Efeu - Die Kulturrundschau

Das ist hinreißend!

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05.09.2023. Beim Filmfestival Venedig zeigt sich Woody Allen gelassen, dass er seine Filme nur noch in Europa drehen kann. Auch ohne Gardiner, aber vor allem wegen des Monteverdi Choirs war die Berliner Aufführung von Berlioz' "Die Trojaner" ein Ereignis, schwärmt VAN. Und im ZeitMagazin erklärt die Modejournalistin Lynn Yaeger, warum sie ohne Tüll in ihrer Kleidung gar nicht erst aus dem Haus geht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.09.2023 finden Sie hier

Film

"Coup de Chance" von Woody Allen

Beim Filmfestival Venedig wurde Woody Allens in Frankreich entstandener und auf Französisch gedrehter "Coup de Chance" aufgeführt - wegen der (allerdings sehr umstrittenen) Vorwürfe gegen ihn, ist es ihm in den USA nicht mehr möglich, einen Film finanziert zu bekommen. Im aktuellen Film lässt ein Mann seine attraktive Ehefrau beschatten, weil er sie einer Affäre verdächtigt. Der Film "ist kein revolutionärer künstlerischer Akt, aber er zeugt von Allens unverminderter Fähigkeit, Geschichten ökonomisch zu erzählen, Milieus in wenigen Strichen zu zeichnen und Schauspieler zu führen", schreibt Hanns-Georg Rodek in der Welt. "Fast spielerisch dunkelt Allen die Stimmung ein, lässt den Zufall - um den es in seinem Film viel geht - in das Geschehen eingreifen und schließlich eine Art Gerechtigkeit herstellen." Dieser "kleine Film will nicht mehr sein, als unterhaltsame Boulevardkomödie", hält Valerie Dirk im Standard fest, der Film entspricht Allens "altbekanntem Mischmasch aus Krimi-Komödie und redegewandtem Liebesdrama".

Andreas Scheiner von der NZZ hat sich mit Allen zum Gespräch getroffen, der auf den Wirbel um seine Person - in Venedig wird gegen Polanski, Besson und Allen im Festivalprogramm protestiert, zugleich wird in der Pressevorführung frenetisch applaudiert, wenn Allens Name im Vorspann auftaucht - sehr gelassen reagiert und die Möglichkeit lieber nutzt, "sich als Fürsprecher von #MeToo zu outen: 'Cancel-Culture ist etwas anderes als die #MeToo-Bewegung', sagt er. 'Cancel-Culture ist dumm. Die #MeToo-Bewegung ist nicht dumm. Die #MeToo-Bewegung tue eine Menge guter Dinge für Frauen, fügt Woody Allen hinzu. Einige Positionen, die sie vertrete, seien zwar zu extrem. Aber im Grunde habe die Bewegung viel bewirkt. Ganz anders die Cancel-Culture. Allerdings sei Amerika kulturell sowieso an einem Tiefpunkt. 'Die Filmindustrie, das Theater, schrecklich.' Aber auch an den Politikern sehe man den Kulturverfall, an allem. 'Wenn man gecancelt wird', so sagt Woody Allen, 'ist das die Kultur, aus der man gecancelt werden sollte."

Mehr vom Festival: Sofia Coppolas Biopic "Priscilla" über Priscilla Presley und Elvis ist laut Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche eher eine müde Angelegenheit: "Die Garderobe und Frisuren von Cailee Spaeny sehen zwar umwerfend aus, aber hinter den schönen Oberflächen bleibt eine große Leere." Dietmar Dath begeistert sich auf FAZ.net für Timm Krögers deutschen Wettbewerbsbeitrag "Die Theorie von allem": "Nichts passt zusammen. Alles ist aber zwingend. Die Gewalt, die es zusammenhält, geht von der Dunkelheit aus, die den Film langsam frisst." Tazler Tim Caspar Boehme erlebt mit Bertrand Bonellos "La bête" ein wahrhaftiges Biest von einem Film und eine "wüst um alle möglichen Kurven rasende Achterbahnfahrt durch emotionale Stimmungslagen von Romanze bis Psychothriller". Felicitas Kleiner (Filmdienst), Maria Wiesner (FAZ) und Rüdiger Suchsland (Artechock) resümieren die letzten Festivaltage.

