Efeu - Die Kulturrundschau - Archiv

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Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.03.2024 - Bühne

Szene aus "Dora" Foto: Maren Siegmund.

"Who the hell ist Dora?", ruft Joachim Lange begeistert in der nmz, nachdem er Elisabeth Stöpplers Inszenierung von Bernhard Langs Oper "Dora" an der Staatsoper Stuttgart gesehen hat. Aufführung und Antwort auf dieses Motto des Abends können den Kritiker vollkommen überzeugen: "Der zentrale Clou dieser Musiktheater-Neuheit ist eine Teilantwort auf die Eingangsfrage. Dora ist nämlich auch so eine Art Faust-Figur. Keine willkürlich zur Fausta mutierte Zentralfigur des deutschen Literaturerbes. Sondern eine junge Frau Mitte zwanzig (so die Rollenbezeichnung), die es nicht mal zu den Studien gebracht hat, an denen ihr prototypisches Vorbild so verzweifelt, dass er den - höheren Ortes - ausgeheckten Teufelspakt auf Erden eingeht. Doras Version des Habe-nun-ach-Monologes beginnt mit der modernen Nullbock-Variante 'Wie ich diese Landschaft hasse' und benennt Langeweile als Grundfarbe ihres Lebens im Bannkreis ihrer Familie. Er endet mit: 'Gelangweilt endet nun mein Gang, und gelangweilt trete ich in dieses Siedlungshäuschen ein'.

Auch Reinhard Karger hält diese Inszenierung einer "bohrenden Suche nach Sinn" in der FAZ für sehr gelungen, daran hat auch das Orchester unter der Leitung von Elena Schwarz seinen Anteil: "Langs rasante Sextolen-Loops waren bei ihr in ebenso sicheren Händen wie die zarten Stellen des Stücks, A-cappella-Chöre oder sparsam begleitete Soli der Protagonisten. Überhaupt war es überraschend, welchen Sog das eher klein besetzte Orchester zu erzeugen verstand." Besprechungen gibt es außerdem in FR und SZ.

Weitere Artikel: Über die "Schlacht in der Cable Street", bei der sich 1936 Kommunisten, Arbeiterinnen und Juden der British Union of Fascists in den Weg stellten, gibt es nun ein Musical im Southwark Playhouse, berichtet Daniel Zylbersztajn-Lewandowski in der taz. Die SZ begutachtet die jüngsten Theaterpremieren in Berlin und ist gar nicht begeistert.

Besprochen werden Barry Koskys Inszenierung der Händel-Oper "Hercules" im Schillertheater, dem Ausweichquartier der Komischen Oper (taz), Christina Gegenbauers Inszenierung von Deirdre Kinahans Stück "Der Vorfall" Stadttheater Bremerhaven (taz), Pınar Karabuluts Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück "Ulrike Maria Stuart" (Welt), Jan Bosses Inszenierung von Eugène Labiche "Die Affäre Rue de Lourcine" (tsp, FAZ, nachtkritik), "Der große Wind der Zeit" nach einem Roman von Joshua Sobol in der Inszenierung von Stefan Kimmig am Schauspiel Stuttgart (SZ), Sebastian Baumgartens Inszenierung von Roman Haubenstock-Ramatis Kafka-Oper "Amerika" am Opernhaus Zürich (NZZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.03.2024 - Bühne

Das "Mädchen mit dem Perlenohrring" in "50 ways to leave your Ehemann am Theater Paderborn. Foto: Meinschäfer Fotografie.

"Wenn es eine Divorce Barbie gäbe, hätte sie kaputte Schuhe, Alditüten und Mahnungen als Ausstattung", hört Nachtkritikerin Karin Yeşilada bei Fanny Brunners Adaption von Jacinta Nandis Buch "50 Ways to Leave Your Ehemann" am Theater Paderborn: Der Regisseurin ist es gelungen, Brunners wütende Abrechnung mit dem Patriarchat witzig zu inszenieren, ohne dabei die Botschaft zu untergraben, freut sich die Kritikerin. Es geht um die prekäre Situation alleinerziehender Frauen, um unbezalte Care-Arbeit, gesellschaftliche Vorurteile und all die Dinge, von denen manch einer glaubt, wir hätten sie längst überwunden: "Gleich zu Beginn setzt sie starke Bilder, und zwar wortwörtlich, denn drei Schauspieler stellen drei ikonische Frauenbilder im Goldrahmen nach: Zunächst erscheint Jan Gerrit Brüggemann als Jan Vermeers leicht zickiges 'Mädchen mit dem Perlenohrring', dann gibt Kai Benno Vos die hintersinnig lächelnde 'Mona Lisa' von Leonardo da Vinci, und schließlich erscheint Johannes Karl als arg zerzauste, üppig ausgepolsterte 'Venus' von Sandro Botticelli - großartig! Wie Mädchen und Mona Lisa dann der 'Geburt der Venus' (auf dem Küchentisch in der Schaumstoff-Muschel balancierend) im riesigen Bilderrahmen beiwohnen ist urkomisch, und ihre zwischenzeitlichen Eröffnungsargumente gehen dabei fast schon unter. Danach und für den Rest des Stückes machen sich die drei dann in schwarzen Jogginghosen und Unterhemden als Hausmänner in der Wohnung zu schaffen."

