Efeu - Die Kulturrundschau

Die Sonne scheint, der Esel schleppt

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21.05.2019. Der Tagesspiegel entschwebt mit Céline Sciamma und Werner Herzog von Cannes aus in den Kinohimmel. In der SZ seufzt der Schriftsteller Mahmud Doulatabadi über das absehbare Ende der zaghaften Lockerungen im Iran. Der Guardian vermisst in den Mangas von heute die Wildheit und Kühnheit der großen Meister wie Kawanabe Kyōsai oder Tsukioka Yoshitoshi. ZeitOnline analysiert die nun zu Ende gegangene letzte Staffel von "Game of Thrones".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.05.2019 finden Sie hier

Film

Vorurteilsfreie Neugier: Werner Herzogs "Family Romance"

In Cannes hat die Stunde der etablierten Autoren geschlagen - und prompt gewinnt der Wettbewerb an Qualität, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel nach den Filmen von Pedro Almodóvar, Ken Loach, Cormeliu Porumboiu und Terrence Malick. Auch Werner Herzogs außer Konkurrenz gezeigter, in Japan gedrehter Film "Family Romance" überzeugt den Kritiker: Im Mittelpunkt steht ein Mann namens Ishii, der sich als Familienmitglied zum Mieten anbietet. Herzogs Film "besitzt wie zuletzt alle seine Spielfilme eine dokumentarische Unschärfe", denn "Ishii gibt es tatsächlich, er spielt sich in 'Family Romance' (der Name seiner Firma) selbst, was Herzog zu einigen schönen Gedankenspielen verleitet. ... Herzogs vorurteilsfreie Neugier bewahrt seinen Film vor kulturellen Stereotypen über die japanische Gesellschaft, er versucht sich seinen eigenen Reim auf die Welt zu machen. Ihm dabei zuzusehen, ist wie immer eine Bereicherung für das Kino." Variety hat mit Herzog gesprochen - unter anderem geht es um die Finanzierung des Films, die Herzog alleine gestemmt hat: "Es steckt mein eigenes Geld drin und das verdiene ich auf ganz unterschiedliche Weisen. Das einzige, was ich nicht getan habe, ist ein Banküberfall."

Ein eigenes Bild von sich selbst: Céline Sciammas "Portrait of a Lady on Fire"


Derweil hat Andreas Busche noch eine Palmenfavoritin ausgemacht: Mit "Portrait of a Lady on Fire", einer Geschichte aus dem 18. Jahrhundert, ist Céline Sciamma schon jetzt "im Cannes-Pantheon unvergesslich", schreibt er. Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen, "zwischen denen die Regisseurin eine zurückhaltende, sinnliche Intimität herstellt. ... Marianne und Héloïse beschließen, nicht das Bild zu erfüllen, das die Gesellschaft für sie bereithält - sie schaffen ihr eigenes. Dabei geht Sciamma historisch akkurat vor, sie verzichtet in ihrer Emanzipationsgeschichte auf jegliches modernistisches Ornament." Überhaupt, erfahren wir von Busche, finden sich in diesem Jahrgang in allen Sektionen starke Filme von Filmemacherinnen.

Erhebliche Einwände zumindest gegenüber Terrence Malicks Film (mehr dazu hier, sowie eine nachgereichte Kritik im Standard) macht Rüdiger Suchsland auf Artechock geltend: Malick gehe dem Nazi-Kitsch ziemlich auf den Leim, meint er. "Mit Riefenstahl geht es los. Flüge über Marschkolonnen, Reichsparteitag, Ekstase der Hitlerfans, Feiern im Feuerschein. ... Noch nie war der studierte Philosoph und Heidegger-Übersetzer auch so nahe dran an Heideggers Philosophie und deren fließenden Übergängen zum Faschismus, dessen Verklärung des Bäuerlichen, des 'einfachen Lebens', der 'Weisheit' der Natur. ... Die Heimatfilmästhetik des Ganzen, die idyllischen Bilder der Natur- und Bauernverklärung: Man tanzt und lächelt, senst und pflügt. Die Sonne scheint, der Esel schleppt. Das Leben auf dem Land ist offenbar ziemlich lustig, denn Erwachsene spritzen sich hier mit Wasser nass, spielen mit Kindern blinde-Kuh. Wenn die Nazis mal wieder von sich hören lassen, schickt Gott ein Gewitter, oder Wolken und Sturm."