Abseits vom Lido: Im Standard stellt Jakob Thaller den Filmemacher Sascha Köllnreitner vor, der mit seinem Porträtfilm über Sebastian Kurz in Österreich für Wellen sorgt. Besprochen werden Antoine Fuquas "The Equalizer 3" (Standard) und die Arte-Doku "Brainwashed - Sexismus im Kino" (ZeitOnline).
Archiv: Film

Design

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Amelie Apel und Ubin Eoh haben für das ZeitMagazin aufgeschrieben, wie Leute aus dem Kulturleben ihren Kleidungsstil gefunden haben, darunter die Filmemacherin Ulrike Ottinger mit ihrer zeitlosen, durch markante Details sanft aufgebrochene Eleganz, aber auch die Modejournalistin Lynn Yaeger mit ihrer schrillen Extravaganz: "Jedes meiner Outfits enthält ein Tüll-Element. Zum Beispiel ziehe ich über einen türkis- oder pinkfarbenen Unterrock aus Tüll ein weites, schwarzes Kittelkleid. Wichtig ist, dass der farbige Tüll unten herausschaut. ... Ich finde meine Outfits einfach süß. Wer freut sich nicht über eine Gestalt in einem riesigen Tutu? Viele Frauen in meinem Alter schauen in den Spiegel und sehen nur Makel. Ich schaue meistens in den Spiegel und denke: 'Das ist hinreißend! Dieses Kleid ist hinreißend!' Mein Look ist sehr individuell, aber gleichzeitig auch nahbar und zeitlos. Ein paarmal haben sich Leute zu Halloween als Lynn Yaeger verkleidet, das hat mir sehr geschmeichelt."
Archiv: Design
Stichwörter: Mode, Yaeger, Lynn

Bühne

Iwona Uberman fasst in der Nachtkritik die schwierige Situation zusammen, in der sich polnische Theater seit dem Beginn der PiS-Regierung befinden: "Es nicht nur der ökonomische Druck und die Einmischungsversuche seitens der Regierenden, die dem polnischen Theater aktuell zusetzen. Ein großes Problem sind politische Ränke sowie lokale 'Machtwort'-Entscheidungen. Im heutigen angeheizten politischen Klima mit seiner enormen Polarisierung ist oft ein kurzfristiges politisches Partei-Interesse (oder sogar ein privates) wichtiger als gemeinwohlorientiertes Handeln. Das in seiner Struktur komplizierte politisch-administrative System, in dem die Kompetenzen zwischen Woiwodschaft-Behörden, Selbstverwaltungsbehörden (Marschallamt) und Stadt- (oder Gemeinde-)Behörden nicht immer klar abgegrenzt sind, erfordert Kooperationswillen. Wenn dieser fehlt, bleibt nur langwieriges Prozessieren vor Gericht. Dabei kann es Kollateralschäden geben."

Weiteres: In der FR schreibt Sylvia Staude einen Nachruf auf den Schauspieler und Regisseur Claus Helmer. Besprochen werden Johannes Maria Stauds und Thomas Köcks Inszenierung "missing in cantu"  beim Kunstfest Weimar (taz, FAZ) und Mina Salehpours Inszenierung von Bahram Beyzaies Stück "Yazdgerds Tod" am Schauspiel Köln (SZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Krassikov-Straße, Erik Bulatov. Foto: The Renaissance Society.