Besprochen werden Bérénice Hebenstreits Inszenierung von Gerhild Steinbuchs Stück "Stromberger oder Bilder von allem" am Voralberger Landestheater (nachtkritik), der zweite Teil von Anna-Sophie Mahlers Adaption von Uwe Johnsons "Jahrestage" am Schauspiel Leipzig (nachtkritik), Oliver Frljićs Adaption von Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" am Gorki in Berlin (nachtkritik), Yana Ross' Adaption von "Sterben Lieben Kämpfen" von Karl Ove Knausgård am Berliner Ensemble (taz), Stefano Gianettis Inszenierung von Karol Szymanowskis Oper "Król Roger" im Rahmen des Kurt Weill Fests in Dessau (nmz), Nora Schlockers Inszenierung von Suzie Millers Monolog "Prima Facie" am Münchner Residenztheater (SZ), Andreas Merz-Raykov' Natalka Vorozhbyt Stück "Non-Existent" am Schauspiel Essen (SZ), Ingo Kerhofs Inszenierung von György Kurtágs "Fin de partie" an der Oper Dortmund (FR), Nadav Zelners Tanzstück "Glue Light Blue" am Hessischen Staatsballett in Wiesbaden (FR).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.03.2024 - Bühne

Nach dem unerwarteten Tod von René Pollesch (unser Resümee) gibt es weitere Nachrufe: In der SZ gedenkt der Autor und Theatermacher Carl Hegemann seinem Freund auf persönliche Weise und macht auch dessen besondere Bedeutung für das Theater nochmal deutlich: "Für uns (Menschen, Anm.d.R.) ist die Sterblichkeit das Problem. Darüber habe ich mit René häufig gesprochen, wir waren uns selten einig, aber in diesem Fall war uns beiden klar, dass Gott mit seiner Unsterblichkeit das größere Problem hat. Dass die großen dramatischen und tragischen Konflikte auf der Bühne nicht erst hergestellt werden müssen, etwa durch die Entwicklung einer besonderen Personenkonstellation wie zwischen Antigone und Kreon oder Puntila und Matti, hat Pollesch immer wieder demonstriert in seinen Inszenierungen. Er hat nachgewiesen, dass diese Konflikte sich allesamt und wie verrückt in uns selbst abspielen. Dass also jeder sterbliche Mensch und sogar der unsterbliche Gott sich in einem tragischen Selbstwiderspruch befinden, der gleichzeitig die Bedingung dafür ist, dass man überhaupt Erfahrungen machen und ein bewusstes Leben führen kann." Weitere Nachrufe schreiben der Schauspieler Fabian Hinrichs in der FAS und Matthias Heine in der Welt.

Marion Löhndorf berichtet in der NZZ vom Vorhaben des Noël Coward Theatres in London: man plante einige Vorführungen ausschließlich für People of Colour zugänglich zu machen, um einen sicheren Raum zu schaffen: "Die Ankündigung provozierte Widerspruch bis in die obersten Ränge der Politik. Premierminister Rishi Sunak verurteilte die Aktion als besorgniserregend. 'Der Premierminister ist ein großer Fan der Künste, und er glaubt, dass sie jedem offenstehen sollten', so hieß es aus Downing Street."

Weiteres: Unter dem Motto "Vorwärts zu den Anfängen - Zurück in die Zukunft", will Milo Rau bei den Wiener Festwochen "Volksprozesse" abhalten, bei denen österreichische Politiker, aber auch er selbst "angeklagt" und zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen angehört werden sollen, berichtet Sonja Zessnik in der taz. Mit diesen fiktiven Gerichtsverhandlungen bringt Rau "sein Konzept der inszenierten Schauprozesse in 'die Hauptstadt der Moderne', wie er Wien nennt." Rüdiger Schaper überlegt im Tagesspiegel, wie es nach dem Tod von René Pollesch an der Volksbühne weiter gehen könnte.
 
