Efeu - Die Kulturrundschau

Wahnsinnstanz der Trauer

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.06.2023. Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. FAZ und SZ  feiern die "brillante Wahl" und Rushdie als idealen Preisträger. Nur die FR fragt: Warum erst jetzt? Warum nicht schon 1989? Die taz erlebt im Münchner Haus der Kunst, wie Leyla Yenirce die Ehre jesidischer Frauen wiederherstellt. SZ und Nachtkritik treffen sich bei Matthias Lilienthals Festival "Performing Exiles" in der Pinguin Bar. Die Welt lauscht den dahinfließenden Klängen des gerade sehr gehypten Komponisten Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.06.2023 finden Sie hier

Literatur

Salman Rushdie 2014. Foto © Ed Lederman/PEN American Center unter CC-Lizenz
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels macht es der Schwedischen Akademie vor, freuen sich die Kritiker anlässlich der Nachricht, dass Salman Rushdie im Herbst in Frankfurt den Friedenspreis erhält - eine "brillante Wahl", bringt Sandra Kegel im FAZ-Kommentar die allgemeine Stimmung auf den Punkt: "Dass die Paulskirche, in der im Herbst der Preis verliehen wird, bis auf den letzten Platz besetzt sein wird, das ist ihm und uns zu wünschen - als Würdigung eines Autors und als Zeichen für Freiheit und gegen die Angst." Die Leute in der Paulskirche "bekräftigen damit die globale Relevanz der Freiheit und demonstrieren eine Solidarität, die nicht immer zur Stelle war", schreibt Nils Minkmar in der SZ. "Sie senden ein Zeichen. ... Grüße werden rausgehen nach Teheran, Moskau, Peking und in all die anderen Hauptstädte der Tyrannei." Auch liege in dieser Auszeichnung "eine aufregende Botschaft: Bei allen Rückschlägen, Verzögerungen oder Attentaten ist der Fortschritt der Freiheit nicht zu stoppen."

Eilig hatte es der Börsenverein mit dieser Ehrung allerdings auch nicht gerade, kommentiert Arno Widmann in der FR: "Ich warte darauf seit dem 14. Februar 1989", jenem Tag also, an dem der iranische Islamist Khomeini zum Mord an Rushdie aufrief. " Widmann erinnert auch daran, dass die deutsche Presse sich in der Rushdie-Affäre nicht mit Ruhm bekleckerte: "Die taz war das einzige Medium, das damals seine Leserinnen und Leser im Wortlaut vertraut machte mit dem, worum es ging." (Widmann selbst hat dabei eine wichtige Rolle gespielt, mehr dazu hier).

Nun aber hat das Zaudern ein Ende", schreibt Roman Bucheli in der NZZ und erinnert daran, dass Rushdie schon einmal bei der Frankfurter Buchmesse eine Rede hielt, im Jahr 2015, allerdings auf einem Nebenschauplatz vor wenigen Leuten: Er "hielt ein glühendes Plädoyer für das freie Wort und das Geschichtenerzählen. Die Redefreiheit sah er indessen nicht nur in despotischen Regimen gefährdet. Gerade im Westen, der sich so viel auf die Errungenschaften der Französischen Revolution zugutehalte, werde unter der Fuchtel der politischen Korrektheit der freie Austausch von Ideen eingeschränkt. ... Jede Einschränkung dieser Freiheit sei ein Angriff auf die Menschenrechte." Entsprechend geht für Marc Reichwein von der Welt von dieser Auszeichnung ein Signal aus: "Die Voraussetzungen für die Freiheit der Literatur, und damit den Frieden, zu sagen und zu schreiben, was man denkt, sind ständig bedroht."

