Efeu - Die Kulturrundschau

Modegötter und eine leibhaftige Königin

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.01.2024. Die Doppelspitze der Berlinale hat ihren letzten Festivaljahrgang vorgestellt - und der kann sich sehen lassen, findet der Filmdienst. Der Tagesspiegel schaut zurück auf die "glücklose Amtszeit" der Berlinale-Leitung. Die Welt feiert mit Herbert Fritschs Inszenierung von "Das Portal" in Stuttgart den gehobenen Trash. Schade, dass die Disneyserie über Modedesigner Cristóbal Balenciaga so erdenschwer geraten ist, findet der Tagesanzeiger: Seine Kleider schwebten doch!
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.01.2024 finden Sie hier

Film

Gestern hat die Berlinale ihr Programm präsentiert. Hier der Youtube-Stream der Pressekonferenz in voller Länge, Andreas Kilb (FAZ) und Christiane Peitz (Tsp) fassen aber auch die wichtigsten Informationen bündig zusammen. Felicitas Kleiner räumt im Filmdienst gerne ein, dass sie anfangs skeptisch war, ob dieser Abschlussjahrgang für das Duo Rissenbeek/Chatrian nicht etwas sehr in der Luft hängen werde - doch am Ende spricht das Programm für sich: Filme von unter anderem Bruno Dumont, Olivier Assayas, Matthias Glasner, Andreas Dresen, Viktor Kossakowski sowie Severin Fiala und Veronika Franz locken ein informiertes Arthauspublikum nach Berlin. "Stolz können die Programm-Macher nicht zuletzt darauf sein, dass es ihnen gelungen ist, Abderrahmane Sissako, den Grand Seigneur des afrikanischen Kinos, mit seinem jüngsten Film für den Wettbewerb zu gewinnen."

Andreas Busche hält im Tagesspiegel schon mal Rückschau auf die nur fünf Jahrgänge währende Ära der Festival-Doppelspitze: "Zwar hat Chatrian durchaus gezeigt, wie man ein Filmfestival von der Größenordnung Berlinale kuratorisch gestalten kann. Er hat aber auch kein Mittel gegen die Unwägbarkeiten des globalen Kinomarktes und die Konkurrenz Cannes und Venedig gefunden. Das sind Hoffnungen, die sich künftig auf die Nachfolgerin Tricia Tuttle fokussieren. ... Wobei sich das Berliner Publikum, das zeigt schon die Zahl der verkauften Tickets im vergangenen Jahr, durchaus bereit gezeigt hat, der cinephilen Neugier des Festivalchefs zu folgen. ... Dass Chatrian und Rissenbeek in ihrem letzten Jahr eine Art Mangelwirtschaft verwalten müssen (ohne Not übrigens, wie sich nach der kurzfristigen Budgetaufstockung durch Roth heraugestellt hat), ist leider bezeichnend für ihre glücklose Amtszeit, die von globalen Krisen geprägt war." Außerdem berichten Tim Caspar Boehme (taz) und Thomas Hummitsch (Intellectures) von der Programmpräsentation.

Außerdem: Andreas Scheiner hat für die NZZ mit dem Schauspieler Paul Giamatti geplaudert, der aktuell als Scheusal in "The Holdovers" zu sehen ist. Die Agenturen melden, dass Hollywood-Regisseur Norman Jewison im Alter von 97 Jahren gestorben ist. Besprochen werden Roman Polanskis "The Palace" (Welt, unsere Kritik) und die Paramount-Serie "The Curse" mit Emma Stone (Presse).
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Bühne

Szene aus "Das Portal" am Schauspiel Stuttgart. Foto: Björn Klein.

Dieser Feier des "gehobenen Trashs" wohnt Welt-Kritiker Jacob Hayner gerne bei: Herbert Fritsch hat "Das Portal" von Nis-Momme Stockmann am Schauspiel Stuttgart inszeniert und den Kritiker mit seiner Persiflage auf den Theaterbetrieb nicht enttäuscht. Im Zentrum steht ein Dramaturg, der sich als "tragischer Held" in eine Welt von ziemlich durchgeknallten Theaterleuten verirrt hat, erzählt der Kritiker, dabei bleibt die Inszenierung bei allem Spott "ihrem Objekt (dem Theater) in Zuneigung verbunden", freut sich Hayner: "Die Anzüge sind nur aufgedruckt, mehr Schein als Sein. Die Künstlerin Charlie Casanova, eine Figurine zwischen Commedia dell'Arte und Oskar Schlemmer, gibt am Flügel den Takt vor. Die Töne stolpern und purzeln herum wie die Schauspieler, die sich zu immer neuen Figuren und Bildern ordnen. Ein buntes Durcheinander, ganz ohne Video oder weiteres Bling-Bling. Dieses Theater will weder die Welt abbilden noch entschlüsseln. Es ist eine Feier des Spielerischen. Was Fritsch an den Bühnenmitteln spart, lässt er seine Truppe ins Körperliche legen. Alles ist übertrieben und exaltiert, die Gesichtszüge und Gliedmaßen sind außer Kontrolle, die Stimme flattert durch die Tonhöhen."