Besprochen werden Olivier Kellers Inszenierung von Kim de L'Horizons Stück "DANN MACH DOCH LIMONADE, BITCH. Wo ist die goldene Leiter?" im Schlachthaus Bern (nachtkritik), Jessica Sonja Cremers Inszenierung von Goethes "Iphigenie auf Tauris" am Theater Ulm (nachtkritik), Barbora Horáková Jolys Inszenierung von Hans Thomallas Oper "Dark Fall" am Nationaltheater Mannheim (FR), Jefta van Dinthers Choreografie "Remachine" im HAU in Berlin (tsp), Yana Ross' Adaption von "Sterben Lieben Kämpfen" von Karl Ove Knausgård am Berliner Ensemble (tsp).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.03.2024 - Bühne

Akıns Traum vom Osmanischen Reich. Foto: Tommy Hetzel.
Ein gelungener Abschied für den Intendanten Stefan Bachmann vom Schauspiel Köln, befindet Christine Dössel in der SZ angesichts des von Akin Emanuel Sipal extra für diesen Anlass verfassten Stückes "Akins Traum vom Osmanischen Reich." Ein ungewöhnliches, herausforderndes, aber lohnenswertes Theaterereignis, das "in einem fantastischen Galopp durch fast 600 Jahre Geschichte spurtet," so Dössel. "Den Durchblick behält man beim Who's who dieses rasanten historischen Abrisses tatsächlich nicht, wer kennt sich schon aus mit osmanischer Geschichte - aber genau darin liegt auch der Reiz dieses erfrischend anderen, erfreulich befremdlichen, wunderbar spielfreudigen, mit Völkern, Ländern und Sitten jonglierenden Abends. Als Abschiedsgeste ist dieses Stück (mit türkischen Übertiteln) eine Umarmung. Eine Umarmung nicht nur des migrantischen 'Veedels', in dem das Kölner Schauspiel seine Heimat gefunden hat - gleich um die Ecke ist die Keupstraße mit ihren türkischen Konditoreien, Gold- und Brautmodengeschäften -, sondern auch der ganzen Situation dieses Theaters in den vergangenen elf Jahren. Ausdruck auch seiner gelungenen Integration."

Die Bewegung #StoppNVFlatrate setzt sich für faire Arbeitsbedingungen am Theater ein, erklärt Peter Laudenbach in der SZ: "NV steht für Normalvertrag Bühne, das ist der Standardvertrag der künstlerisch Beschäftigten an den Theatern. Flatrate steht für das, was die drei Bühnengewerkschaften, die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA), der Bundesverband Schauspiel (BFFS) und die Vereinigung deutscher Opern- und Tanzensembles (VdO), nicht mehr akzeptieren wollen: einen Tarifvertrag, in dem die Arbeitszeit allein durch die gesetzlichen Arbeitsschutzbestimmungen limitiert ist - diese erlauben Wochenarbeitszeiten von 48 bis zu phasenweise 60 Stunden." Anna Schors ergänzt im VAN Magazin, was das für die Beschäftigten bedeutet: "'Theoretisch könnten die Darsteller dem Theater 24 Stunden zur Verfügung stehen', erklärt Hans-Werner Meyer vom Bundesverband Schauspiel gegenüber VAN. Die Proben, die in der Regel zwischen 10 und 14 sowie 18 und 22 Uhr stattfinden, richten sich nach einem Tagesplan, der oft erst am Vortag veröffentlicht wird, nach geltendem Recht ist es außerdem möglich, dass Beschäftigte elf aufeinanderfolgende Tage ohne freien Tag arbeiten."

Radikal auf etwas über eine Stunde heruntergebrochen findet Nachtkritiker Georg Kasch Elfriede Jelineks "Ulrike Maria Stuart" in der Inszenierung von Pinar Karabulut am Deutschen Theater Berlin vor. Die Geschichte verwebt die Biografien von Ulrike Meinhof und Gudrun Ennslin mit denen von Maria Stuart und Elisabeth I., die einen ringen um die Krone Englands, die anderen um die Vormachtstellung in der RAF. Mit der Verhaftung von Daniela Klette bekommt das RAF-Stück eine merkwürdige Aktualität, beteuert er: "In Zeiten, in denen die Linke einmal mehr zu zersplittern droht, kommt diese Botschaft mit Pınar Karabuluts Inszenierung gerade recht: Nehmt euch selbst nicht so wichtig und auch nicht eure Orthodoxie (die ja immer schnell im Dogmatismus endet), sondern steht ein für die Sache! Ob's hilft? Zumindest kann man sich an schönen Bildern freuen. Etwa wenn sich Maria Ulrike und Gudrun Elisabeth in Zeitlupe aufeinander zubewegen: die eine zerknirscht, sterbenspathosschwanger, aber dann doch vor allem am Nachruhm interessiert. Die andere bissig, ironisch, triumphierend - und in ihrer Konsumlust dem Kapitalismus längst auf den Leim gegangen."