Originell ist die Entscheidung zwar nicht, kommentiert Gerrit Bartels im Tagesspiegel, aber sie "ist die richtigste, naheliegendste, im Grunde zeitgemäßeste". Schließlich "ist der Friedenspreis kein literarischer Preis, sondern einer, der Künstlerinnen und Künstlern verliehen wird, die sich zuvorderst mit ihren Arbeiten um den Frieden und die Völkerverständigung verdient gemacht haben. Allein seiner unfreiwillig bemerkenswerten Vita wegen ist Rushdie da ein idealer Preisträger. " 2021 Tsitsi Dangarembga, 2022 Serhij Zhadan, nun Salman Rushdie: Dirk Knipphals gratuliert dem Börsenverein in der taz zum Geschick bei der Auswahl seiner Preisträger. Zwar "wünschte man, es könnte irgendwann bei hohen Literaturpreisen ausschließlich um Literatur gehen." Aber "bis dahin beweist die Jury des Friedenspreises immerhin literarische Expertise und ein Gespür dafür, dass die düsteren Zeiten mit einem Krieg mitten in Europa und Bedrohungen der Demokratie weltweit eines entschlossenen Einsatzes für verfolgte Schriftsteller*innen bedürfen."

Weitere Artikel: Mit der Grabverlegung des Dichters Missak Manouchian ins französische Pantheon kommt "der erste Kommunist und migrantische Widerstandskämpfer in die Ruhmeshalle", schreibt Léonardo Kahn in der SZ über diese "überfällige Anerkennung der Rolle kommunistischer und ausländischer Partisanen in der Résistance". Nur weil der Erzähler in Prousts "Recherche" Marcel mit Vornamen heißt, sollte man ihn nicht allzu voreilig für den Autor selbst halten, erklärt Gerrit Bartels im Tagesspiegel.

Besprochen werden unter anderem Nicola Lagioias "Die Stadt der Lebenden" (taz), Catel Mullers und José-Louis Bocquets Comic übr die Filmpionierin Alice Guy (Jungle World), J.M. Coetzees "Der Pole" (Tsp), Richard Russos "Mohawk" (ZeitOnline), die Leserpost-Ausstellung "'Leser? - achduliebergott.' Arno Schmidt und einige seiner Bewunderer" in Bargfeld (SZ) und Pierre Guyotats "Idiotie" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Lemohang Jeremiah Mosese: Ancestral Visions of the Future / Pageantry of Wailing. Bild: Haus der Berliner Festspiele

Hin und weg ist SZ-Kritiker Peter Laudenbach vom Festival "Performing Exiles" im Haus der Berliner Festspiele, das mit einem krachenden Konzert des extra aus Charkiw angereisten ukrainischen Rockstarautors Serhij Zhadan begann: "Auch wer kein Wort ukrainisch versteht, ist umgehauen von der puren Wucht des Konzerts, bei dem Hunderte Ukrainer jede Zeile mitsingen und die 'Fuck Putin'-Parolen feiern... Das neue, von Matthias Lilienthal erfundene 'Performing Exiles'-Festival der Berliner Festspiele unternimmt eine ziemlich groß angelegte Vermessung einiger Frontverläufe und Konfliktlinien der zerrissenen Gegenwart. Vor dem Konzert der ukrainischen Band kann man in zwei Theaterstücken den Lebensgeschichten von Menschen in libanesischen Flüchtlingslagern oder einem iranischen Gefängnis begegnen. Nach dem Konzert geht es um Mitternacht in der Bar mit bestem afrikanischem Jazz weiter. Und am nächsten Tag erzählen nach Berlin emigrierte Künstlerinnen der russischen Opposition bei 'performativen Stadtspaziergängen' von den Orten des russischen Exils im Berlin des vergangenen Jahrhunderts und der Gegenwart. Dass russische und ukrainische Künstler bei einem Festival auftreten, ist derzeit fast ein Ding der Unmöglichkeit."