FAZ
-Kritikerin Kerstin Holm gratuliert dem Künstler Erik Bulatov zum neunzigsten Geburtstag. Er bildete mit dem Maler Ilya Kabakov "das überragende Doppelgestirn der inoffiziellen sowjetrussischen Kunst", so Holm. Über den russischen Konstruktivismus fand Bulatov zu einem eigenen Stil, seine "geometrische Meditationen über Raum und Fläche, seine Bevorzugung klarer Farben und die oft quadratischen Formate setzen die Ikonenmalerei und die Avantgarde gleichermaßen fort." Besonders hebt Holm das Werk "Krassikov-Straße" hervor: Meisterhaft "erzeugt Bulatov mit der Postkartenszene einer Moskauer Neubaugegend, von der Sowjetbürger träumten, eine Atmosphäre der Aussichtslosigkeit. Männer mit hängenden Schultern, Frauen in Druckmustermode ziehen einen schnurgeraden Asphaltpfad entlang, auf dem ihnen von einer Plakatwand mit wehendem Mantel eine triumphierende Lenin-Figur entgegenschwebt wie die Nike von Samothrake. Bulatovs Menschenkörper schimmern regenbogenhaft, als wollten sie sich auflösen wie Luftspiegelungen. Der Sowjetstaat erschien ihm damals ewig, hat Bulatov gesagt, er sei davon ausgegangen, bis ans Ende seiner Tage die ihm wichtigen Dinge nur heimlich tun zu können."

Weiteres: Die französische Schriftstellerin Violaine Vanoyeke hat sich auf dem Friedhof Pierre Lachaise ein Grabmal errichten lassen, erzählt NZZ-Kritiker Rainer Moritz, und zwar ein lebensgroßes Abbild ihrer selbst: "Das Aparte an dieser Selbstbeweihräucherung besteht darin, dass Madame Vanoyeke keineswegs die übliche Voraussetzung für einen Friedhofsplatz erfüllt: Sie ist keineswegs tot und vielmehr quicklebendig. Auf der Grabplatte steht bis jetzt allein das Geburtsdatum. Dort, wo üblicherweise das Todesdatum steht, klafft eine Leerstelle."

Besprochen werden die Ausstellung "Secessionen. Klimt. Stuck. Liebermann." in der Alte Nationalgalerie Berlin (NZZ) und die Ausstellung "Wilhelm Hasemann und die Erfindung des Schwarzwalds" im Augustinermuseum Freiburg (FAZ).
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Literatur

Roman Bucheli unterhält sich für die NZZ mit dem Welt-Journalisten Dirk Schümer unter anderem darüber, warum er in seiner Freizeit mit Vorliebe historische Romane verfasst: "Das Schöne an der Geschichte ist das Relativieren. Die Gegenwart setzt sich absolut, sie glaubt an ihre Unvergleichbarkeit. Mit der Geschichte macht man die Gegenwart eine Nummer kleiner. Es gibt außerdem viele Konstanten, den rücksichtslosen Kapitalismus, wie wir ihn heute erleben, den kann ich 600 Jahre zurückverfolgen. ... Man ahnt, dass der Tag nie kommen wird, an dem die Armen die Reichen besiegen können. Das ist dann die Art der Negativität, die ich gegen jeden Historienkitsch mobilisiere. Geschichte ist für mich eine Schule der Hoffnungslosigkeit."

Außerdem: Die französische Autorin Violaine Vanoyeke hat sich bereits zu Lebzeiten eine Skulptur auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise errichten lassen, berichtet Rainer Moritz in der NZZ. Besprochen werden unter anderem Michael Kleebergs "Dämmerung" (Tsp), Sylvie Schenks "Maman" (online nachgereicht von der FAZ), Wolf Haas' "Eigentum" (Standard, SZ), Marcus Willascheks Kant-Biografie (FR) und Carlos Franz' "Das verschwundene Meer" (FAZ).
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Architektur