Besprochen werden: "Der große Wind der Zeit" nach einem Roman von Joshua Sobol in der Inszenierung von Stefan Kimmig am Schauspiel Stuttgart (FAZ) und Mozarts "Idomeneo" in der Inszenierung von Sidi Larbi Cherkaoui am Theater Genf (Welt).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.02.2024 - Bühne

"Ich werde Dich immer lieben", schreibt Fabian Hinrichs, der zuletzt mit Rene Pollesch das Stück "ja nichts ist ok" für die Volksbühne erarbeitete, in einem sehr persönlichen Nachruf im Spiegel und in der nachtkritik an seinen engen Vertrauten. Vor allem aber rechnet er mit dessen Nachrufern ab: "Wenn ich manche dieser Echos, dieser Rufe lese, kann ich nicht anders, als an den Hass zu denken, den teilweise dieselben Leute, die jetzt pseudobetroffen in ihre Tastatur weinen, in den letzten zweieinhalb Jahren über ihn ausgegossen haben. Es lief nicht immer rund in der Zeit seiner Intendanz  - der Bruch der Pandemie, das mediale Verlangen nach bleischweren Antworten statt politischer Poetologie -, aber selbst dann, selbst dann gab es doch immer wieder Stücke, die eine große Kraft besaßen. Wo sonst bitte, wo bitte sonst hat man auch nur eines solcher Stücke überhaupt gefunden in Deutschland, Österreich, Schweiz? Eine solche künstlerische Freiheit im Geiste und im Tun? Dieser Hass ging ihm zu Herzen. Das könnt ihr wörtlich nehmen."

Weitere Artikel: Für die FAZ hat sich Irene Bazinger mit Viktor Bodos Inszenierung von Felicia Zellers an Gogol angelehntes Stück "Die gläserne Stadt" am Hamburger Schauspielhaus und Nino Haratischwilis Inszenierung "Penthiselea - Ein Requiem" im Deutschen Theater in Dresden gleich zwei Stücke angesehen, die sich im weitesten Sinne mit Korruption in der Oberschicht beschäftigen. Aber es ist vor allem Zelles "grandios verrückte", im Hamburger "Reiche-Leute-Gaunermilieu" angesiedelte Geschichte, die Bazinger einfach umhaut.

Besprochen werden Oliver Reeses Inszenierung von Marius von Mayenburgs Stück "Ellen Babic" am Berliner Ensemble ("schlicht und einfach gut gemachtes Theater", meint Jakob Hayner in der Welt), Torstein Aagaard-Nilsens Inszenierung von Henrik Ibsens Operneinakter "Gespenster" am Staatstheater Meiningen (FAZ) und Simone Geiers Inszenierung "Meine Hölle / Моє пекло" von Oksana Savchenko im Theater Heidelberg (taz).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.02.2024 - Bühne

Rene Pollesch bei einem Abend im Literaturforum im Brechthaus. Bild: Filmausschnitt

"Ja nichts ist okay" (titeln sowohl die FR als auch die SZ): Alles dreht sich auch heute (unser gestriges Resümee) in den heutigen Feuilletons um den unerwarteten Tod des am Montag verstorbenen René Pollesch. In der SZ erinnert ein ganzer Reigen von Freunden, Kollegen und Bewunderern an den Theatermacher. Zum Beispiel die Schauspielerin Birgit Minichmayr: "Ach. Du hast auf deine einmalige Weise dem Theater seine Fesseln gesprengt, den Spielern und Spielerinnen eine Freiheit, eine Mündigkeit zurückgegeben, hast mich immer in Mark und Bein erwischt und mich dabei so zärtlichst geküsst, wie nur du es konntest. Du warst immer so akut in allem, so Gegenwart, so da. Jetzt nicht mehr. Das ist kaum auszuhalten. Kaum zu ertragen. Ach."

