaften, Baskin Oran, der sich am 22. Juli auch als unabhängiger Kandidat zur Wahl stellt, in einem imaginierten Zwiegespräch mit dem türkischen Gewaltenkonsens: "Betrüge die Leute doch nicht. Wachsendes ländliches Kapital drängt sich von unten in die Bourgoisie, will auch einen Platz in der Sonne, du willst dir mit denen die Macht nicht teilen. Also fange nicht damit an, verschiedene lächerliche Argumente wie ein konservatives Religionsverständnis, das daher rühre, dass diese Leute ländlich seien, zu verwenden, um diesen Klassenkampf als eine Scharia-Bedrohung darzustellen und den Leuten Angst zu machen. Dieser Konflikt ist kein Konflikt zwischen Laizisten und Fundamentalisten. "

Vorige Woche erläuterte Baskin Oran in der Tageszeitung Radikal, wie er die vergangenen Demonstrationen einschätzt: "Man muss zwischen Organisatoren und Teilnehmern trennen. Die, die an den Demonstrationen teilnehmen, sind die, die Angst haben. Die, die sie organisieren, sind die, die Angst machen wollen." Unter denen, die sie organisiert haben, ist zum Beispiel auch der Kemalistische Denkverein ADD, in dessen Vorstand u.a. Sener Eruygur, in der Zeit um 1980 Befehlshaber der türkischen Gendarmen, und die Professorin Necla Arat sitzen, die in einer Fernsehdiskussion die offene Putschdrohung des Militärs vom 27. April als "demokratische freie Meinungsäußerung" verteidigte. Von Demonstrationsplakaten, die forderten, "dass die Armee ihre Pflicht tun solle", distanzierte sich Sener Eruygur nicht.


Spiel mit der Angst

E. Fuat Keyman, Dozent an der Koç Universität, schätzt die Massendemonstrationen einerseits als positives Zeichen eines Demokratisierungsprozesses ein, aber er warnt auch vor der Polarisierung sich gegenüberstehender Gruppen. "In der Türkei macht die Trennung zwischen Demokratie und Militärputsch, Demokratie und reaktionärem Nationalismus immer schneller einer 'unbestimmten und der Zukunft gegenüber unsicheren' Leere Platz." Vor allem Deniz Baykal, der Kopf der Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei), spiele ein gefährliches Spiel mit der Angst als Mittel zur Massenmanipulation, das leicht außer Kontrolle geraten könne, so Keyman. Baykal war es auch, der vor dem umstrittenen Urteil des Verfassungsgerichts, dass die Präsidentschaftswahl im Mai für ungültig erklärte, öffentlich geäußert hatte, dass, sollte das Gericht die Wahl nicht abbrechen, es im Volk zu "gewalttätigen Auseinandersetzungen" kommen würde.


Das edle türkische Volk

Die Situation gewann an Schärfe, als das Militär am 27. April 2007 auf der offiziellen Webseite des Generalstabs, ein Memorandum (muhtira) veröffentlichte, in dem mit einer offenen militärischen Intervention gedroht wurde, sollte der Präsidentschaftskandidat der AKP, Abdullah Gül, tatsächlich gewählt werden. Obwohl die Regierung, zum ersten Mal in der Geschichte der Republik, die Drohung des Militärs ebenso scharf zurückwies, fand sich kein Staatsanwalt, der gegen den Generalstabschef Anklage erhoben hätte. "Alle diejenigen, die sich nicht dem Ausspruch Atatürks 'Wie glücklich bin ich, mich Türke nennen zu dürfen', anschließen, sind Feinde der Republik und werden es immer bleiben", heißt es im "e-Memorandum" des Militärs. Der amtierende Präsident der Republik, Ahmet Necdet Sezer, hatte bereits in seiner als Abschiedsrede geplanten Ansprache in der Militärakademie Istanbul am 13. April 2007 wie folgt formuliert: "Die Ideologie der modernen Republik Türkei, die sich aus den Prinzipien und Reformen Atatürks ergibt, ist eine Staatsdoktrin, zu der sich alle Mitbürger bekennen müssen." Noch klarer hätte er es kaum sagen können.

Der türkische Nationalismus, analysiert der Politikwissenschaftler Dr. Umut Özkirimli von der Bilgi Universität, sähe alle Probleme schwarz-weiß, gefiltert durch die nationalistische Linse. So würde "die Kurdenfrage zu einem Terrorismusproblem" und Behauptungen wie "Die EU will das Land spalten" florierten. Eine Umfrage seiner Universität, bei der untersucht wurde, welche Kriterien sich auf keinen Fall mit dem Türkentum vertragen würden, hatte ein interessantes Ergebnis: Den ersten Platz belegte mit über 50 Prozent: Atheismus. Und welcher Laizismus sollte auch in einem Land verteidigt werden, in dem alle religiösen Angelegenheiten bis hin zur Freitagspredigt in den Moscheen des Landes von einem staatlichen Ministerium geregelt werden?

