Efeu - Die Kulturrundschau

Verschwenderisch exzentrisch

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27.02.2019. taz und Tagesspiegel bewundern Jia Zhang-kes neuen Film "Asche ist reines Weiß", der Chinas Transformation als ungeordnetes Nebeneinander von Freiheit, zerbrechenden Welten und organisiertem Verbrechen zeigt. Die SZ spürt in den Großsiedlungen der Neuen Heimat der Sehnsucht nach einem anderen Morgen nach. Die NZZ fragt, wie sich die weibliche Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts in Luft auflösen konnte. Die NY Times blickt auf die Whitney Biennale, die nicht jung, heiß und neu wird, sondern prekär. Und auch heute trauern die Feuilletons um Tak-Talk-Sänger Mark Hollis.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.02.2019 finden Sie hier

Film

Beeindruckend: Zhao Tao in "Asche ist reines Weiß"

Mit "Asche ist reines Weiß" zeigt der chinesische Regisseur Jia Zhang-ke den Wandel, den sein Heimatland in den knapp letzten zwanzig Jahren durchlaufen hat, erklärt Fabian Tietke in der taz. "Die wilden Jahre zu Beginn der Transformation Chinas sind in dem Film ein ungeordnetes Nebeneinander von Freiheit, zerbrechenden Welten, organisiertem Verbrechen, Korruption und Aufbruchsplänen. ... Der Bauboom, die Veränderung der Infrastruktur sind tief in den Film eingeschrieben", was gut zu dem Projekt passt, dem sich der Filmemacher seit knapp zehn Jahren verschrieben hat. Auch Tagesspiegel-Kritiker Gregor Dotzauer ist beeindruckt - einerseits vom rasanten Wandel des Landes, das gerade noch die Kohleminen schließt und auf einmal mitten im Hi-Tech-Hochbetrieb steht, andererseits vom Film selbst, für den Jia Zhang-Ke "einen suggestiven Rhythmus entwickelt. Er nimmt sich Zeit für das Unscheinbare und verkürzt mit Ellipsen gewaltige Sprünge." Wobei den Kritiker insbesondere die Schauspielerin Zhao Tao beeindruckt, die er noch nie besser hat spielen sehen: "Als Gangsterliebchen geht sie mit ihrem ganzen Frohsinn noch ganz aus sich heraus und knufft fröhlich Leute in die Seite. Dann wächst sie als junge Heldin über sich hinaus, fällt in der Haft, ohne die Haltung zu verlieren, kreidebleich in sich zusammen, gaunert sich nach der Entlassung mit den Tricks ihres Gewerbes ins Leben zurück und endet als Frau, die sich ihre Gebrochenheit nicht anmerken lässt." Patrick Wellinski hat für Dlf Kultur mit dem Regisseur gesprochen.

Weitere Artikel: Für ZeitOnline porträtiert Patrick Heidmann die britische Schauspielerin Olivia Colman, die bei der Oscarverleihung am letzten Sonntag für ihre Leistung in "The Favorite" als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde.

Besprochen werden Marielle Hellers "Can You Ever Forgive Me?" mit Melissa McCarthy (Standard), Rupert Hennings "Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein" nach der gleichnamigen autobiografischen Erzählung von André Heller (Standard) und die von ZDFNeo online gestellte Serie "Dead End" (FAZ).
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Architektur

Kiel Mettenhof. Foto: Hans Konwiarz / Hamburgisches Architekturarchiv

Als fulminant, denkwürdig und mit eindringlichen Fotografien bebildert rühmt Gerhard Matzig in der SZ die große Ausstellung im Architekturmuseum der TU München zur Neuen Heimat, die das neue Denken und Bauen schaffen wollte und am Ende skandalumtost endete. Insgesamt eine halbe Million Wohnungen baute der Wohnungskonzern: "Die Ausstellung macht klar, warum es nicht allein der Hass auf das Gestern, sondern mehr noch die Sehnsucht nach einem anderen Morgen war, der eine ganze Generation von Architekten, Stadtplanern, Bauenden und Wohnenden in den geschichtsvergessenen Furor des nachkriegsmodernen Städtebaus geschickt hat. Gerade im Auftrag der Neuen Heimat, die zunächst günstigen Wohnraum schaffen (und später viel Geld damit verdienen) wollte. So sind all die Großbauten entstanden, die man noch heute kennt, fürchtet oder durchaus auch liebt: Nürnberg Langwasser, Kiel Mettenhof, Bremen Neue Vahr, Hamburg Mümmelmannsberg. Die Ausstellung bindet die Projekte geschickt ein in die Geschichte des Städtebaus und arbeitet die Verschiedenheiten heraus: Großsiedlung ist nicht gleich Großsiedlung."
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Kunst

