9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Geschichte

1348 Presseschau-Absätze - Seite 8 von 135

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.09.2023 - Geschichte

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In seinem aktuellen Buch "American Matrix" wendet sich der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel Amerika zu, aber ganz verlassen kann er sein Spezialgebiet nicht, wie er auch im SZ-Gespräch mit Moritz Baumstieger erklärt. Er zeichnet Parallelen zwischen USA und Sowjetunion nach: "Beide Staaten verstanden sich als Länder im Aufbruch in Richtung Moderne, als Pionierstaaten, in denen die Zukunft geschrieben wird. Nicht das alte Europa mit seinen Klassen- und Ständegesellschaften, seinen Nationalismen war der Orientierungspunkt, sondern die Schaffung einer neuen Welt. (…) Fast gleichzeitig wurden in den USA der Hoover-Damm und in der Sowjetunion der Damm am Dnjepr bei Saporischschja gebaut. Sowohl in der Formensprache als auch beim heroischen Pathos, der die Bauten umgab, gab es eine große Nähe - und doch unter radikal verschiedenen Bedingungen: Ins entlegene Nevada zogen die Arbeiter wegen der hohen Arbeitslosigkeit freiwillig, die am Dnjepr folgten einer Zwangsmobilisierung von oben." Das Buch hat Wolf Lepenies gestern in der Welt besprochen.

Sechs Jahre nach dem ersten Spatenstich und mit Kosten, die von 14,3 auf 30,1 Millionen Euro stiegen, ist jetzt der Neubau für das NS-Dokumentationszentrum am Obersalzberg mit neuer Dauerausstellung eröffnet worden, meldet unter anderem Gabi Czöppan im Tagesspiegel. Immerhin, das Konzept überzeugt, meint sie: "Die fünf Kapitel führen von der 'Bühne Obersalzberg', dem 'Führer' und der 'Volksgemeinschaft', der 'Bergwelt und Weltmacht' über 'Täterort und Tatorte' bis zum kritischen letzten Teil 'Nach Hitler'. Noch lange nach Kriegsende lockte man mit dem Hitler-Kult und Andenken-Kitsch Touristen an. Offiziell kamen die Gäste aus aller Welt wegen der guten Bergluft, aber Berchtesgaden verdiente auch gut an Hitlers Erbe. Der Umgang mit der eigenen Geschichte galt lange Zeit als fragwürdig."

Der postkoloniale Historiker Jürgen Zimmerer hat in einem Zeit-Sonderheft zu Geschichte strikt nach Moses (Dirk A.) behauptet, Deutschland verfolge "ein völkisches Konzept von Vergangenheitsbewältigung" und reduziere die Lehren aus dem Nationalsozialismus "auf den Holocaust und eine bestimmte Form antisemitischer Verbrechen". Andreas Kilb muss in der FAZ sehr staunen: "Hat Zimmerer die Geschichtsdebatten der letzten sechzig Jahre verschlafen? Hat er die Kontroverse um die Wehrmachtsausstellung verpasst? Ist ihm entgangen, dass es in Berlin nicht nur ein Holocaust-Mahnmal, sondern auch eines für die ermordeten Sinti und Roma und die verfolgten Homosexuellen gibt; dass dort ein Polnisches Haus und ein Dokumentationszentrum zur deutschen Besatzungsherrschaft in Europa geplant sind?"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.09.2023 - Geschichte