Mit Bruno Dumonts "Jeanne" und Albert Serras "Liberté" gibt es zwei erstaunliche Überraschungen in den Nebensektionen, berichtet Tim Caspar Boehme in der taz. Im Cargo-Podcast berichtet Alexander Horwath vom Festival. Weiteres aus Cannes auf Artechock, Kino-Zeit und critic.de, letztere auch mit täglichen Podcast-Lieferungen. Mehrfach täglich einen Blick wert: Der critic.de-Kritkerinnenspiegel. Mit Tweets vom Festival versorgen uns Jenny Jecke und Beatrice Behn. Und ebenfalls sehr fein: Der regelmäßig aktualisierte Cannes-Ticker vom Blogger Negative Space.

Außerdem: "Game of Thrones" ist Geschichte, die Feuilletons betreiben Nachlese. Nach einer zunächst duchwachsenen letzten Staffel ist tazler Malte Göbel durchaus zufrieden mit dem Schluss, der glücklicherweise nicht alle offenen Fragen der Serie beantworte. Der Guardian fragt allerdings, ob dies das "soßigste Ende aller Fernsehzeiten" war. Sehr detailliert deutet Claudia Schwartz in der NZZ die letzte Episode aus und gelangt zu dem Fazit, dass die Serie wirklich konsequent keine Heldenerzählung sein wollte: "Die letzte Episode fährt die Lautstärke merklich herunter und fordert das Publikum auf, die Botschaft genau zu lesen: Wenn die Menschen eine Zukunft haben wollen, müssen sie sich zusammenschließen."

Ähnlich lautet Adrian Daubs Analyse auf ZeitOnline: Während klassische Fantasy romantischen Vorstellungen von guten Herrschern aufsitzt, deren Amtstätigkeiten jedoch stets unerwähnt bleiben, widmet sich George R.R. Martins Stoff gerade "der Substanz des Herrschens, den Grauzonen der Politik. Deshalb war es auch so ernüchternd, als die vorletzte Folge der Serie suggerierte, Macht an sich sei stets etwas Grauenvolles. Denn die Flucht in die Resignation ist im Grunde genommen eine genauso romantisierende und entpolitisierende Vorstellung wie der blinde Glaube an den guten Herrscher." Als "epochale Leistung" wertet es David Hugendick auf ZeitOnline, was die Serie mit der Logik der Erwartungshaltung veranstaltet hat.

Weitere Artikel: Für die SZ plaudert David Steinitz mit Keanu Reeves, der in "John Wick 3" auch mit 54 noch den munteren Actionhelden gibt. Besprochen werden Hafsteinn Gunnar Sigurðssons "Under the Tree" (Tagesspiegel), Sion Sonos "Antiporno" (Welt, unsere Kritik hier), Roxann Dawsons "Breakthrough" (ZeitOnline) und die auf Amazon gezeigte Serie "Fleabag" (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Kawanabe Kyōsai: Bühnenvorhang für das Shintomi Theater. Bild: Tsubouchi Memorial Theatre Museum, Waseda University