Jürgen Kaube beschäftigt sich in der FAZ mit Polleschs Ästhetik einer abgründigen Komik: "Den komischen Eindruck, den diese von Pointen unterbrochenen Kommunikationsdesaster und Reflexionsabstürze machten, die er auf die Bühne brachte, begleitete mitunter der Vorbehalt, ob er selbst es überhaupt witzig meinte oder nicht vielmehr ganz ernst, ganz traurig. 'Wenn es wirklich um Gefühle ginge in diesen Körpern, dann würden wir uns mit den Gefühlsgeschichten nicht zufriedengeben.' Die endlose Suada, in der Phrasen über den Neoliberalismus nur zwei Sätze entfernt sind von solchen über Paarprobleme - 'Immer wenn es klingelt, ist es Lieferando und nicht du' -, die wiederum zur Bankenkrise hinführen oder zu angerissenen Gedanken über die Schauspielerei, entsprang einer Formentscheidung. Es gibt keine Handlung bei Pollesch, die Spieler verkörpern keine festen Rollen, sie haben keine Sprache, die Sprache hat sie."

Katrin Bettina Müller betont in der taz Polleschs Arbeit mit Schauspielern. Mit diesen "diskutierte er die Thesen, sie waren seine brothers and sisters in crime, seine Mitautoren, die mit dem eigenen Körper durchlebten, was allgemein schieflief. Sophie Rois, Kathrin Angerer, Caroline Peters, Martin Wuttke, Fabian Hinrichs entwickelten mit ihm die Texte auf den Proben. Und sie machten das in seiner Regie mit einer Virtuosität und einem Timing, das die Anstrengung des Publikums, den diskursiven Schlaufen zu folgen, immer mit Glamour, mit Bewunderung für die schauspielerische Leistung und Erheiterung verband. Erheiterung darüber, wie die Schauspieler die Klippen der Theorie in sprachlichen Slapstick verwandelten. So war René Pollesch zwar bekannt dafür, viele unausgesprochene Regeln des Theaters zu hinterfragen und damit überhaupt erst sichtbar zu machen. Aber er verzichtete eben nicht darauf, die Schauspieler leuchten zu lassen. Dafür wurde er geliebt." Auch Milo Rau erinnert sich in der taz an seinen Weggefährten.

Weitere Nachrufe in der FR von Ulrich Seidler ("Man möchte so 'Scheiße!' schreien können wie die Figuren in seinen frühen Stücken."), auf Zeit Online von Peter Kümmel, auf cargo von Matthias Dell ("Ich kenne drei Menschen, die in Kill your Darlings waren und, bei allem Unterhaltenwordensein, danach auf je verschiedene Weise gedacht haben, dass sie ihr Leben oder zumindest etwas daran ändern müssen: 'Das reicht doch nicht, da fehlt etwas.'"), in der NZZ von Bernd Noack, im Tagesspiegel von Rüdiger Schaper, in der Welt von Jakob Hayner, auf monopol von Tobi Müller, auf Spiegel Online von Wolfgang Höbel und von der nachtkritik-Redaktion. Auf Zeit Online lassen mehrere Autoren Pollesch-Lieblingsabende Revue passieren.

Ein weiterer Nachruf: In der taz gedenkt Sabine Seifert ihres ehemaligen Kollegen und Opernkritikers Niklaus Hablützel. Robert Matthies unterhält sich für die taz mit der Regisseurin Marga Koop über ihre Inszenierung von Ben Yishais Stück "Liebe/ Eine argumentative Übung", das im Oldenburger Theater Wrede + zu sehen ist. Michael Wurmitzer berichtet im Standard über Machtmissbrauchsvorwürfe gegen die Theaterregisseure Paulus Manker und den Fernsehregisseur Julian Pölsler.

Besprochen werden Oliver Reeses Inszenerung von Marius Mayenburgs "Elen Babic" am Berliner Ensemble (FAZ), Armin Petras' Inszenierung von Serhij Zhadans Roman "Vorošilovhrad" am Theater Bremen (taz Nord), Valerie Voigts "So forsch, so furchtlos" im Wiener Theater Drachengasse (Standard), Sara Ostertags "Tom auf dem Lande" am Linzer Landestheater (Standard), die Tanzperformance "Seasons in Dance" im NTM Tanzhaus in Mannheim (FR) und "Beta" an der Deutschen Oper Berlin, ein Versuch in investigativem Musiktheater (SZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.02.2024 - Bühne