Auch FAZ-Kritikerin Grete Götze hat einen heillos verrückten, aber sehr unterhaltsamen Abend erlebt: "Der Abend wimmelt von Szenen, die man sich immer wieder ansehen könnte, weil Fritsch wie gewohnt aus den Schauspielern maximale Spiellust herauskitzelt und szenisch furchtlos mit den vielen abenteuerlichen Vorgaben des Textes umgeht - wenn im Text etwa Gewitterböen das Theatergebäude auseinanderreißen wollen, rennen die Schauspieler bei Fritsch mit scheppernden Blechrahmen über die Bühne." Björn Hayer stimmt in der taz in das Lob ein.

Weiteres: Christine Dössel erinnert in der SZ daran, dass Sandra Hüller, die gerade als Filmschauspielerin enorm erfolgreich ist, auch schon als Theaterschauspielerin herausragend war.

Besprochen werden Emel Aydoğdus Adaption von Gün Tanks Roman "Die Optimistinnen" am Gorki Theater in Berlin (taz), Seline Seidlers Inszenierung von Suzie Millers Monodrama "Prima Facie" am Staatstheater Hannover (taz), Claudia Bauers Inszenierung von "Der Würgeengel" am Schauspiel Frankfurt (SZ), Romeo Castellucis Inszenierung von Wagners "Walküre" in Brüssel (SZ, nmz), der Ballettabend "Time Keepers" am Opernhaus Zürich, unter anderem mit "Les noces" von Igor Strawinsky, choreografiert von Bronislawa Nijinska (NZZ), Nadja Loschkys Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs Oper "Die Passagierin" am Staatstheater Mainz (FR), Janina Velhorns Inszenierung von Nina Segals Zweierbeziehungsstück "Nachts (bevor die Sonne aufgeht)" am Schauspiel Frankfurt (FR), Tomas Krupas Inszenierung Pat To Yans Stück "Neometropolis" am Stadttheater Gießen (FR).
Archiv: Bühne

Literatur

Die elfte Lieferung zum siebten Band (von irgendwann einmal zehn) des Goethe-Wörterbuchs ist erschienen und für FAZ-Kritiker Frieder von Ammon (und, wie er unterstreicht: "für alle an der deutschen Sprache, ja an Sprache überhaupt Interessierten") ist es ein einziges Fest, sich durch die Lemmata zu schmökern. Unter anderem erfährt der Leser, was es mit in eher niederen Bereichen des Alltags angesiedelten Verben wie "schwummeln", "schwuppen" und "schwippen" auf sich hat. "In ein anderes, gediegeneres Register gehört 'schwanerzeugt': Dieses Wort findet sich in 'Faust II' und ist dort auf Helena gemünzt, die dem griechischen Mythos nach aus der Verbindung von Leda und dem als Schwan in Erscheinung getretenen Zeus hervorgegangen ist. Insofern kann sie von dem Chor der gefangenen Trojanerinnen als 'uns're Schwanerzeugte' angesungen werden. Abgesehen von dem Wohlklang dieses Wortes, der vor allem durch seine prägnante rhythmische Gestalt hervorgerufen wird, die es außerdem für die Verwendung im Vers prädestiniert, ist das Besondere an ihm, dass es wirkt wie die Übersetzung eines homerischen Epithetons. In Wahrheit ist es aber eine Wortbildung Goethes, vielleicht sogar eine Neuschöpfung von ihm, die beweist, dass er, wenn er nur wollte, dichten konnte wie Homer."

Außerdem: Edo Reents führt online bei der FAZ durchs Dickicht der Auseinandersetzungen ums Buddenbrookhaus in Lübeck, bei dem sich Denkmalschutz und Thomas-Mannianer nicht eins werden, derweil der Moder durchs Gemäuer zieht. Besprochen werden unter anderem der letzte Band aus Riad Sattouf Comicreihe "Der Araber von morgen" (Tsp), László Krasznahorkais Erzählband "Im Wahn der Anderen" (NZZ), Susann Krellers "Salzruh" (FAZ) und Nathan Hills "Wellness" (SZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Design

Bestimmt jede Szene: Balenciaga (Disney+)