Auch in der Nachtkritik feiert Sophie Diesselhorst den gelungenen Brückenschlag zwischen den Communities, wovon auch die Wiederbelebung der einst legendären Schöneberger Pinguin Bar im Foyer des Festspielhauses zeuge, sie hat sich aber einen anderen Favoriten ausgesucht: "Der in Berlin lebende, aus Lesotho stammende Filmemacher Lemohang Jeremiah Mosese verarbeitet in 'Ancestral Visions of the Future / Pageantry of Wailing' Motive aus seinen international vielbeachteten Filmen 'Mother, I Am Suffocating. This Is My Last Film About You' und 'This Is Not a Burial, It's a Resurrection' (beide 2019 herausgekommen). Und macht ein genuines Stück Theater draus. Visuelle Poesie mit langsam fließenden lebenden Bildern, die immer wieder von Sarai Coles Sopran emotional verstärkt und von Live-Performance durchbrochen werden."

Eine neue Wertschätzung für den Text im Theater bemerkt Margarete Affenzeller vor der Verleihung des Retzhofer Dramapreis im Standard, ein neues Interesse an Sprache und Sprechweisen: "Dennoch stehen die Zeichen weiterhin auf Romandramatisierungen. Netflix heizt dem Theaterbetrieb gehörig ein und forciert eine Plotgetriebenheit, die die deutsche Autorin Ulrike Syha einmal zynisch kommentierte: 'Ich schreibe jetzt einen Roman, damit ich am Theater aufgeführt werde.'"

Besprochen werden Ewe Benbeneks Stück "Juices" am Nationaltheater Mannheim (zutiefst bewegend findet taz-Kritiker Björn Hayer diesen Text über Scham und Armut), Puccinis Oper "Turandot", die in Zürich als das Fragment gezeigt wird, das sie durch den Tod des Komponisten eigentlich geblieben ist (NZZ), Jules Massenets Salome-Vertonung "Hérodiade" an der Düsseldorfer Oper (bei der es Welt-Kritiker Manuel Brug aber deutlich sittsamer zugeht als in Richard Strauss' Version), das Stück "Now and Then" im English Theatre Frankfurt (das von einer Räumungsklage bedroht ist, wie Sylvia Staude in der FR hinzufügt) und der theatralische Musikabend  "Spatz und Engel" bei den Burgfestspiele Bad Vilbel (FR).
Archiv: Bühne

Kunst

Leyla Yanirces Klanginstallation. Foto: Cordula Treml/Haus der Kunst

Das Münchner Haus der Kunst zeigt die Arbeiten der drei Ars-Viva-Preisträger Leyla Yenirce, Paul Kolling und Shaun Motsi, in der taz ist Annegret Erhard besonders von Yenirces Arbeit beeindruckt, die die Gewalt gegen jesidische Frauen zum Thema hat: "Im Lalish, einem heiligen Tempel der Jesiden im Norden Iraks, wurde ein Ritual zur Wiederherstellung der Ehre dieser Frauen erschaffen. Sie werden dann ein zweites Mal getauft. Durch diese reinigende Handlung erlangen sie ihre Würde wieder und können erneut Mitglieder der jesidischen Glaubensgemeinde werden. Dieses Recht hatten sie als Opfer sexuellen Missbrauchs verloren. Yenirce hat nun einen poetischen, schon auch überpathetischen Klangteppich komponiert und unterlegt ihn mit Geräuschen vom Taufereignis. Die BBC hatte dieses besondere Zeremoniell im Lalish dokumentiert. Deren Aufnahmen nutzt nun Yenirce. In ihrer visuell so minimalen Installation verwebt sie alte Kulturtechniken, religiösen Kult und hochaktuelle (und offenbar nie versiegende) Gräuel zu einer dahinfließenden Musik. Sphärisch und zugleich basslastig gibt diese dem Trauma einen körperlich immersiven Klang."