Die Feuilletons trauern um René Pollesch: Der Autor, Regisseur und Intendant ist gestern morgen völlig unerwartet verstorben: Ein "typischer Indentant war er nie", schreibt Simon Strauss in der FAZ: "Pollesch war als Theaterautor in erster Linie ein fulminanter Abbrecher von Dialogen und Sinnzusammenhängen. Kein Mann der Ausdeutungen und Schlusserklärungen. Viel eher liebte er das boulevardeske Ungefähr, das Überblenden von Gesellschaftsspiel und Gesellschaftstheorie." Ulrich Seidler betont in der Berliner Zeitung, die Schwierigkeiten, denen sich Pollesch immer wieder ausgesetzt sah: "Wenn man ihn traf, ob mitten im Flow oder im tiefsten Schlamassel, lächelte er einen an und wollte wissen, was man zu sagen hatte. Er schien wirklich interessiert an dem, was andere dachten und sahen und vielleicht zu wissen glaubten. Er ging davon aus, dass alle so klug und so wohlgesonnen waren wie er. Dabei hat er in seiner Laufbahn mit heftigsten Widerständen und mit Zweifeln kämpfen müssen. Schon als er 2001 an der Volksbühne anfing, traf er bei der Belegschaft und bei dem eher desinteressierten Intendanten des Hauses auf eine Wand der gepflegten Vorurteile. Wen hat denn die Dramaturgie da wieder angeschleppt? Einen aus dem Westen und aus Gießen zumal, der Kaderschmiede der selbstbezogenen und abgehobenen Postdramatik."

In der SZ erinnert Peter Laudenbach an Polleschs Fähigkeit, Unterhaltung und Gesellschaftskritik zu verbinden: "René Pollesch hat in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten mit verblüffender Leichtigkeit und innerer Unabhängigkeit vorgeführt, dass Theater gleichzeitig extrem unterhaltsam und auf der Höhe avancierter soziologischer Debatten sein kann. Das war schauspielerisch virtuos, umwerfend lässig, fast immer überraschend und nie langweilig, schon weil in Polleschs Stücken pro Minute mehr interessante Gedanken aufblitzten als woanders in der ganzen Spielzeit: Kapitalismuskritik mit Spaß und Entertainment-Raffinesse."

Mehr bei Nachtkritik, wo wir auch ein Video finden, in dem Pollesch über sein Theater spricht:



Das Märchen hat es schwer auf deutschen Bühnen, seufzt FAZ-Kritiker Jan Brachmann: "Aus Dvořáks Nixe Rusalka wird verlässlich eine Nutte gemacht, Hänsel und Gretel werden entweder im Kinderheim missbraucht oder durch den Kapitalismus zum hemmungslosen Konsum auf Kosten gesunder Wälder verführt." Um so schöner, dass Alexander Zemlinskys Oper "Der Traumgörge" in der Inszenierung von Tilmann Köhler an der Oper Frankfurt ein Märchen bleiben darf, wenn auch eines für Erwachsene, freut sich der Kritiker: "Köhlers Inszenierung kommt das sagenhaft schöne Licht von Jan Hartmann zur Hilfe. Die Bühne von Karoly Risz ... wird von Hartmann immer neu ausgeleuchtet: warm und weit in den Momenten des Friedens, grell und eng bei drohender Gewalt, mit flimmernd tanzenden Flecken an der Decke beim Lauschen auf das Rauschen des Baches, dessen spiegelndes Wasser die Flöten des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters unter der Leitung von Markus Poschner so verlockend und unheimlich zugleich malen wie in den späten Märchen von Antonín Dvořák. Gleich im ersten Akt, wenn Görge seiner Grete wider besseres Wissen doch noch einmal ein Märchen erzählt, wirft das Licht beider Schattenrisse groß an die Wand: eine Hommage an die Scherenschnitt-Märchenfilme von Lotte Reiniger. Die ganze Inszenierung ist ein Lichtgedicht."

AJ Glueckert (Görge) und Magdalena Hinterdobler (Grete). Foto: Barbara Aumüller

Auch Judith von Sternburg ist in der FR gänzlich überzeugt von dieser "zarten, dezenten" Inszenierung. Christoph Becher hebt in der nmz vor allem die Musik hervor: "die nach-wagnerische Harmonik irrlichtert, süße Gesänge schlagen blitzschnell in gezackte Linien um, ein gutes Dutzend Leitmotive wird in zahllosen Varianten immer wieder neu beleuchtet, eine schöner als die andere."

Weiteres: Torben Ibs berichtet in der taz von der 16. Tanzplattform in Freiburg, die auf Diversität setzte.