Elena Luksch-Makowsky, Adolescentia, 1903. Belvedere Wien
Epochal nennt nun auch Werner Bloch in der NZZ die Schau "Stadt der Frauen", mit der das Wiener Belvedere die verschollene weibliche Moderne rehabilitieren will. 56 Wiener Künstlerinnen aus der Zeit von 1900 bis 1938 werden vorstellt, darunter Mariette Lydis, die Prostituierte, Lesben und Verbrecherinnen malte, Broncia Koller-Pinell, deren Gemälde an van Gogh erinnern, oder Helene Funke, die sich in dramatischen Selbstporträts ergründete, wie Bloch schreibt: "Die Zeit der Blümchen und naiven Landschaften war ein für alle Mal vorbei. In nur vierzig Jahren beteiligten sich Frauen an allen künstlerischen Strömungen, sie kreierten sogar ihre eigene Kunstrichtung, den Wiener Kinetismus: eine Mischung aus Futurismus und Konstruktivismus, mit tanzenden Ziffern und zinnoberroten Buchstaben, rotierenden Maschinen und urbaner Architektur - Kunst, die man eher männlichen Technikfreaks zutrauen würde. Ab 1938 folgt der Crash, der Zusammenbruch der weiblichen Avantgarde. Wie konnte sich diese innerhalb nur weniger Jahre in Luft auflösen?"

Jilian Steinhauer blickt in der New York Times auf die kommende Whitney Biennale voraus, die wieder einmal sehr divers sein wird: "Zu den bekannteren Namen gehören Nicole Eisenman, Jeffrey Gibson, Barbara Hammer und Wangechi Mutu. People of Color stellen die Mehrheit, und so viele junge Künstler waren selten auf einer Biennale vertreten, dreiviertel aller Künstler sind unter 40. Nur fünf haben bisher auf einer Whitney Biennale ausgestellt. Rujeko Hockley betont, dass die Auswahl nicht der Faszination für alles entspringe, was 'heiß, jung und neu' ist, sondern zeigen will, wie viele Künstler 'einem unglaublichen Druck von allen Seiten' ausgesetzt sind, darunter Schulden von M.F.A. Programmen, dem Zusammenbruch kleiner Galerien, die beim Start ihrer Karrieren helfen könnten und der Schwierigkeit, bezahlbare Studios zu finden und zu halten."

Weiteres: Hyperallergic unterhält sich mit der Malerin Haley Mellin über die von ihr und ihrem Bruder ins Leben gerufene Plattform Conserve.org, über die per Crowdsourcing Land konserviert werden kann. Das Projekt startete mit einem Wüstenstreifen in Oregon und soll demnächst auch Regenwald in Guatemala umfassen.

Besprochen werden die Ausstellung "The Power of the Line" der rumänischen Künstlerin Geta Brătescu bei Hauser & Wirth in London (Guardian), die grellbunten Stadtlandschaften der Schweizer Künstlerin Anna Meyer im Kunsthaus Nexus in Saalfelden (Standard) und die Ausstellung "Demokratie - verhandeln" im Innsbrucker Kunstpavillon (Standard).
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Bühne

Besprochen werden eine Bühnenfassung von Elena Ferrantes Romanerfolg "Meine geniale Freundin am Nationaltheater Mannheim (SZ), Bedrich Smetanas "Dalibor" an der Oper Frankfurt (FR), die Uraufführung von Michael Wertmüllers Byron-Oper "Diodati. Unendlich" am Theater Basel (FAZ), das Industriellendrama "Kriegsbeute" am Berliner Ensemble (Tsp) und Herbert Fritschs Zürcher Krimiabend "Totart Tatort" (FAZ).
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Literatur

Die Schriftstellerinnen Yoko Tawada und Yuko Chigara waren im Literarischen Colloquium in Berlin zu Gast, berichtet Mira Nagel in der taz. Die Agenturen melden, dass nun auch Sara Denius, die Vorsitzende des Literaturnobel-Kommitees, die Schwedische Akademie verlässt. Im Logbuch Suhrkamp liest Albert Ostermaier sein Gedicht "Redseligkeit".