Anlässlich des 75. Jahrestag des Münchner Abkommens erinnert Stefan Braun in der taz an die "Deutsche sozialdemokratische Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik" (DSAP), die nach 1933 maßgeblich an der Rettung und der Koordination des sozialdemokratischen Widerstands gegen Adolf Hitler beteiligt war. Anders als die Nazis von der SdP hatte  sich dien DSAP zur Tschechoslowakei bekannt. Und die Anhänger der DSAP bereiteten sich auf einen Krieg gegen Hitler vor. Doch mit dem Münchner Abkommen vom 30. September 1938 geben Neville Chamberlain und Edouard Daladier das Sudetenland preis, die DSAP wird ihrem Schicksal überlassen. "Am 1. Oktober beginnt der Einmarsch der Wehrmacht in das Sudetenland. Überall wird sie von vor Freude weinenden Menschen begrüßt. Einem Teil der Sudetendeutschen geschieht nun das, was ihnen die SdPler angedroht hatten: Sie werden öffentlich misshandelt und durch die Straßen getrieben, 10.000 bis 20.000 deutsche Antifaschisten werden verhaftet - kommen ins Gefängnis oder ins Konzentrationslager. Von ihrer Regierung erfahren die sudetendeutschen Sozialdemokraten wenig Hilfe: Geflüchtete werden von der Regierung zurück ins Sudetenland geschickt."

Außenaufnahme der neuen Dokumentation Obersalzberg. Foto: Institut für Zeitgeschichte / Leonie Zangerl


Hannes Hintermeier hat für die FAZ das neue NS-Dokumentationszentrum auf dem Obersalzberg besucht und ist beeindruckt: "Einen 'Rummelplatz der Zeitgeschichte' hat man den Obersalzberg genannt. Gegen dieses Image arbeitet das neue Dokumentationszentrum überzeugend mit den Mitteln der Aufklärung an", so der Kritiker. "Die Ausstellung trägt den Titel 'Idyll und Verbrechen', sie geht bewusst vom Ort aus, will keine Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus bieten. Der hat auch in Berchtesgaden einmal klein angefangen, entwickelte die 'Volksgemeinschaft' durch das Handeln konkreter Menschen aus der Gemeinde, die Ausgrenzung betrieben, Hakenkreuzfahnen hissten, völkische Parolen schmetterten und profitierten, wenn Nachbarn fliehen mussten, weil sie Juden waren."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.09.2023 - Geschichte

In der taz skizziert Johannes Spohr, wie Museen und Geschichtswissenschaft in der Ukraine bereits auf den aktuellen Krieg reagieren. Oral History spielt eine große Rolle, Artefakte aus dem Krieg werden gesammelt und Ausstellungen organisiert, etwa im Nationalen Museum der Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg, das sich derzeit sowohl methodisch als auch inhaltlich neu orientiert: "Künftig soll die ukrainische Nationalgeschichte und der Kampf für Unabhängigkeit im Zentrum einer Erzählung stehen, die im Jahr 1914 mit dem Ersten Weltkrieg begonnen habe und bis in die Gegenwart reiche. 'Im Zweiten Weltkrieg befanden sich zwei Armeen totalitärer Regime auf dem Territorium der Ukraine', beschreibt es die Mitarbeiterin Milena Tschorna. 'Und die Ukrainer*innen befanden sich inmitten eines andauernden Kampfes für Unabhängigkeit, den sie 1919 mit der Niederlage gegen die Bolschewiki verloren hatten.' Eine Gleichsetzung von Wehrmacht und den Streitkräften der Russischen Föderation, die derzeit in der Ukraine wüten, sehen die Mitarbeiter*innen allerdings kritisch. Zu viel unterscheide die Situationen, um so zu Erkenntnissen zu gelangen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.09.2023 - Geschichte

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Die DDR war "nicht nur eine Diktaturgeschichte", behauptet die Historikerin Christina Morina, deren Buch "Tausend Aufbrüche - Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren" diese Woche erscheint, auf den "Leben"-Seiten der FAS im Gespräch mit Stefan Locke: "Der Demokratiebegriff hat in der DDR nicht nur eine rein propagandistische Rolle gespielt, sondern er war eine wirkmächtige Formel. Dahinter steckte ein Anspruch, der durchaus vergleichbar war mit dem Demokratieanspruch in der Bundesrepublik, nämlich aus dem Nationalsozialismus Lehren zu ziehen und eine bessere, eben demokratische Ordnung aufzubauen. Die Breite der ostdeutschen Gesellschaft, über die viel zu wenig gesprochen wird, hat diesen Anspruch geteilt und auf vielfältige Weise versucht, ihm gerecht zu werden. Diese weitere gesellschaftliche Perspektive auf Revolution und Einheit fehlt bislang. Wir verstehen die Geschichte aber besser, wenn wir anerkennen, dass es nicht nur eine westdeutsche Demokratiegeschichte gab, zu der die Ostdeutschen 1990 unvermittelt dazukamen."

