Efeu - Die Kulturrundschau

Kapriziös, schnell und kühn

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17.10.2017. In der Fotografie geht es nicht mehr ums Sehen, sondern nur noch ums Zeigen, klagt Wim Wenders im Guardian. Die SZ erstarrt in Köln vor dem furchterregenden Intellekt des jungen Tintoretto. Die Berliner Zeitung goutiert Barrie Koskys streng minimalistische Inszenierung von Debussys "Pelléas et Melisande" in der Komischen Oper Berlin. ZeitOnline erkundet die Neoklassik-Szene in der Berliner Nalepastraße. Und die taz gratuliert der Zeitschrift für Architektur und Städtebau arch+ zum Fünfzigsten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.10.2017 finden Sie hier

Kunst


Tal der Götter, Utah, 1977. Foto: Wim Wenders. Deutsches Filminstitut Frankfurt / Photographers' Gallery

Für den Guardian unterhält sich Sean O' Hagan mit Wim Wenders, dessen Polaroids aus den siebziger Jahren die Photographers' Gallery gerade in der Londoner Ausstellung "Instant Stories" zeigt. Aber klar, ist auch für Wenders Fotografie eine Sache von gestern: "Nicht nur die Bedeutung des Bildes hat sich verändert - das Sehen selbst hat nicht mehr dieselbe Bedeutung. Jetzt geht es ums Zeigen, Senden und vielleicht Erinnern. Es geht nicht mehr ums eigentliche Bild. Das Bild war mich immer verbunden mit der Idee der Einzigartigkeit, mit Rahmen und Komposition. Man erzeugte einen einzigartigen Moment. Das hatte etwas Heiliges. Diese ganze Vorstellung ist verschwunden."


Jacopo Tintoretto, Joseph und Potiphars Weib, Museo Nacional del Prado, Madrid.

Hellauf begeistert kommt jetzt auch SZ-Kritiker Gottfried Knapp aus der großen Schau über den jungen Tintoretto im Kölner Wallraf-Richartz-Museum: "Als Giorgio Vasari 1568 Venedig besuchte, beschrieb er den Maler als einen künstlerisch vielseitig interessierten, begabten und beliebten Zeitgenossen. Aber: 'In allem, was die Malerei anbelangt, ist er wunderlich, kapriziös, schnell und kühn und der furchterregendste Intellekt, den die Malerei je besessen.' Als Tintoretto um 1554 sechs alttestamentarische Szenen, in denen Frauen die zentralen Rollen spielen, auf extrem querformatige Leinwände pinseln durfte, hatte er Gelegenheit, zu zeigen, dass er den unbequem in die Breite gedehnten Bildraum mit vibrierendem Leben zu füllen vermag. In der Szene 'Joseph und Potiphars Weib' aus dem Prado Madrid misst er sich sogar frech mit dem lokalen Malergott Tizian. Er zeigt, wie er den Großmeister der weiblichen Akte in seinem ureigenen Genre an fleischlicher Sinnlichkeit effektvoll übertreffen kann." In der Welt zeigt sich selbst Hans-Joachim Müller beeindruckt, obwohl er es gewohnt ist, Tintorettos im Dogenpalast von Venedig auf 154 Quadratmetern zu sehen.

Weiteres: Standard-Kritikerin Anne Katrin Fessler kommt nicht ganz überzeugt aus der Schau "Die Kraft der Verwandlung", mit der das Kunstistorische Museum Rubens vom Ruch befreien will, ein fieser, vulgärer, lauter Maler des Fleisches zu sein. Nicole Scheyerer besichtigt für die FAZ die große Raffael-Schau in der Wiener Albertina.
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Bühne


Jonathan McGovern und Nadja Mchantaf  in "Pelléas et Melisande" an der Komischen Oper. Foto: Monika Rittershaus

Streng minimalistisch nennt Martin Wilkening Barrie Koskys Inszenierung von Debussys "Pelléas et Melisande" an der Komischen Oper in Berlin: "Die Figuren haben keine eigentlichen Auf- und Abtritte, sondern werden auf ihren unterschiedlichen Bahnen von der in drei Ringe geteilten Drehbühne bewegt, in einem Raum, den Kosky selbst als 'Uhrwerk des Schicksals' bezeichnet. Der Wald, in dem Golaud sich verirrt, das ist hier Mélisande selbst, wie das Schattenspiel ihrer Hände zeichenhaft andeutet, in einer Geste, die Kosky mehrfach an entscheidenden Stellen wiederkehren lässt. Und der Brunnen, in dem Mélisande Golauds Ring verliert, als sie Pelléas begegnet, das ist ihr eigener Schlund, beim Spielen verschluckt sie ihn aus Versehen. Auf den Ringen der Drehbühne hat jede der Figuren ihre eigene Umlaufbahn." Clemens Haustein ist in der FAZ allerdings nicht ganz zufrieden mit dem Orchester: "Die Musik will nicht atmen."