Besprochen werden außerdem Felicia Zellers Stück "Die gläserne Stadt" am Hamburger Schauspielhaus (SZ), Oliver Reeses Inszenierung von Marius von Mayenburgs Stück "Ellen Babic" am Berliner Ensemble (SZ), Sandra Cerviks Inszenierung von Yasmina Rezas Stück "James Brown trug Lockenwickler" am St. Pauli Theater in Hamburg (taz) und Stefan Bachmanns Inszenierung von Akin Emanuel Şipals "Traum vom Osmanischen Reich" am Schauspiel Köln (FAZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.02.2024 - Bühne

Szene aus "Der große Wind der Zeit" am Schauspiel Stuttgart. Foto: Katrin Ribbe.

Kann man seine Feinde lieben, fragt sich Nachtkritiker Steffen Becker während der Aufführung "Der große Wind der Zeit" am Schauspiel Stuttgart. Der Mehrgenerationenroman von Joshua Sobol über die Geschichte Israel und Palästinas, hier inszeniert von Stephan Kimmig, dreht sich um die Verhörspezialistin Libby, die nach ihrem Ausstieg aus der Armee das Tagebuch ihrer Großmutter findet und in deren Leben eintaucht. Dabei durchmisst der Roman einhundert Jahre Nahostkonflikt und Hoffnung auf eine mögliche Lösung: "Regisseur Stephan Kimmig konzentriert seine Fassung stark auf den inneren Dialog Libbys mit Eva, durch die Zeit und die von Sobol aufgefächerte Geschichte Israels hindurch. Die Bühne von Katja Haß bietet dafür den perfekten Rahmen, egal ob eine Szene 1933 in Berlin oder 2001 im Kibbuz spielt: Ein drehbarer Rohbau aus unverputztem Beton symbolisiert die rissige Vorläufigkeit der Existenzen als Kontinuum über alle Jahrzehnte hinweg." Leider verpasst die Inszenierung die Chance auf wirklich "zeitgenössisches Theater", bemerkt Becker, auf eine Aktualisierung der Handlung wird verzichtet, der 7. Oktober spielt hier keine Rolle - da wollte man den Konflikt wohl lieber vermeiden, meint Becker.

Auch FR-Kritikerin Judith von Sternburg ist vor allem betroffen, dass der Ruf nach Verständigung, der hier laut wird, in der gegenwärtigen Situation so ungehört verhallen muss: "Markerschütternd ist dieser Abend tatsächlich allein vor dem Hintergrund einer Realität, die den schlimmsten Befürchtungen im Text recht gibt. Und die jene dadurch nicht dümmer gewordene Utopie, dass man miteinander ebenso gut zurechtkommen könnte, auf eine sehr ferne Zukunft verschoben hat." In der taz bespricht Sabine Leucht das Stück.

Weiteres: Auf Welt Online porträtiert Jakob Hayner die Schauspielerin Lina Beckmann, die in Karin Beiers "Anthropolis"-Projekt am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zu sehen ist.

Besprochen werden außerdem Julien Chavaz' Inszenierung von seinem und Bastian Lomschés Stück "Hojotoho! Hojotoho! Heiaha! (sehr, sehr) frei nach Richard Wagner!" am Theater Magdeburg (nachtkritik), Andreas Merz-Raykovs Inszenierung von Natalka Vorozhbyts Stück "Non-existent" am Theater Essen (nachtkritik), Robert Borgmanns musiktheatrale Inszenierung von "Athena" nach Aischylos' "Eumeniden" am Residenztheater in München (nachtkritik), Oliver Reeses Inszenierung von Marius von Mayenburgs Stück "Ellen Babic" am Berliner Ensemble (nachtkritik, tsp, BlZ), Armin Petras Adaption von Serhij Zhadans Roman "Die Erfindung des Jazz im Donbass" (nachtkritik), die Performance "Space Dudes" vom Tanzkollektiv Henrike Iglesias in den Sophiensälen in Berlin (taz), Nino Haratischwilis Inszenierung von "Penthesilea" am Deutschen Theater Berlin (taz, SZ, BlZ), Ulrich Rasches Inszenierung von Goethes "Iphigenie auf Tauris" am Akademietheater in Wien (FAZ, SZ), Ansgar Haags Inszenierung von Torstein Aagaard-Nilsen Oper "Gespenster" am Staatstheater Meiningen (nmz), Elisabeth Papes Inszenierung Franz Lehárs Operette "Lisas Land des Lächelns" an der Oper Neukölln in Berlin (nmz), Ligia Lewis Choreographie "A Plot / A Scandal" im Rahmen der Tanzplattform Deutschland 2024 (FAZ) und Constantin Hochkeppels Tanzstück "In decent times" am Stadttheater Gießen (FR).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.02.2024 - Bühne