Demokraten, so Özkirimli, suchen den Dialog mit dem Anderen. Nationalisten lehnen das Andere ab, bekämpfen es. Genau darin liegt die Gefahr der sowohl von politischen Parteien wie der CHP, als auch von nationalistischen Gruppierungen wie der PKK instrumentalisierten Polarisierung. Wenn sich die Gruppen einer Gesellschaft auf einzelne Pole zurückziehen, bleibt für diejenigen, die nicht bereit sind, eine Seite zu wählen, nur noch die Position des Verräters. So entsteht in der Türkei die paradoxe Situation, dass sich diejenigen, die nicht der Meinung sind, dass die Türkei Gefahr läuft, in einen Schariastaat umgewandelt zu werden oder dass man die Kurdenfrage am besten mit einer Militäroperation lösen kann, augenreibend auf der gleichen Seite wieder: liberale Intellektuelle, Islamisten, Anarchisten, Anhänger eines gemäßigten politischen Islam.

Der, wie Journalistin Ayse Kadioglu ihn bezeichnet, "Republiksfetischismus", ist das Maß aller Dinge. Baskin Oran macht zwischen fundamentalistischen Kemalisten und religiösem Fundamentalismus keinen Unterschied: "Laizität wird selbst zur Religion. Sehen Sie nicht die Parallelen zwischen den Zitaten Atatürks und den Hadithen Mohammeds, zwischen der Kaaba in Mekka und dem Atatürk-Mausoleum in Ankara, zwischen dem Koran und dem 'Nutuk' (von Atatürk, dem Standardwerk der Kemalisten)?" Diese Leute seien weder westlich orientiert, noch reformfreudig. "Würde Mustafa Kemal heute leben, würde er diese Kemalisten mit der Keule vertreiben. "


Das PKK-Problem und das Missionarsproblem

In den letzten Tagen wurden die auch in den Medien emotional inszenierten Beerdigungen der im Kampf gegen Kämpfer der PKK gefallenen türkischen Soldaten mehr und mehr zu Schauplätzen politischer Grabenkämpfe. Nationalistische Gruppen nutzen die Beerdigungen, um gegen die Erdogan-Regierung zu protestieren, die ihnen im Umgang mit der Kurdenfrage und der PKK nicht hart genug ist. Erdogan hatte wiederholt erklärt, das Terrorismusproblem auf diplomatischem Weg, im Gespräch mit dem irakischen Präsidenten Talabani lösen zu wollen. Das Militär will den Einmarsch in den Nordirak. Am 8. Juni 2007, wieder um Mitternacht, wurde das zweite Memorandum in zwei Monaten, Dokument BA-13/07, auf der Internetseite des Generalstabs veröffentlicht. Darin forderte Generalstabschef Yasar Büyükanit das "edle türkische Volk" auf, geschlossen gegen den Terrorismus vorzugehen. Dabei fordert er einen "gesamtnationalen Reflex", um das "Problem zu lösen".

Türkische Menschrechtsorganisationen und linke Gruppen haben diese Formulierung als offenen Aufruf zu nationalistischer Selbstjustiz und Rechtfertigung von Lynchkultur scharf verurteilt. Sie befürchten, dass Aussagen wie diese die Probleme zwischen Kurden und Türken eskalieren lassen. Murat Belge vergleicht den "Reflex", von dem der Generalstabschef spricht, mit dem, der bereits "das Hrant-Dink-Problem" und "das Missionarsproblem" in Malatya "löste". Seit Nachrichten von gefallenen Soldaten und Bilder weinender Mütter fast jeden Tag durch die Medien gehen, wächst auch die Aggression gegenüber Kurden. So wurden am 4. Juni 2007 in der Stadt Adapazari zwei Jugendliche aus Diyarbakir Ziel eines Lynchversuchs, weil sie T-Shirts mit dem Konterfei des kurdischen Sängers Ahmet Kaya trugen.