Weiteres: In der taz berichtet Iwona Uberman, wie die polnische Regierung den renommierten Intendanten Jan Klata abgesetzt hat, der bisher sehr erfolgreich das Stary Teatr in Krakau führte. An seine Stelle rückt der Kulturjournalist Marek Mikos. In der Berliner Zeitung meldet Ulrich Seidler, dass die geräumter Besetzer der Volksbühne jetzt Geld sammeln, um eine kleine Delegation zum Wirtschaftsgipfel der SZ in Hotel Adlon zu schicken, an dem auch Chris Dercon teilnehmen wird. Panel 8 zum Thema: "Anders führen − was können Manager von Führungskräften aus anderen Bereichen lernen". Mit der "Götterdämmerung" in Karlsruhe hat Regisseur Tobias Kratzer bleibenden Eindruck bei SZ-Kritiker Helmut Mauró hinterlassen: "Es geht ihm weniger um großspurige Einfälle und Deutungen als um eine wie organisch sich entwickelnde Detailsprache, gestische Logik, menschliche Körper- und Gemütsbewegung. Er wird 2019, zusammen mit seinem Bühnenbildner Rainer Sellmaier, die Neuproduktion des 'Tannhäuser' in Bayreuth übernehmen."

Besprochen werden Jonathan Meeses "Mondparsifal" in einer Beta-Version im Haus der Berliner Festspiele (sehr spaßig, aber absolut harmlos, meint Frederik Hanssen im Tagesspiegel, Nachtkritik), Robert Carsens Inszenierung von Alban Bergs Oper "Wozzeck" am Theater an der Wien (Standard), Verdis "Die Räuber" an der Volksoper Wien (Standard), Verdis "Don Carlos" in der französischen Originalversion in paris (NZZ), Stephan Kimmigs "Faust" am Schauspiel Stuttgart, der Goethe mit Elfriede Jelineks feministischem Stück "Faustin and out" montiert (SZ) und Pinar Karabuluts "Romeo und Julia" in Köln (FAZ).
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Musik

Andreas Hartmann wirft für ZeitOnline einen Blick in die sich rund um das alte Funkhaus Nalepastraße in Berlin formierende Neoklassik-Szene, die aus Punk und Techno kommt und das Klavier für sich entdeckt. Insbesondere die Grandbrothers sind ihm dabei aufgefallen, die das Klavier mithilfe von Computerprogrammen auf so vielfältige Weise zum Klingen bringen, "dass man ihrer Musik gar nicht mehr anhört, dass sie ganz aus Klaviertönen besteht. Der eine Grandbrother, Erol Sarp, sitzt an den Tasten. Alles wie gehabt. Sein Partner Lukas Vogel ihm gegenüber jedoch programmiert Hämmerchen, die das Holz des Instruments bearbeiten oder die Saiten im Inneren des Flügels betupfen. Mit Sequenzerprogrammen werden die Klänge zu rhythmischen Pattern gefügt, Beats und Loops, die sich um die Klavierakkorde schlängeln: Dancemusik aus dem Flügel." Das klingt dann so:



Außerdem: In The Quietus erinnert David Chiu an das vor 40 Jahren erschienene Queen-Album "News of the World", bei dessen Produktion es in den Studios zu Reibereien zwischen Freddie Mercury und Sid Vicious von den Sex Pistols kam.

Besprochen werden ein Hadyn-Konzert von Giovanni Sollima und Giovanni Antonini (Tagesspiegel), Goran Bregovićs Album "Three Letters From Sarajevo" (Tagesspiegel), das neue Album von Courtney Barnett und Kurt Vile (Tagesspiegel) und ein Auftritt von Lorde, die Andreas Busche im Tagesspiegel als "das schönste Störsignal im aktuellen Hochglanz-Pop" bezeichnet.
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Film

Für die Spex hat sich Ester Cara mit Annett Busch und Tobias Hering zusammengesetzt, die eine Berliner Ausstellung über das Schaffen und Wirken des Filmduos Huillet/Straub kuratiert haben. Für Busch ist das Gespann mit seiner filmischen Askese und dem formalen Rigorismus "Punk drei Schritte weitergedacht. Eine ziemlich komplexe und zugleich radikal einfache Provokation." Und für Tobias Hering sind sie "radikal auch deswegen, weil sie etwas ganz einfaches mit den Grundelementen des Kinos machten."

