Efeu - Die Kulturrundschau

Blasphemisch und schamgrenzenbefreit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.01.2024. Die Filmkritiker lassen sich von Catherine Breillats jungem Faun in ein Reich des Begehrens führen. Ist Elsa von Freytag-Loringhoven, die mit Vogelkäfig auf dem Kopf und Warnleuchten auf der Hüfte die Bourgeoisie veralberte, die eigentliche Urheberin von Duchamps Fountain, fragt die Zeit. Die taz erinnert sich mit Theu Boermans an die ermordeten jüdischen KünstlerInnen der Wiener Volksoper. Die NZZ versteht dank Juli Zeh und Michel Houellebecq die Proteste der Bauern besser. Außerdem testet sie in Peter Haimerls Waben das Wohnen der Zukunft.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.01.2024 finden Sie hier

Film

Der Rest der Welt als Störsignal: "Im letzten Sommer" von Catherine Breillat

Eine Anwältin hat eine Affäre mit ihrem 17-jährigen Stiefsohn - willkommen in "Im letzten Sommer", dem neuen Film von Catherine Breillat, die auf abgründige Liebesgeschichten spezialisiert ist. SZ-Kritiker Philipp Stadelmaier fühlt sich von diesem Film bestrickend angekantet: Er ist "teilweise so kühl und spröde, dass der Film sich kaum darum schert, irgendwem zu gefallen. Trotzdem oder genau deswegen, verfällt man ihm gnadenlos." Zumal die Sexszenen "außergewöhnlich sind. Wir sehen nicht das übliche Gebalge und Gestöhne, sondern durch die Körper hindurch. Ein ekstatisch durchgestreckter Hals wird zur Brücke in ein Reich des Begehrens." Auch Bert Rebhandl vom Standard ist sehr angetan: "Was ist Wahrheit, wer hat die Macht, seine Version durchzusetzen? All das spielt 'L'été dernier' bis zu einem angemessen offenen Ende virtuos durch." FR-Kritiker Daniel Kothenschulte winkt hingegen ab: "Halbherzig bleibt die Sache schon".

Breillats "Filme zeigen genug Welt, um uns einen Abgleich mit unserer eigenen Lebenswelt zu erlauben - aber nicht mehr", schreibt Lukas Foerster im Perlentaucher. "Sie betten den Sex in den Fluss des Alltags ein, in diesem Fall in die Routinen einer ökonomisch saturierten Patchworkfamilie", doch "anders als viele andere in einem konventionelleren Sinn freizügige französische Alltagsdramen ordnen sie ihn diesem Fluss nicht unter. Schon mit Théos erstem Auftritt, wenn er faunartig, mit nacktem Oberkörper an einem Türrahmen lehnt, ist es um Anne geschehen. Fortan gibt es keinen Fluss des Alltags mehr, nur noch eine Kaskade der Blicke und Berührungen, die den Rest der Welt zum bloßen Störsignal degradieren. Breillat weigert sich, das Sexuelle auf einen bloßen Bestandteil der sozialen Realität neben anderen zurecht zu schrumpfen. Auch als gebrochenes bleibt das Tabu in ihren Filmen in gewisser Weise in Kraft, es insistiert als ein obsessiver Rest, der sich den Trägheitskräften, dem Drift in Richtung Normalisierung widersetzt."

Im Filmdienst-Gespräch mit Michael Ranze erklärt Breillat das Programm ihrer Filmografie: An der Abschaffung von Tabus sei ihr nicht gelegen, sondern sie zeige "Tabuüberschreitungen, damit man sie sehen kann, um feststellen zu können, warum sie verboten wurden, ob es nötig war, sie zu verbieten. Ich gehe auch immer von der Überzeugung aus: Um sich selbst erkennen zu können, muss man sich wiedererkennen können, das heißt, man muss in seiner Ganzheit dargestellt und erfasst werden. Im Film wird alles, was mit Sexualität zu tun hat, quasi an den Pornofilm relegiert. Dort soll sie aufgehoben sein. Im Spielfilm spielt die Sexualität des Menschen keine Rolle. Im Porno haben wir Sex ohne Seele, Haut ohne Seele, Geschlechtsteile ohne Seele. Im Spielfilm fehlt dieser Aspekt der menschlichen Identität, die zu uns gehört. Es ist eine Verpflichtung, diese beiden Bereiche wieder zu versöhnen und den Menschen in seiner Komplexität, in jeglichem Aspekt der Sexualität, zu erfassen und darzustellen."