Dem Krieg entkommt man auch im Theater nicht, erklärt im Interview mit dem Standard die ukrainische Dramatikerin Natalia Vorozhbyt: "Ich schreibe seit zehn Jahren über den Krieg, und da hat sich mein Zugang geändert. Am Anfang ging ich das dokumentarisch an. Bis 2022 war ich Erforscherin der Leben von anderen, die unter dem Krieg litten. Dann wurde ich selbst zum Teil des Stoffes, weil ich mich mit meinem Kind in einem Bunker wiederfand. Ich musste fliehen und wusste nicht, wie es weitergeht. Nach dem Beginn des Krieges 2014 habe ich viel über die Orte des militärischen Geschehens geschrieben. Weil ich jetzt viel im Ausland bin und reise, konzentriere ich mich mehr auf Beziehungen: Wie sind die Beziehungen zwischen Ukrainerinnen, die das Land verlassen mussten, und ihren Männern an der Front?"

Szene aus "Blutstück" am Schauspielhaus Zürich. Foto: Diana Pfammatter


Am Zürcher Schauspielhaus hat Leonie Böhm Kim de L'Horizons "Blutbuch" als "Blutstück" auf die Bühne gebracht - oder eher, einen "Meta-Abend" um das Stück gebastelt, wie Egbert Tholl in der SZ schreibt. "Beim Text handelt es sich nicht direkt um eine Bühnenfassung des Romans", erklärt auch Ueli Bernays in der NZZ. "Man habe sich von dessen Materialien einfach inspirieren lassen, erklärt Kim de l'Horizon dem Publikum. 'Blutstück' nimmt sich zwar tatsächlich wie ein lockerer, etwas fahriger Pastiche des 'Blutbuchs' aus. Aber es besteht einerseits aus vielen neuen Passagen. Andrerseits bleibt Raum für die Improvisation." So ganz funktioniert das weder für Tholl noch für nachtkritiker Tobias Gerosa oder für Bernays: "Die existenziellen Themen werden bloß angetippt und verschwinden dann zu oft unter Klamauk und Comedy", meint Bernays. Doch immerhin bleibt ihm L'Horizon "als faszinierende Persönlichkeit in Erinnerung. Mit Grazie und Sportlichkeit ebenso gesegnet wie mit Selbstbewusstsein und Intelligenz, verfügt sie durchaus über performative Präsenz."

Besprochen werden außerdem Lisa Wentz' Stück "Adern" am Stadttheater Klagenfurt (Standard), und Frank Castorfs Inszenierung von Bernhards "Heldenplatz" in Wien ("großes Theater, aber auch alberne Pimmelparaden oder geschmacklose Gaskammerszenen", erlebte Welt-Kritiker Jacob Hayner: "Kein Skandal, nirgends.")

Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.02.2024 - Bühne


Szene aus "Idomeneo." Bild: Theater Genf.

Nicht recht überzeugt ist Helmut Mauró in der SZ von Sidi Larbi Cherkaouis Inszenierung der Mozart-Oper "Idomeneo" am Theater Genf, ihm zufolge geht die Stringenz und damit die Überzeugungskraft der Aufführung streckenweise verloren, zu viele Handlungsstränge konkurrieren miteinander: "Die Regie muss sich entscheiden, aber auch der Dirigent sollte den Ehrgeiz haben, sich auf eine Erzählung zu konzentrieren und diese musikalisch profiliert zu gestalten. Dabei muss man sich natürlich zwischen Regie und musikalischer Leitung einig sein. Aber so weit geht man in Genf nicht." Trotz guter Sängerinnen überzeugt das ganze Unternehmen nicht wirklich: "Eher selten blitzt ein intimer Mozart-Klang auf, der diese Oper eigentlich tragen sollte, und noch seltener wird man durch spannende Klangerzählung unmittelbar ins Geschehen gezogen. Die Musik scheint, bis auf die großen Arien, oftmals gar nur Beiwerk zu sein oder Hintergrund für Cherkaouis choreografische Ambitionen. Die sind quantitativ beeindruckend, die ganze Oper ist ein Bewegungsrausch, aber stellenweise kann einem die alles und jeden begleitende Gymnastik auch ein wenig auf die Nerven gehen."

Weiteres: Judith von Sternburg interviewt für die FR den Theater- und Opernregisseur Tilmann Köhler. Die Grande Dame des Tanztheaters Nele Hertling wird 90, FAZ, SZ und Berliner Zeitung gratulieren. Jan Philipp Gloger wird in der Saison 2025/26 neuer Direktor des Wiener Volkstheaters, meldet der Standard. Die FAZ macht auf das Festival "Starke Stücke" für ein junges Publikum aufmerksam.