Besprochen werden die laut Renate Stih glänzend kuratierte Schau "Bestiale" über Tiere im Kino im Filmmuseum Turin (taz) und Na Hongjins Horrorfilm "The Wailing" (SZ) sowie zwei Berliner Ausstellungen sowie eine Retrospektive zum Schaffen Harun Farockis (NZZ).

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Literatur

Deniz Utlu umkreist im Freitag Fragen nach der Sprache als Speicher der Zeit und Resonanzraum historischer Erfahrungen. "Der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, sowie der Ort, an dem ich mich befinde, stehen in einem Verhältnis zu mir. Wenn ich über sie nachdenke, denke ich über mich selbst nach und umgekehrt. Ich frage nach der Geschichte des Ortes, an dem ich lebe, an dem ich mich entwerfe, weil mich hier die Stränge der Vergangenheit treffen, in den Institutionen, im Alltag. Auch was die Eltern tradieren, die nicht in Deutschland geboren sind, was sie weitergeben, sickert durch die Gesteinsschichten des Ortes zu mir, an dem nun auch sie schon den größeren Teil ihres Lebens verbracht haben."

Weiteres: Sylvia Prahl besucht für die taz die Ausstellung "The Critic as Artist" in Reading, die zugleich Manifest sein will. Jakob Hayner spricht für die Jungle World mit Pedro Kadivar über Migration, Literatur und Begriffe der Fremdheit. In der FR schreibt Ingrid Müller-Münch über das Dorf Sanary-sur-Mer an der Côte d'Azur, wo in den 30ern zahlreiche aus Deutschland geflohene Schriftsteller Unterschlupf fanden. Elise Graton hat für die taz Buchmessestände frankofoner Verlage aus Afrika besucht. Anna Fastabend stellt in der FR den Binooki Verlag aus Berlin vor, der sich auf die Übersetzung türkischer Gegenwartsliteratur spezialisiert hat. Laura Meier spricht in der FR mit der Übersetzerin Lena Müller.

Besprochen werden Tanguy Viels "Selbstjustiz" (FR), Jean-Paul Krassinskys Comic "Affendämmerung" (Tagesspiegel), Péter Nádas' Memoiren "Aufleuchtende Details" (NZZ, online nachgereicht von der Zeit) und Franziska Meiforts Biografie über Ralf Dahrendorf (SZ).
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Architektur


Lab City CentraleSupélec von Ellen van Loon mit OMA. Foto: Philippe Ruault

Joseph Hanimann besucht für die SZ den Wissenschaftscampus von Saclay südlich von Paris, auf dem Rem Koolhaas' Büro OMA eine Lab City errichtet hat. Kreuz und quer sind dort Quartiere miteinander verbunden, die Materie, Energie, Leben oder Mensch und Welt heißen: "Was von der Struktur her an die 'Rostlaube' der Berliner FU mit ihren Längs- und Querfluren, Kreuzungen und Innenhöfen erinnern mag, ist in Wirklichkeit so ziemlich das Gegenteil. Nicht Absonderung gegen außen, nicht Durchschleusung der Studenten durch ein Labyrinth von Verbindungswegen sind in Saclay angesagt, sondern Verlangsamung, Begegnung, Vermischung in einem urbanen Gesamtraum unter dem alles überspannenden Dach auf 11 Metern Höhe."

Brigitte Werneburg schickt aus der taz solidarische Grüße nach Aachen, wo die Zeitschrift für Architektur und Städtebau arch+ ihr 50-jähriges Bestehen feiert: "1967 an der Universität Stuttgart gegründet, war sie zunächst akademisches Revoluzzerblatt mit einer antiautoritären Redaktionsgruppe in Aachen und einer marxistischen in Westberlin. Erstere sympathisierte mit Systemtheorie und druckte 1971 eine Diplomarbeit, die Habermas folgend eine kommunikative Theorie des Planens und Bauens entwarf. Letztere trennte sich 1977 von der Zeitschrift mit dem Vorwurf, die Aachener hätten arch+ zu einer bürgerlichen Zeitschrift gemacht. Das war sie, im akademischen Milieu geboren, natürlich von Anfang an."
Archiv: Architektur