Eigentlich ist die Idee ja ganz hervorragend, über den legendären Modeschöpfer Cristóbal Balenciaga eine Miniserie (zu sehen auf Disney+) zu produzieren, findet Tanja Rest im Tagesanzeiger. Schließlich stecke in Balenciagas Biografie "alles drin, Glamour und Zeitgeschichte, Eskapismus und Abgründe, Modegötter, eine leibhaftige Königin und die herrlichsten, kostbarsten Roben einer ganzen Ära. Nicht zu vergessen: Paris, in einer Zeit, als es dem eigenen Klischee am nächsten kam, ganz in tänzelnder Bewegung und flirrend vor Verheißung, wie von sich selbst beschwipst." Doch leider "scheitert die Serie, schwer seufzend ergibt sie sich der Megalomanie ihres Protagonisten. Balenciaga ist als Allmächtiger in jeder Szene, und um ihn herum sind lediglich Figuren, die Talking Heads, Coco & Co. eben. ... Man wird als Zuschauer in diese Serie hineingeschnürt wie in ein Reifrock-Korsett. Was ein Jammer ist, wenn man an Balenciagas Kleider denkt. Denn so kompliziert sie waren - sie atmeten, sie schwebten."
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Kunst

Henri Toulouse-Lautrec: At the Circus: The Encore, 1899
Black and coloured chalks on paper. 35.5 x 25 cm. Collection of David Lachenmann

FAZ-Kritiker Kevin Neuroth ist verblüfft: Die Werke der großen französischen Impressionisten kennt er, aber die Royal Academy of Arts in London schafft es mit der Ausstellung "Impressionists on Paper" nochmal einen ganz neuen Blick auf "Degas bis Toulouse" zu werfen, in dem sie vor allem die Skizzen der Künstler zeigt. Fasziniert schaut der Kritiker in dieser Schau dem Impressionismus "beim Werden zu": "Der letzte Teil der Schau widmet sich denn auch einigen jener Künstler der Neunzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts, die in ihren Zeichnungen die Ideen des Impressionismus aufgegriffen und weiterentwickelt haben. Dazu gehört Henri de Toulouse-Lautrec, der in den Varietétheatern, Bordellen und Cafés des Montmartre die Inspiration für seine Werke fand. Eine meisterhafte Zeichnung von ihm aus dem Jahr 1899 zeigt eine grotesk wirkende Zirkusprobe, in der Abgründigkeit und Unterhaltung zusammenfließen. Ebenso sensationell sind die traumwandlerischen Arbeiten von Odilon Redon, der wie Monet eine Faszination für gotische Kathedralen hatte. Auf einer seiner Zeichnungen sticht zunächst ein blau-golden leuchtendes Kirchenfenster aus einer düsteren Szenerie hervor. Je näher man herantritt, desto intensiver werden jedoch die Konturen der umgebenden Dunkelheit, bis die Verwitterung der opulenten, mit dunkelgrau-schwarzer Kohle gezeichneten Säulen und Fensterrahmen geradezu greifbar scheint."

Besprochen wird die Ausstellung "Meredith Monk. Calling" im Haus der Kunst München (taz).
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Musik

In der taz berichtet Tim Caspar Boehme vom Ultraschall Festival in Berlin. Beim Eröffnungskonzert, der deutschen Erstaufführung von Alexandra Filonenkos Komposition "Memory Code" durch das Deutsche Symphonie-Orchester unter Lin Liao, waren auch Teile eines NS-Propagandalieds zu hören, allerdings nur "in fragmentierter Form und als Teil eines elektronischen Zuspiels. ... Über weite Strecken komponiert Filonenko dabei so heftig ineinander verschlungene rhythmische Figuren der einzelnen Orchestergruppen, dass man zum Teil kaum unterscheiden konnte, was gerade auf der Bühne gespielt wurde und was als Konserve hinzukam. Ausgenommen das Marschlied, mit dem Filonenko erkennen ließ, dass zu diesem 'Gedächtniscode' auch die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs gehört, dessen Spuren in Berlin noch gegenwärtig sind. Und selbst wenn man in dieses Stimmendickicht ansonsten kaum hineinkam, sich horchend mehr darum herumbewegen musste, gab es stets neue Brocken kompakten Klangs, die einen bereitwillig diesem mahlenden Fluss folgen ließen." Hier lässt sich das Konzert nachhören.

Außerdem: Lotte Thaler resümiert in der FAZ den Brahms-Schwerpunkt des Heidelberger Streichquartettfests. Der Singer-Songwriter Tom Odell wünscht sich im FR-Interview mehr Mitgefühl in der Welt. Besprochen werden zwei Ausstellungen in der Zürcher Photobastei zur Frühgeschichte des Techno (NZZ), das neue Album von Green Day (Presse) und das neue Album von Sarah Jarosz (Welt).

Archiv: Musik