Alles ganz vorbildlich in der Ausstellung zu japanischen Mangas, das Britisch Museum legt schließlich Wert auf Diversität und Inklusion. Trotzdem erzählt die Blockbuster-Show in den Augen von Guardian-Kritiker Jonathan Jones längst nicht die Geschichte, die sie gern erzählen würde: "Japanische Kunst sah schon aus wie ein moderner Comic, lange bevor es so etwas überhaupt gab. Sie glauben, Thanos sei furchterregend? Dann werfen Sie mal einen Blick auf Tsukioka Yoshitoshis Zeichnung eines mythischen Krieger von 1880, der den abgeschlagenen Kopf eines Feindes an den Haaren herumschwenkt, während er sein Gesicht in einer knurrigen Ekstase des Zorns verzieht. Manga kann übersetzt werden als 'wild gewordene Bilder' und das ist eine schöne Beschreibung der Meisterwerke aus dem späten 19. Jahrhundert. Das Problem ist, dass zumindest an dieser Ausstellung gemessen, Japans grafische Kunst seit 1880 einiges an Wildheit verloren hat. Heutige Mangas mögen in Japan ungeheuer populär sein und weltweit eine große Fangemeinde haben, aber als Kunst kommen sie der Lebendigkeit und Kühnheit von Kyōsai oder Yoshitoshi nicht annähernd gleich."

Weiteres: In der SZ erzählt Renate Meinhof auch die Geschichte des glücklichen Markus Wagner, der unverhofft eine Zeichnung von Mantegna für wenige hundert Euro ersteigerte.

Besprochen werden die Ausstellung "Body Check" im Münchner Lenbachhaus, die Körperbilder von Maria Lassnig mit denen von Martin Kippenberger paart (SZ), die Schau des Impressionisten Gustave Caillebotte in der Alten Nationalgalerie in Berlin (FAZ) und Karin Sanders Kunstprogramm "Telling A Work of Art" in der Berliner Akademie der Künste (Tsp).
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Bühne

Krystian Lupas "Prozess" im Museumsquartier in Wien. © Magda Hückel

Im Wiener Museumsquartier zeigt der polnische Star-Regisseur Krystian Lupa seine fünfstündige Version von Kafkas Prozess, im Standard ist Stephan Hilpold nicht von allem überzeugt, aber die Dringlichkeit der Inszenierung ist ihm klar: "Seht her, scheint er zu sagen, diese Geschichte von Willkür und Ausgeliefertsein hat einiges mit der Gegenwart zu tun. Zum Abschluss des turbulentesten Politwochenendes seit Gedenken hätte es dieses Hinweises nicht bedurft. In Polen musste die Inszenierung von Breslau, wo die PiS-Regierung einen genehmen Theaterdirektor installiert hat, nach Warschau ausweichen. Vier Theater taten sich zusammen, um das Kafka-Projekt schließlich 2017 zu stemmen. Jetzt tourt es als eine Art 'Inszenierung der Stunde' von Festival zu Festival. Und das, obwohl Lupas Zugriff alles andere als ein aktionistisch-politischer ist. Der Vorzeigeregisseur des polnischen Theaters ist ein großer Literaturverdichter."

"Ritual erfolgreich absolviert", attestiert Katrin Bettina Müller in der taz dem Berliner Theatertreffen nach Sichtung der beiden letzten Inszenierungen. Christine Wahl hadert im Tagesspiegel weiter mit der Frauenquote, die für die nächsten beiden Jahre beim Theatertreffen gelten soll. Ihr wäre eine genderblinde Auswahl lieber: "Was den Blindfold-Gedanken so interessant macht, ist der Eindruck, dass in der gegenwärtigen Diskussion beide Aspekte der Gender-Debatte - der institutionelle und der ästhetische - selbstverständlich in eins gesetzt werden. Man scheint irgendwie unausgesprochen davon auszugehen, dass Regie führende Frauen automatisch auch die progressiveren Geschlechterbilder produzieren."

Im Sommer muss Berlins Kultursenator Klaus Lederer bekanntgeben, wer ab 2021 die Volksbühne übernehmen soll. Ulrich Seidler erfährt vom Dortmunder Intendanten und Regisseur Kay Voges  im Interview mit der Berliner Zeitung immerhin so viel: "Wenn ich diese Lösung wäre, würde ich bestimmt Bescheid wissen. Ich werde an dem Haus inszenieren. Ich glaube nicht, dass ich den Intendantenjob erben werde. Mit mir hat Lederer jedenfalls nicht geredet. Da kann ich Ihnen jetzt keinen Scoop liefern."