Andere, wie der Verein für die Unterstützung modernen Lebens ÇYDD, der auch einer der Organisatoren der Republiksdemonstrationen war, folgen dem Befehl des Generals zur gemeinschaftlichen Reaktion. Am 24. Juni, so wurde angekündigt, findet die erste große Protestdemonstration statt. Das hastig formulierte und grammatikalisch falsche Memorandum vom 8. Juni lässt viel Raum für Spekulation. Besonders der folgende Satz birgt Anlass zu Fragen: "Es ist an der Zeit, in den Ereignissen das wahre Gesicht der Institutionen und Individuen zu erkennen, die die hohen Werte der Menschheit wie Freiheit und Demokratie als Maske für terroristische Organisationen verwenden. Welche Institutionen und Individuen gemeint sind und welche unter ihnen sich hinter Demokratie verstecken sollen, lässt der Text offen. Für viele Kritiker ist er jedoch klar. Während sich das erste Militärmemorandum noch direkt gegen die Regierung richtete, droht dieser zweite Text offen all jenen, die sich öffentlich gegen die Memoranden und für mehr Demokratie aussprechen. So veröffentlichte eine Gruppe von 500 Akademikern eine solche Erklärung als Reaktion auf die Putschdrohung vom 27. April 2007.


Der Militärputsch von 1980

Der einzige Weg aus der jetzigen Krise, darin ist man sich dennoch im Prinzip einig, liegt in einer demokratischen Wahl am 22. Juli 2007. Doch der eigentliche Kern des Problems, argumentiert Journalist und Dozent Ahmet Insel, liegt im Erbe des Militärputsches vom 12. September 1980, als das Militär unter dem damaligen Generalstabschef Kenan Evren die Regierung um Süleyman Demirel des Amtes enthob, die Verfassung außer Kraft setzte und das türkische Parlament auflöste. Die vom Miltär entworfene neue Verfassung, die nach einem Volksentscheid am 7. November 1982 mit einer knappen 92-prozentigen Mehrheit angenommen wurde, ist in vielen Grundelementen heute noch in Kraft. "Die Verfassung von 1982 war von Anfang an fehlerhaft und hat der Türkei von Anfang an eine lückenhafte, kranke Demokratie beschert", erläutert Insel.
Murat Belge erinnert an die Worte Kenan Evrens: "Wir haben keine Verfassung gemacht, die demokratisch sein soll. Wir haben eine Verfassung gemacht, die die Regierung vor gewissen Leuten schützen soll." Das 1982 entworfene Wahlsystem spiegelt den Anspruch, "das Volk vor sich selbst zu schützen", vor allem sollten die kleineren linken und kurdischen Parteien aus dem Parlament ausgeschlossen werden. Jetzt frisst der Putsch seine Kinder. Die damals aufgestellte 10-Porzent-Hürde ist der Grund, dass die moderat islamistische AKP bei der Wahl 2002 mit 34,3 Prozent der Wählerstimmen 66 Prozent der Sitze im Parlament besetzen konnte.

Es ist keine Überraschung, dass weder die AKP, noch die CHP (mit 32,4 Prozent der Sitze) an der Hürde rühren wollen. Aus den linken und kurdischen Parteien, die bis jetzt in der türkischen Politik keine Stimme haben, rekrutieren sich deswegen in diesem Jahr zahlreiche parteilose Kandidaten, die nicht von der 10-Prozent-Hürde betroffen sind. Über ihre tatsächliche Teilnahme an der Wahl entscheiden die Gerichte, da zum beispiel Vorstrafen eine Kandidatur unmöglich machen können.

"Es ist die Aufgabe und die Pflicht des Präsidenten und des Verfassungsgerichts" so Präsident Sezer bei seiner Rede in der Militärakademie, "die Macht der politischen Spitze auszubalancieren und zu bremsen, damit sie nicht in einer Diktatur der Mehrheit endet". Eine demokratischere Verfassung würde jedoch sicherstellen, dass die Mehrheit, die benachteiligten Schichten des Landes, vor allem die Landbevölkerung und die Kurden, zuerst einmal ein politisches Mitspracherecht bekommen.

Doch nicht nur auf parteijuristischer Ebene, auch auf soziopolitischer Ebene wurde 1980 der Grundstein für den jetzigen Konflikt gelegt: Mit dem Zersplittern der linken Parteien und Gruppen, erstarkte ein konservativer Islamismus. Ein neuverankerter Ethnonationalismus, ein dogmatisches Türkentum verstärkten den Konflikt zwischen Türken und Kurden im Land, der in den letzten Wochen immer mehr aufbrach und an Gewalt zunimmt.

In einem Interview auf Acikradyo fasst Ayse Bugra, Dozentin an der Bogazici-Universität, das Problem so zusammen: "Die Ereignisse zeigen, wie wichtig es ist, sich endlich mit dem Putsch vom 12. September 1980 auseinanderzusetzen. Wir müssen uns mit unserer gesamten Geschichte auseinandersetzen, aber der 12. September ist dabei besonders wichtig. Wir haben es immer noch nicht geschafft, weil wir den Putsch von 1980 immer noch nicht als etwas schlimmes, das uns passiert ist, definieren."