Die Schweiz pflegte bis zur Revolution 1917 ein gutes Verhältnis zu Russland. Russische Aristokraten kamen auf Kur ins Land, Revolutionäre wie Lenin planten hier ihre nächsten Schritte. Diese Idylle zerbrach, schreibt Urs Hafner in der NZZ, als die Schweiz, auf Druck anderer westlicher Staaten hin, selber russische Diplomaten ausweisen muss. Der sowjetische Vertreter des Roten Kreuzes, Sergei Bagozki, ist "für einige Jahre der einzige Repräsentant der Sowjetunion, der im Ausland geduldet wird." Somit gilt er für eine lange Zeit als einzige Interessenvertretung der Russen in Europa - und wurde gleichzeitig von den Behörden verdächtigt und denunziert. "Die Anschuldigungen sind abstrus. Die Gazette de Lausanne berichtet, er wolle das Bundeshaus in die Luft sprengen. (...) Der italienische Botschafter behauptet, Bagozki installiere im Auftrag Moskaus eine Sowjetregierung." Außerdem: Sepp Mall, auch NZZ, erinnert an das Schicksal der Süd-Tiroler Bevölkerung, als diese sich 1939 zwischen NS-Deutschland und dem faschistischen Italien entscheiden musste.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.09.2023 - Geschichte

Und auch die Historiker: Ratlos in der Zirkuskuppel, schreibt Jörg Häntzschel in seinem Resümee des Historikertags in Leipzig für die SZ. Das Thema war "Fragile Fakten", hochaktuell also. Aber dafür interessierte sich eigentlich keiner: "Die meisten Forscher brennen darauf, ihre Arbeit vor Kollegen vorzutragen, doch sie mit einem größeren Publikum zu teilen, scheint die wenigsten hier zu interessieren. Auftritte auf Ted-Konferenzen sind Youtube-Hits, doch hier lesen viele ihre Vorträge ab, ohne aufzuschauen, haben Powerpoint noch nicht entdeckt, überziehen zuverlässig die Redezeit."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.09.2023 - Geschichte

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Christopher Clark legt eine große Studie zur "europäischen" Revolution von 1848 vor. Sie sei nicht so restlos gescheitert wie oft behauptet. Die Ironie sei, dass gerade Konservative nach dem Ende der Revolutionen ihre Ideen vollstreckten: "Die Konservativen blockieren die Revolution, können sie aber nicht rückgängig machen. Bismarck hat zeit seines Lebens anerkannt, dass er ein Mann von 1848 war. Er hat immer gesagt: In der Zeit vor 1848 wäre meine politische Laufbahn nicht möglich gewesen. Er hatte weder die Beziehungen noch das Sitzfleisch, um durch die Ränge des Beamtentums zum Minister aufzusteigen. Das Jahr 1848 hat die Welt aufgerissen. Bismarck kletterte durch diesen Riss und wurde zu dem, was er dann war".

Wie exemplarisch man auf einem Historikertag versagen kann, offenbarte für Patrick Bahners die Eröffnungsrede Frank-Walter Steinmeiers. Es ist ja schön und gut, dass es gegen die AfD geht, aber funktioniert das ohne Nachdenken über den eigenen Anteil an Geschichte? "'Der 24. Februar 2022 hat viele Gewissheiten der letzten Jahrzehnte hinweggefegt.' Unpersönlicher hätte der Rückblick des Präsidenten auf den Außenminister nicht ausfallen können. Im Inkognito des Staatsnotars, der wo immer möglich das Passiv verwendet, ersparte sich Steinmeier jede Andeutung einer Reflexion darüber, dass er selbst ein Handelnder gewesen war, dessen nach ihrer Widerlegung als Gewissheiten ausgegebene Maximen lange vor 2022 Kritik erfahren hatten." In der SZ berichtet Joachim Käppner über den Historikertag.