Besprochen werden Jetske Mijnssens Inszenierung von Jean-Philippe Rameaus "Hippolyte et Aricie" am Zürcher Opernhaus (die Tobias Gerosa in der NZZ als einen Höhepunkt der Saison feiert: "So muss Oper sein!"), Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Ibsens "Peer Gynt" am Frankfurter Schauspielhaus (FR), Jean-François Sivadiers befreiende Version von Ibsens "Volksfeind" am Pariser Théâtre de l'Odéon (FAZ), Berlioz' Oper "Fausts Verdammnis" in Glyndebourne (FAZ)
Archiv: Bühne

Literatur

Der Iran öffnet zwar zaghaft seine Zensurbestimmungen, die die Literaten des Landes jahrzehntelang zu einer absurden Existenz gezwungen haben, erzählt der Schriftsteller Mahmud Doulatabadi in der SZ. Zu verdanken ist dieser Fortschritt nicht der Politik, sondern der Beharrlichkeit des Widerstands. "Doch jetzt, wo die Zensurbehörde und die Verantwortlichen die Verbote gemildert haben und der Druck von oben allmählich erträglicher wird, taucht ein neues Problem auf und es wird täglich spürbarer. Die Inflation, der drastische Fall der Landeswährung und die enorme Preissteigerung, vor allem für Papier. Wenn es so weitergeht, wird kaum noch jemand Bücher kaufen und die Wirtschaft übernimmt die Funktion der Zensurbehörde."

Andreas Fanizadeh schreibt in der taz einen Nachruf auf den italienischen Schriftsteller Nanni Balestrini.: "In seiner generösen Art, als Autor bescheiden hinter seine Protagonisten zurücktretend, verfasste er auch 'Sandokan. Eine Camorra-Geschichte'. Es ist die vielleicht knappste und zugleich umfassendste, in jedem Fall vergnüglichste Darstellung zur Funktionsweise eines Camorra-Clans in Kampanien."

Weitere Artikel: Tobias Zick besucht für die SZ den österreichischen Verleger Lojze Wieser, der in den vergangenen 23 Jahren mehr als 350 Bücher aus dem osteuropäischen Raum veröffentlicht hat. Besprochen werden unter anderem Leïla Slimanis "All das zu verlieren" (Freitag), Mustafa Khalifas "Das Schneckenhaus" (Dlf Kultur), Ralf Königs Comic "Stehaufmännchen" (SZ), die Ausstellung "Goethe - Verwandlung der Welt" in Bonn (FAZ) und Éric Vuillards "14. Juli" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik

Die hämischen Reaktionen auf Madonnas ESC-Auftritt kann Gerrit Bartels vom Tagesspiegel nicht ohne weiteres stehen lassen: Immerhin hat die Pop-Queen mit ihrem, wie auch Bartels einräumt "wahrlich nicht so großartigem", Auftritt aufmerksamkeitsökonomisch über den Rest der Veranstaltung auf ganzer Linie triumphiert. "So gehört sich das, das verdeutlicht die Proportionen: hier Pop, dort Pop-Trash." Vor allem aber staunt Bartels darüber, welche Emotionen die Künstlerin "nach wie vor zu provozieren in der Lage ist, wie viel Häme und Spott, wie das seit einem Jahrzehnt währende Madonna-Bashing noch immer Konjunktur hat."

Weitere Artikel: Gerhard R. Koch (FAZ) und Thomas Meyer (NMZ) gratulieren dem Komponisten, Musiker und Dirigenten Heinz Holliger zum 80. Geburstag. Die Zeit bringt einen Auszug aus Jens Balzers neuem Buch über die Popkultur der 70er.

Besprochen werden ein von Vladimir Jurowski dirigierter Grisey-Abend in Berlin (Tagesspiegel), Pete Dohertys Berliner Konzert (SZ), das neue Album der Hardrock-Band Black Mountain (Standard) und neue Wiederveröffentlichungen, darunter ein Best-Of aus 40 jahren des Punk-Urgesteins Billy Childish (SZ). Darauf auch dieses Stück:

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