9punkt - Die Debattenrundschau

Erlösende Befreiungsgewalt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.11.2023. "Hört uns zu", flehen in Deutschland lebende Palästinenser in einer SZ-Reportage: Ihre Argumente würden nicht beachtet, ihr Leid würde von Medien und Politik nicht als individuelles wahrgenommen, und die Rede Robert Habecks sei für sie ein Fußtritt. Währenddessen fanden in Essen und Berlin lautstarke propalästinensische Demos statt, in denen Israel ein Genozid vorgeworfen und die Pogrome der Hamas veschwiegen wurden. Faschismus entsteht nicht ohne Wegbereiter, erinnert Michael Brenner in der FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.11.2023 finden Sie hier

Politik

In Berlin fand eine große "propalästinensische" Demo statt. Die Hamas und ihre Pogrome wurden nicht erwähnt, statt dessen wurde Israel ein Genozid vorgeworfen. In Essen waren die Szenen noch schlimmer, Islamisten forderten ein Ende der Besetzung Palästinas durch "Kuffar" und ein Kalifat. Aber eine Demokratie muss das hinnehmen, meint Christian Rath in der taz: "Das Demonstrationsrecht ist ein Recht der Minderheiten, daran muss immer wieder erinnert werden. Seine Garantie ist dort relevant, wo die Mehrheitsgesellschaft von 'unerträglichen Parolen' redet und Verbote fordert. Das Demonstrationsrecht schützt nicht nur nützliche Anliegen - wer soll das auch entscheiden? -, sondern ist in einer freiheitlichen Gesellschaft ein Wert an sich."

Auch in Israel wurde demonstriert. Die Regierung Netanjahu gilt als angezählt, berichtet Judit Poppe ebenfalls in der taz: "Umfragen zeigen, dass hauptsächlich Netanjahu für das katastrophale Scheitern am 7. Oktober verantwortlich gemacht wird. Die Umfragewerte für die israelische Regierung befinden sich im freien Fall. Die Likud-Partei von Regierungschef Netanjahu erhielte bei Neuwahlen von ihren aktuell 32 nur noch 19 Sitze. Die ultrarechten Parteien kämen nur noch auf vier oder fünf Sitze. Aktuell besetzen sie 14."

Majid Sattar wirft unterdessen in der FAZ einen Blick auf die antisemitischen Umtriebe an amerikanischen Universitäten. Auch sie haben eine lange Tradition: "Was heute akademisch verschwiemelt Siedlungskolonialismus genannt wird, hieß nach dem Sechs-Tage-Krieg bei linken Studenten schlicht Imperialismus. Damals wie heute galt: Die Bewegung ist von Antisemitismus durchzogen, was spätestens mit der Gleichsetzung von Zionismus und Rassismus klar wird. Antisemitismus war auch in Amerika nie nur rechts beheimatet. In Teilen afroamerikanischer Organisationen gibt es ebenfalls eine Kontinuität. So wie einst bei den 'Black Panthers' erklären nun Vertreter der 'Black Lives Matter'-Bewegung ihre Solidarität mit dem 'Widerstand' gegen den Unterdrücker."

Gerade im Nahen Osten konvergieren wie nirgends sonst im Antisemitismus der rechte, der linke und der islamistische Extremismus. Was "links" oder "rechts" ist, lässt sich hier nicht auseinanderhalten. Der Twitter-User Markus Schaub beleuchtet in einem Thread die Figur des Fayez Sayegh (1922 - 1980), hoher Funktionär der Nationalsozialistischen Partei Syriens (SSNP), die nicht von ungefähr so hieß. Er gehörte zu den Intellektuellen, "die den neuen panarabischen Radikalismus mit der internationalen Linken verband und dazu beitrug, die von den Nazis inspirierte 'aufgewertete Gewalt als regenerative Kraft' im Dienst des 'mystischen Nationalismus' in Frantz Fanons 'erlösende Befreiungsgewalt' umzudichten."

Zugleich herrscht in westlichen Demokratien "eine weit verbreitete Scheu davor, die Realität des voraussetzungslos Bösen anzuerkennen", wie es sich in den Hamas-Pogromen artikuliert, beobachtet Richard Herzinger in seiner Perlentaucher-Kolumne. "Grundsätzlich gilt es im aufklärerisch geprägten Denken als fragwürdig, einzelne Menschen oder gar ganze Gruppen oder Staaten als in ihrem Kern böse zu betrachten. Stets gebe es äußere Umstände und innere Dispositionen, die ihre grausame und mörderische Handlungsweise verursachen. Hinter den bösen Taten versteckten sich demnach immer Determinanten, die sie zwar nicht entschuldigen, aber doch begreifbar machen, wie es zu ihnen kommen kann."