China und die USA demonstrieren im Libanon ihre Macht durch neue Bauprojekte, berichtet Lena Bopp in der FAZ. So entsteht in der Nähe von Beirut gerade das neue Gebäude der amerikanischen Botschaft: "Auf einem mehr als siebzehn Hektar großen Gelände oberhalb der alten Botschaft erstreckt sich der weitläufige neue Bau, der sich mäandernd wie ein Bach von den Hügeln um Aoukar hinunterwindet. Um die Landschaftsarchitektur kümmerte sich federführend Alan Ward von Sasaki, entworfen hat den aus mehreren Gebäuden bestehenden, dekonstruktivistisch anmutenden Komplex ein Team von Morphosis Architects aus Kalifornien. Sie haben sich der Topographie des Geländes und der Nachbarschaft weitgehend angepasst. Keine hohen Gebäude, keine Prachtbauten. Stattdessen wurden lokale Baumaterialien verwendet und wassersparende, einheimische Gewächse gepflanzt. Das Ganze schmiegt sich in dem offensichtlichen Bemühen an die Landschaft, die amerikanischen Machtansprüche in der Region zu demonstrieren, ohne zu provozieren." Nur den Hügel hinunter, entsteht ein neuer Konzertsaal, finanziert vom chinesischen Staat: "Am Tor der Baustelle zeigen chinesische Schriftzeichen, wer hier ein Zeichen setzt. Die chinesische Regierung hat Libanon einen neuen Konzertsaal versprochen. Eine nagelneue, stattliche Anlage, die dem staatlichen Konservatorium des Landes geschenkt werden soll".

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Musik

Mit der "halbszenischen" Aufführung der Berlioz-Oper "Die Trojaner" beim Musikfest Berlin kann man VAN-Kritiker Albrecht Selge zwar nicht hinter dem Ofen hervorlocken. Umso mehr begeistert ihn die musikalische Darbietung durch das Orchestre Révolutionaire et Romantique und den Monteverdi Choir. Nach einem Eklat (unser Resümee) hat John Eliot Gardiner das Dirigat an seinen Assistenten Dinis Sousa abgegeben. Insbesondere der Chor haut Selge um, "dem die Meistertat gelingt, sowohl klangliche Differenzierung als auch Berauschung des Hörers auf die Spitze zu treiben. Auch in heilloser Vereinzelung über die Bühne verstreut und in ständiger Bewegung ist der Zusammenklang dieses Chors wundervoll austariert. Von der Seelenpein des Einzelnen über grollende Gewitter bis zu singender Staatsgewalt hat er alles drauf; wenn er hymnische Wucht entfaltet, besorgt er uns im Saal Gänsehaut statt Tinnitus. ... Dieser Chor setzt dem Riesenpferd die Krone auf. Das alles zusammen macht diese Aufführung von Hector Berlioz' Les Troyens zu einem Ereignis, das nachhaltig in Erinnerung bleiben wird."

Außerdem: Stephanie Grimm resümiert in der taz das Berliner Festival PopKultur. Harald Eggebrecht erzählt in der SZ von seinem Besuch bei Kirill Troussovs Meisterkursen in Baden-Baden und Salzburg. Jakob Thaller erzählt in einer Standard-Reportage von seinem Besuch bei einem Konzert von DJ Ötzi. Die Presse meldet, dass der Komponist und Musikkritiker Walter Arlen mit 103 Jahren verstorben ist. Außerdem melden die Agenturen, dass Steve Harwell von Smash Mouth gestorben ist.

Besprochen werden eine Berliner Aufführung von Unsuk Chins "Šu" und Mahlers "Lied von der Erde" durch Robin Ticciati, Wu Wei und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (VAN, einen Mitschnitt gibt es bei Dlf Kultur), Feists Auftritt in Zürich (NZZ), das Solodebütalbum "Mid Air" der The-XX-Sängerin Romy Madley (online nachgereicht von der FAS) sowie das neue Album "New Future City Radio" von Damon Locks und Rob Mazurek (FR-Kritiker Stefan Michalzik bestaunt die vielfältigen Klangwelten, "von Electronica und Psychedelik bis zu Easy Listening und einem Reggaebeat").

Archiv: Musik