Besprochen werden Kitty Greens Thriller "The Royal Hotel" (Perlentaucher, FAZ, taz), Chris Kraus' "15 Jahre" mit Hannah Herzsprung (FR), C.J. Obasis nigerianischer Thriller "Mami Wata" (Tsp, FD, mehr dazu bereits hier), Thomas Cailleys Arthouse-Fantasyfilm "Animalia" (Standard), der Actionfilm "The Beekeeper" mit Jason Statham (taz) und die Arte-Doku "Kim Kardashian Theory" (taz), Außerdem verrät die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht. Der Filmdienst gibt hier einen Überblick über alle Kinostarts mit allen Filmkritiken.
Archiv: Film

Kunst

Bild:  Marcel Duchamp: "Fountain". Foto: Alfred Stieglitz. Quelle: Wikipedia

Dafür, dass Marcel Duchamps berühmtes Pissoir, die längst verschollene Fountain, nicht von ihm stammt, wie es unter anderem Julian Spaldings und Glyn Thompsons Buch "Art Exposed" nahelegt, kann Hanno Rauterberg in der Zeit nur wenige Indizien finden. Interessant ist aber dennoch, wer es angeblich geschaffen haben soll. Es verdanke sich "einer deutschen Avantgardistin, Tochter eines Maurermeisters aus Swinemünde, geboren 1874. Als Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven machte sie sich in New York einen Namen, mit Vogelkäfig auf dem Kopf und Warnleuchten auf der Hüfte trat sie an, sämtliche Kunstideen der Bourgeoisie zu veralbern. Sie liebte den derben Wortwitz (nannte Duchamp Dushit), drehte mit Man Ray den Film 'The Baroness Shaves Her Pubic Hair', war generell für banale und billige Dinge zu haben, selbst ein altes Abflussrohr aus Eisen kam ihr gerade recht, gemeinsam mit Morton Schamberg ließ sie es auf eine Holzschiene schrauben und nannte es Gott. Spätestens damit hatte sie jenen Furor an den Tag gelegt - blasphemisch und schamgrenzenbefreit -, den es braucht, um mit einem Pinkelbecken eine große Kunstschau zu erobern. Doch anders als Duchamp wurde Elsa von Freytag-Loringhoven von der Kunstgeschichte vergessen. Sie starb 1927 in Paris an einer Gasvergiftung, hoffnungslos verarmt."

Im Oktober 2023 eröffnete in Barcelona das Museu de l'Art Prohibit, das Kunst zeigt, die aus verschiedenen Gründen verboten wurde. Überzeugt ist Isabella Caldart im Monopol Magazin allerdings nicht, fehlt es ihr doch an Konzept, Sorgfalt und der Einordnung, wie man "verboten" überhaupt definieren will. "Was also macht 'verbotene' Kunst aus? Politische Werke, die sich gegen unterdrückerische Obrigkeiten wenden und deswegen zensiert oder verboten werden, sind kaum vergleichbar mit jenen von Künstlerinnen und Künstlern, die aufgrund der von ihnen ausgeübten Gewalt, Antisemitismus oder einfach, weil ein in Auftrag gegebenes Plakat nicht den Ansprüchen der Auftraggebenden entsprach, 'gecancelt' werden. Eine Gleichstellung der Bedeutung, die das Museu de l'Art Prohibit mit dieser Ausstellung zumindest vorzuschlagen scheint, kann man mehr als kritisieren.

Weitere Artikel: Albertina-Generaldirektor Klaus Albrecht Schröder schlägt eine Verjährung für Restitutionsansprüche vor, meldet der Standard mit APA. Caroline Schluge blickt im Standard auf die kommenden Ausstellungs-Highlights in österreichischen Museen.