Außerdem: Was heute der "Globale Süden" ist, war früher die "Dritte Welt", die sich zum Teil in den "Blockfreien" zusammenschloss. Der Historiker Jonas Kreienbaum erinnert in der taz an deren Ruf nach einer "Neuen Weltwirtschaftsordnung" in den 1970er Jahren.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.09.2023 - Geschichte

Buch in der Debatte

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Die Hannoveraner Archäologin Katja Lembke hat zum Genozid an den Herero und Nama das Buch "Die Haifischinsel" publiziert und ganz besonders zu einem Konzentrationslager auf der Haifischinsel, wo Menschen nach den mörderischen Vertreibungen in die Wüste durch den General Lothar von Trotha zusammengetrieben wurden. Eigentlich sollte das Sterben hier beendet werden, aber viele Tote gab es weiterhin, und auch den Verdacht, dass das so sein sollte. Lembke will anders als andere Forscher - wie Caspar W. Erichsen und David Olusoga - nicht von "The Kaiser's Holocaust", sprechen, wie sie im Interview mit Nadine Conti in der taz sagt: "Das finde ich sehr problematisch, denn man muss einfach sehen: Es gab hier einen Genozid-Befehl, der wurde aber nach wenigen Wochen aufgehoben. Das ist etwas völlig anderes als die systematische Ausgrenzung und Vernichtung der Juden über Jahre hinweg. Auch die Tatsache, dass man die Lager nach zwei Jahren aufgegeben hat, spricht ja dafür, dass hier noch eine andere Haltung am Werk war als in der Nazizeit." Dennoch findet sich in dem Buch die Formel: "Die Haifischinsel war nicht Auschwitz, aber sie war ein Schritt auf dem Weg dorthin", die sie so verteidigt: "Wenn Sie sich die Bilder im Buch ansehen, sehen Sie sehr genau diese rassistische 'Herrenmenschen'-Haltung, die die Nationalsozialisten letztlich auf die Spitze getrieben haben. "

9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.09.2023 - Geschichte

In Zusammenarbeit mit lokalen Ahnenforschern, die offenbar genetische Proben von Familien in Tansania organisierten, hat die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Herkunft bestimmter Gebeine nachweisen können, die im Fundus ihrer Museen lagerten, erzählt Simone Schlindwein in der taz, die mit dem Ahnenforscher und Historiker Valence Silayo auch gesprochen hat: "Bei einem Schädel handelt es sich offenbar um den Nachfahren von Chief Mangi Sina, der ein mächtiges Königreich in Kibosho regierte, heute ein Bezirk im ländlichen Distrikt Moshi in der Kilimanjaro-Region. 'Es war das tapferste Königreich im ganzen von den deutschen Truppen besetzten Gebiet', so Silayo. Nach lang anhaltenden Auseinandersetzungen besiegten die Krieger von Mangi Sina die deutschen Schutztruppen 1891. Dafür rächten sich die Deutschen in einem weiteren Feldzug 1893. Mangi Sina musste sich ergeben, seine aus Stein gebaute Festung wurde zerstört, die Deutschen verhafteten seine Krieger und zerstörten damit seine Armee. Er starb 1897. Ihm folgte als Thronerbe sein Sohn Molelia, 'ein mächtiger General und Krieger', berichtet Silayo. Molelia griff die deutschen Truppen erneut an, wurde allerdings gestellt. "Dafür wurde er von den Deutschen am 2. März 1900 gehängt", weiß der Historiker. Seinen abgetrennten Kopf verschickten die Deutschen nach Berlin. Dort liegt er bis heute." Hier die Presseerklärung der SPK zumThema. Weitere 500 Schädel sollen untersucht werden.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.09.2023 - Geschichte