Besprochen werden unter anderem Gabriela Adameșteanus nach 35 Jahren nun auch auf Deutsch vorliegender Roman "Verlorener Morgen" (Tagesspiegel), Mela Hartwigs "Inferno" (Zeit), Barbara Honigmanns "Georg" (NZZ), Marcel Prousts Briefwechsel mit Reynaldo Hahn (Literaturkritik.de), Anna Giens und Marlene Starks "M" (Literaturkritik.de), Julian Barnes' "Die einzige Geschichte" (NZZ), James Baldwins wiederaufgelegter Essay "Nach der Flut das Feuer" (SZ) und Josepha Mendels' "Du wusstest es doch" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik

Die ersten Nachrufe auf Mark Hollis von Talk Talk hatten wir gestern schon verlinkt, jetzt hat auch der Rest des Feuilletons nachgezogen. Im Tagesspiegel geht Kai Müller vor allem vor dem Spätwerk von Hollis' Band auf die Knie. Ein wohl einmaliger Akt der willentlich eingegangenen kommerziellen Selbstzerstörung einer Mega-Seller-Band, die sich vom 80s-Pop löste und in experimentellere Gefilde abdriftete: "Je mehr Talk Talk ihr Publikum verstörten, es überforderten und schließlich verloren, desto besser wurde ihre Musik - ein undurchdringliches Dickicht aus Jazz, Pop, Postrock und Neuer Musik, aus sakralen, poetischen und profanen Elementen, spannungsgeladen bis in die letzte Faser. Ein mystisches Universum aus leerem Raum und Gravitation." Mit "Spirit of Eden" gelang der Band "einfach nur eines der schönsten Alben aller Zeiten", schwärmt Michael Pilz in seinem Nachruf in der Welt. "In den freien Stücken löst sich selbst die Zeit auf und auch die Zeit, in der sie spielen." Aufgelöste Zeit, ein leerer Raum - das passt gut zu Hollis selbst, der sich zusehends aus der Öffentlichkeit zurückzog. Sein letztes musikalisches Lebenszeichen ist über 20 Jahre her, erklärt Tobias Rüther in der FAZ, der in Hollis daher auch eine Art Salinger der Popmusik sieht, was im kommerziellen Pop-Betrieb nochmal besonders "verschwenderisch exzentrisch" wirkt: "Abwesenheit, Stille, ausbleibende Signale: Was Hollis im Leben tat, hatte er in der Kunst vorbereitet: Sie ist um Leere herum inszeniert - welche Ironie, wenn man an den Namen seiner Band denkt." Weitere Nachrufe in taz und Standard.

In seiner ziemlich epischen Hommage auf The Quietus geht Wyndham Wallace dem Faszinosum des späten Talk-Talk-Werks nach: Bei den letzten beiden Alben handelt es sich um "unwägbare Reisen in musikalische Landschaften, die bis dato weder erforscht, noch vertraut waren. Später haben Musiker sie immer wieder zu erkunden versucht, wenn auch meist vergeblich. Sie verzichten auf traditionelle Strukturen, Techniken und sogar Instrumente. Ihre organischen Texturen sind bestimmt von Hollis' Glauben daran, 'dass etwas dann am besten ist, wenn es zum allerersten Mal gespielt wird. In dem Moment, in dem man versucht, etwas nachzustellen, gerinnt es zur Imitation von etwas, das ursprünglich besser war.' Noch wichtiger war seine Überzeugung, dass 'Technik mir nie viel bedeutet hat. Das Gefühl steht immer über der Technik und wird auch immer darüber stehen.' Wie vollkommen richtig er damit lag."



Weitere Artikel: Für ZeitOnline plaudert Daniel Gerhardt mit Jason Williamson von den Sleaford Mods. Online nachgereicht, freut sich Martin Benninghoff in der FAZ über die Renaissance des Gitarren-Solos unter neuen Vorzeichen. Für The Quietus spricht Patrick Clarke mit Seb Rochford, dem früheren Bandleader von Polar Bear, über sein neues Projekt Pulled By Magnets.Im "Remain in Light"-Blog des Standard erinnert Karl Fluch an die gemeinsame Musik von Nancy Sinatra & Lee Hazlewood.

Besprochen werden der Auftakt einer Reihe mit Laurie Anderson in der Elbphilharmonie (taz), ein Konzert der Pianistin Martha Argerich (Berliner Zeitung, Tagesspiegel), Robin Ticciatis Berliner Brahms-Zyklus mit dem Deutschen Symphonie-Orchester (SZ), der Berliner Nerven-Auftritt (Tagesspiegel), Mare Nostrums Album "III" (Skug), ein Auftritt des Jazz-Schlagzeugers Alexander Yannilos unter dem Projektnamen Motherdrum (Skug) und neue Popveröffentlichungen, darunter als besondere Entdeckung Spellings Album "Mazy Fly", auf dem "kosmische Synthie-Songs versponnen und langsam vor sich hinpluckern", was ingesamt "irre schön" ist, so SZ-Popkolumnistin Annett Scheffel. Wir hören rein:

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