Besprochen wird eine Ausstellung mit Arbeiten der amerikanischen Malerin Karen Kilimnik in der Berliner Galerie Sprüth Magers (FR).
Archiv: Kunst

Bühne

Szene aus Theu Boermans' Operette "Lass uns die Welt vergessen". Foto: Barbara Palffy. Volksoper Wien

Zum Anlass ihres 125-jährigen Bestehens erinnert die Wiener Volksoper mit Theu Boermans' Operette "Lass uns die Welt vergessen - Volksoper 1938" an die jüdischen KünstlerInnen des Ensembles, die vertrieben oder ermordet wurden. Es ist vor allem die musikalische Bearbeitung, die taz-Kritiker Uwe Mattheiss überzeugt: Das Stück "beginnt mit der Fiktion einer Theaterprobe 1938 und erzählt von dort aus die Geschichte der Vertriebenen und Ermordeten. Den irrlichternden Spaß des ursprünglichen Stücks lässt Boermans nur behutsam anklingen. Die Spur, die die kulturelle Dimension des Genozids bis in die Gegenwart hinein zieht, lässt sich sichtbar machen, nicht aber zum Zweck der Aneignung bruchlos überschreiten. Die Bühne liefert solides Dokumentartheater. Die eigentliche Auseinandersetzung mit der Geschichte findet im Orchestergraben statt. Die junge israelische Komponistin und Dirigentin Keren Kagarlitsky hat die verschollene Partitur aus einem späteren Klavierauszug rekonstruiert, der schon die ideologisierte Textfassung der Nazis enthielt. Was seinerzeit schon idyllische Konserve aus einer anderen Welt war, stellt sie verbunden durch eigene Arbeiten gegen Material von Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Viktor Ullmann."

Dass die Theater in der Ukraine nicht aufgeben, erkennt der litauische Autor und Regisseur Marius Ivaskevicius in der FAZ nicht erst durch das Festival Gra, das in vier ukrainischen Städten stattfand. Über die einzelnen Stücke verrät Ivaskevicius als Teil der Jury nichts. Wir erfahren aber: "Vor jeder Aufführung wurde das Publikum gewarnt, dass bei Raketengefahr alle in den Luftschutzraum hinuntersteigen, und wenn die Gefahr innerhalb einer halben Stunde vorüber ist, wird das Stück fortgesetzt; hält sie länger an, wird es am nächsten Tag fortgesetzt. (…) In jedem Theater ist etwa ein Drittel der Männer im Krieg. Als wir in Kiew waren, erlag ein bekannter Kiewer Schauspieler seinen an der Front erlittenen Verletzungen. Die Theater suchen zunehmend Stücke, in denen es nur Frauenrollen gibt - für jene möglichen Zeiten, wenn keine Männer mehr an den Theatern bleiben."

Weitere Artikel: Alexander Menden rauft sich in der SZ die Haare angesichts der "zerstörerischen" konservativen Kulturpolitik in Großbritannien, deren Folgen sich vor allem jenseits von London zeigen: "Seit die Tories 2010 die Regierungsverantwortung übernahmen, sind diese Budgets immer weiter geschrumpft, vor allem in den meist von Labour regierten Kommunen Nordenglands." In der Berliner Zeitung gratuliert Nicolas Butylin der Theater-Sitcom "Gutes Wedding, schlechtes Wedding" zum 20-jährigen Bestehen.
Archiv: Bühne

Literatur

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Morgen erscheint mit "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" der neue Roman von Haruki Murakami, der morgen auch 75 Jahre alt wird. Erneut geht es um eine geheimnisvolle Stadt, die diffus abseits der Realität liegt: ein Motiv, das Murakami-Leser bereits gut kennen, hält Tilman Spreckelsen in der FAZ fest. In diesem "funkelnden, überlegen komponierten Roman" schließe sich nun "der Kreis in Murakamis Werk, in dem solche Gegenwelten entdeckt werden und die Entdecker durchaus faszinieren, um später ihre bedrohliche Seite zu offenbaren. Denn die erzwungene Trennung vom eigenen Schatten ist ein überdeutlicher Hinweis des mit allen Wassern der Schauerromantik gewaschenen Autors auf den Preis, den man für das Glücksversprechen auf der anderen Seite der Mauer bezahlt, und auch die eigentlich verbotene Rückkehr auf die andere Seite der Welt sollte Warnung genug sein."

Katharina Borchardt vom Dlf Kultur stößt in diesem Roman auf "immer wieder neue, seltsam berückende Räume", in die sie dem Autor nur allzu gerne folgt, auch weil man sich am Ende dann doch gut darin auskennt: Der Roman stecke voller "altbekannter Murakami-Elemente: viele einsame Figuren, für die aber gute Gespräche, Kuchen und Jazz immer im richtigen Moment kommen. So wird Weltflucht erträglich." Alina Saha wirft im Freitag ein Schlaglicht auf die Frauen, die seit Murakamis internationalem Erfolg in der japanischen Literatur reüssiert haben.