In der FR erinnert Arno Widmann an die Abspaltung der Linken vom Parlamentarismus im September 1848. Das Parlament in Frankfurt hatte einen Waffenstillstand in der Schleswig-Holstein-Krise beschlossen, die radikale Linke "sah die nationale Ehre verletzt". "Für die äußerste Linke bedeutete das: Wir müssen uns beides erobern. Der Parlamentarismus hatte versagt, also bewaffneter Kampf. Am Vormittag des 18. September gab es eine bewaffnete Volksversammlung auf dem Rossmarkt. Die Parlamentsmehrheit hatte zum Schutz vor dem Volksaufstand bereits österreichische und preußische Bundestruppen aus der Festung Mainz angefordert. In Frankfurt wurden von Handwerkern und Arbeitern mehr als 40 wenig effektive Barrikaden erbaut. (...) Die 'Septemberrevolution' dauerte nicht einmal einen Tag lang. Um Mitternacht waren die Barrikaden geräumt und der Aufstand beendet. Es sollen dreißig Aufständische und zwölf Soldaten getötet worden sein."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.09.2023 - Geschichte

Im Jüdischen Museum Berlin wird gerade eine Ausstellung über Juden in der DDR gezeigt. taz-Autor Jan Feddersen unterhält sich mit dem Naturwissenschaftler Daniel Rapoport darüber, wie es war in der DDR jüdisch zu sein - seine Familie war wie häufig bei Juden in der DDR besonders staatsfromm, erzählt er. Der Holocaust sei in der DDR aber durchaus Thema gewesen, "nur eben in staatsgenehmer Weise. Aber gelenkte Öffentlichkeiten haben das prinzipielle Problem, dass sie keinen Dissens aushalten, keine echten Debatten erlauben und eben auch kein Korrektiv für den Staat sein können. Sie machen die Meinungen und Befindlichkeiten nicht spürbar - und damit nicht verhandelbar."

Wie das war mit dem Jüdischsein in der DDR, beschreibt auch Raquel Erdtmann in einer FAS-Kritk zur Ausstellung in Berlin: "In der DDR war niemandem bewusst, dass überdurchschnittlich viele prominente Vertreter in Politik, Kunst und Kultur, in Literatur und Wissenschaft, in der Popmusik jüdische Wurzeln hatten. In der Broschüre 'Antifaschisten in führender Position in der DDR' von 1965 waren von 98 Personen 24 Juden. Die ersehnte Egalität. Ähnlich gedachte man in der DDR der jüdischen Opfer kollektiv mit allen anderen, quasi 'klassenlos', als 'Opfer des Faschismus', auch wenn sich zahlreiche Romane und DEFA-Spielfilme der Judenverfolgung widmeten - die Täter natürlich: 'Faschisten'. Die gab es in diesem Staat ja nun nicht mehr, durfte es nicht geben - nur im Westen trieben die bekanntlich noch ihr Unwesen."

Salvador Allendes Chile ist für die westliche Linke eine Idee geblieben, nämlich, die Idee, dass eine "sozialistische Umwälzung ohne Gewalt und ohne Terror" möglich sei. Die Brutalität, mit der August Pinochet dagegen putschte und sich dann noch mit dem Neoliberalismus verbündete, hat die Idee erhalten wie unter einer Käseglocke. Aber sie hält nicht stand, meint Welt-Autor Thomas Schmid: "Als Pinochet 1973 mit der Unterstützung der USA putschte, zerstörte er keineswegs ein florierendes, zukunftsträchtiges Projekt. Das Land lag vielmehr wirtschaftlich, aber auch politisch am Boden. Es war erschöpft. Streiks ohne Ende, eine Inflation von 700 Prozent. Weder Preiskontrollen noch die Verstaatlichung aller Banken und der Rohstoffindustrie konnten den Niedergang aufhalten. Alles Gegensteuern der Regierung Allende machte alles nur noch düsterer und aussichtloser. Pinochet beendete ein gescheitertes Projekt. Die Gewaltsamkeit dieses Endes hat Allende und sein Projekt mit einer Gloriole umgeben, die zwar verständlich, aber dennoch unverdient ist. Allendes Regierung stand im September 1973 vor dem Offenbarungseid."