Weiteres: In der NZZ berichtet der ukrainische Kunstkritiker und Kurator Konstantin Akinsha von einem wegweisenden Urteil in den Niederlanden: Das Skythen-Gold, das 2014 für eine Ausstellung nach Amsterdam kam, muss nicht an die Museen der nunmehr russisch besetzten Krim zurückkgeben werden. Es gehört der Ukraine und darf nach Kiew gehen. Besprochen wird die große Schau der Pastellmalerin Rosalba Carriera in der Dresdner Gemäldegalerie (FAZ).
Archiv: Kunst

Film

Der Filmhistoriker Hans Helmut Prinzler ist überraschend gestorben: Lange Zeit war er Direktor des Berliner Filmmuseums und leitete als solcher auch die Retrospektive der Berlinale. Seit geraumer Zeit im Ruhestand, besprach er bis zuletzt auf seiner Website aktuelle Filmbücher und DVDs. Das Filmhaus am Potsdamer Platz war zum großen Teil Prinzlers Verdienst, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Die deutsche Filmgeschichte, so wie sie sich das Kino selbst erzählt, ist eine Geschichte der Geschichtslosigkeit", schreibt Claudius Seidl in der FAZ. "In dieser Lage ist die Beschäftigung mit deutscher Filmgeschichte fast schon heroischer Widerstand - zumal wenn einer wie Hans Helmut Prinzler sie betrieb, der an Urteilen und Hierarchien weit weniger interessiert war als an der Frage, unter welchen materiellen Bedingungen welche Filme entstehen können."

Prinzler "war das, was man einst - ein starkes, bombastisches Wort - einen Mentor nannte", seufzt Fritz Göttler in der SZ in Erinnerung an die Zusammenarbeit mit Prinzler, "ein Mentor, der das Kino liebte, auch das Spektakuläre an ihm, das deutsche natürlich, von Berufs wegen, aber auch Hollywood. ... Prinzler war ein Filmliebhaber ohne rigiden Kanon, er ging gern ins Kino, auch ins neue Actionkino, er ließ sich verführen und sah die Bilder auf der Leinwand doch immer im Kontext ihrer Gesellschaft, ihrer Geschichte."

Außerdem schreibt Marius Nobach im Filmdienst zum Tod der Schauspielerin Glenda Jackson.
Archiv: Film

Musik

Im Film frenetisch gefeiert, in der Realität nach kurzem Höhenflug rasch wieder abgesägt: Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges

Klassikbetrieb (z.B. Anne-Sophie Mutter) und Unterhaltungsbranche (Disney+ mit Biopic) stürzen sich gerade auf den Geiger und Komponisten Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges und dies wohl vor allem deshalb, weil er schwarz war, glaubt Manuel Brug in der Welt zumindest zwischen den Zeilen. Insbesondere der Film überschlägt sich wohl mit Begeisterung und erzählt von einer fantastischen Karriere, die in Wahrheit aber schnell und harsch an die Grenzen der rassistischen Realität im Frankreich des 18. Jahrhunderts schlug. Zu erleben ist "eine dramaturgisch dürftige, hölzern gespielte Schmonzette, die diesen ganz und gar konventionellen Musiker zu etwas zu machen versucht, was er eben nicht war. Und die höchstens einmal mehr zeigt, wie sehr die in Frankreich schon 1802 von Napoleon wieder eingeführte Sklaverei den sich für einen kurzen Moment frei dünkenden Schwarzen klar machte, wohin sie in einer weißen Gesellschaft weiterhin gehörten - an den ganz unteren Rand." Seine Kompositionen "freilich fließen elegant oberflächlich dahin. So merkt man schnell: Dieses Werk war nicht grundlos im Staub der Archive verschwunden."

Außerdem: Für die Welt spricht Jonathan Fischer mit dem Rapper Killer Mike von Run the Jewels. Im Standard schreibt Karl Fluch über die US-Popmusikerin Jenny Lewis. Besprochen werden eine Biografie über Nick Drake (NZZ), ein Wiener Mahler-Abend der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter Christian Thielemann (Standard), Daniil Trifonovs Konzert in der Berliner Philharmonie (Tsp) und Ragna Schirmers Klavierkonzert beim Mozartfest Würzburg (FAZ, hier zum Nachhören).
Archiv: Musik