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Sowohl Juli Zeh (in "Zwischen Welten", gemeinsam mit Simon Urban) als auch Michel Houellebecq (in "Serotonin") haben den Protest der Landwirte prophezeit - und beide Romane werben um Empathie, wenn nicht Sympathie für die Lage der Bauern, schreibt Birgit Schmid in der NZZ. Hier wie dort eskaliert der Protest. "Die Medien hätten nach den Zusammenstößen auf der Autobahn 'wie üblich die Gewalt beklagt, die Tragödie und den Extremismus gewisser Aufwiegler', heißt es in 'Serotonin'. Unter den verantwortlichen Politikern habe aber auch Verlegenheit geherrscht: Keiner versäumte zu betonen, man müsse die Verzweiflung und Wut der Landwirte 'bis zu einem bestimmten Punkt verstehen'. Die Literatur geht voran. Sie bringt den Bauern das Verständnis entgegen, das vielen ihrer Kritiker fehlt. Sie beschreibt die Arroganz derjenigen, die keine Ahnung von dieser Lebensrealität haben. Juli Zeh, Simon Urban und Michel Houellebecq schildern auf drastische Weise, was passieren kann, wenn das Interesse daran komplett fehlt."

Außerdem: "Nie waren die Voraussetzungen, Kafka zu verstehen, besser als heute", hält Gregor Dotzauer im Tagesspiegel zu Beginn des Kafkajahres 2024 fest. Besprochen werden unter anderem Shehan Karunatilakas mit dem Booker Prize ausgezeichneter Roman "Die sieben Monde des Maali Almeida" (taz), Bodo Kirchhoffs "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt" (FR), Rijula Das' Krimi "Die Frauen von Shonagachi" (FR) und Jakub Małeckis "Beben in uns" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Architektur

Wabenhaus von Peter Haimerl


So geht das Wohnen der Zukunft, freut sich Laura Helena Würth in der NZZ beim Anblick des Wabenhauses, das der Architekt Peter Haimerl in München nach Ideen von Claude Parent geschaffen hat: "Jede Wohneinheit eine Wabe. Keine geraden Wände, keine Stellfläche, keine viereckigen Fensterlöcher. Dafür sind die Fenster sechseckig und gehen über die gesamten sechs Meter Breite jeder einzelnen Wabe. Zur Möblierung braucht es extra angefertigte Einbauten, die sich perfekt einpassen in die ungewöhnliche Form. Sie werden als 'passgenaue Benutzeroberfläche' beschrieben, die man an seine persönlichen Bedürfnisse anpassen kann und die dann mit dem 3-D-Drucker produziert werden. Man kann sich auf dem Boden ansiedeln, auf halber Höhe oder direkt unter der Decke - alles, ganz wie man es sich wünscht und wie man denkt, dass es zu einem passt."

Sieht aus wie aus der Retorte, soll aber Ausdruck "religiöser Vielfalt" und Toleranz sein, meint in der FAZ Matthias Rüb, der sich in Abu Dhabi die frisch aus dem Boden gestampfte Maimonides-Synagoge, die erste Synagoge vor Ort, angesehen hat, die neben der neuen Kirche des Heiligen Franziskus und der ebenfalls gerade erst errichteten Ahmad-al-Tayyib-Moschee Platz findet, entworfen von dem ghanaisch-britischen Architekten Sir David Adjaye: "Die drei Gotteshäuser haben die exakt gleichen Ausmaße: Es sind Quader von jeweils dreißig Metern Länge, Breite und Höhe. Daneben steht jeweils eine dreißig Meter hohe Stele mit einem Kreuz, einem Davidstern und einem Halbmond. Keines der Gebäude soll das andere überragen, wie gleich gewachsene Drillinge stehen sie nebeneinander. Die Fassaden sind durch Säulen und Streben aus weißem Beton unterschiedlich durchbrochen: parallele Linien sind es bei der Kirche, schräg aufeinander zulaufende bei der Synagoge und elliptische bei der Moschee." (Zu sehen bei dezeen).
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Musik

Arno Lücker unterhält sich  für VAN mit Björn Gottstein über das 50-jährige Bestehen der Ernst von Siemens Musikstiftung. Außerdem hat Benjamin Poore für VAN passend zum Jahresbeginn eine Playlist mit den besten Eröffnungsakkorden in der klassischen Musik zusammengestellt. Oben auf der Liste steht dieser:

Archiv: Musik