"Hört uns zu", wird die Seite-3-Reportage schon auf Seite 1 der SZ angekündigt. Die Überschrift der Reportage selbst tremoliert fast noch heftiger: "Diese Debatte bricht uns alle." Viele Muslime in Deutschland fühlten sich in Deutschland nach der Debatte um die Hamas-Pogrome fremder denn je, schreiben Dunja Ramadan und Sonja Zekri über Palästinenser in Deutschland. Zwar verurteile ein Großteil der muslimischen und palästinensischen Community die Taten der Hamas, aber sie fühlen sich von Politik und Medien pauschal verurteilt, ihr Leid werde nicht individualisiert, sie kämen lediglich "als abstraktes Ganzes, als Zahl" vor. "Aus dieser Perspektive klingt selbst die hochgelobte Rede von Robert Habeck nicht mehr so schön. Angemessen wortreich entsetzte sich der Vizekanzler über die 'bestialischen Morde' der Hamas. Für die deutschen Muslime aber fand er tadelnde Worte, und seine Formulierung über den Krieg in Gaza hätte teilnahmsloser kaum klingen können. Der Tod und das Leid, das jetzt über die Menschen komme, seien: 'schlimm'. Es wäre zu hoffen, dass sich die Juden in Deutschland durch Habecks Auftritt ein wenig sicherer, ein wenig geschützter fühlen - nach Wochen floskelhafter Beistandsrhetorik. Für viele muslimische Deutsche war die Rede allerdings ein Fußtritt." Und das Verurteilen der Hamas ist für viele in Deutschland lebende Palästinenser wie den in der Reportage zitierten Mahmoud Hassino eine überaus dialektische Angelegenheit: "Ich bin nicht bereit, die Hamas auf deutschen Druck hin zu verurteilen", sagt er, "weil das unterstellt, dass ich sie gut finde - was ich nicht tue."

Es braucht eine viel stärkere Integrationsarbeit, fordert Ahmad Mansour im Gespräch mit Heike Schmoll in der FAZ: "Vor ein paar Wochen und Monaten war die Rede von der Obergrenze noch ein rechtsradikales Narrativ. Es geht mir auch nicht um die Begrenzung an sich, sondern darum, dass Migration Ressourcen braucht, Menschen in Gesellschaften zu integrieren. Das gilt vor allem für Einwanderer aus Ländern, deren Wertekanon in massivem Widerspruch zu den Werten des Einwanderungslandes steht. Das sind patriarchale Strukturen, Antisemitismus, auch religiöse Narrative. Die Ressourcen sind begrenzt, deshalb müssen wir uns auf diejenigen konzentrieren, die wirklich verfolgt sind und nicht alle hereinlassen."

Die Vergewaltigungen der Hamas sind eine Machtdemonstration und in der Weise, wie sie heute medial verbreitet werden, einmalig, erklärt der Sozialpsychologe Rolf Pohl im SZ-Interview mit Susan Vahabzadeh. Außerdem kommt er auf die in diesem Konflikt auffallend stille Me-Too-Bewegung zu sprechen: "Wo bleibt hier der Aufschrei? Ich finde das auch irritierend. Es gibt natürlich vereinzelte Stimmen und feministische Hilfsorganisationen, die sich damit befassen, aber die Community, die 'Me Too' am Laufen zu halten versucht, ist nicht da. Ein paar Erklärungsansätze habe ich: Das Narrativ, dass das nur alte weiße Männer machen - das passt hier nicht, aber das stammt eben auch aus einer sehr verkürzten Kampagne. Noch was: Es wird immer versucht, alles zu personalisieren - auch das geht im Fall der Hamas nicht. Und dann wäre da natürlich noch die Sache mit dem Motiv der Macht: Wenn es nur um die Ausübung von Macht geht, suchen wir die Täter im Kreis der Mächtigen. Und auch das funktioniert hier nicht."

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Europa

War Jelzin einfach nur der Wegbereiter von Putin, als er das Parlament 1993 durch ein Referendum entmachtete und den Obersten Sowjet auflöste? Mitnichten, schreibt der Politologe Tobias Rupprecht in der NZZ. "Wer heute in der Lösung der Verfassungskrise eine der Wurzeln von Putins revanchistischem Imperialismus sucht, sollte bedenken, dass es zur Zeit der Transition das Jelzin-Lager war, das für einen explizit antiimperialen russischen Nationalstaat eintrat. Das Parlament dagegen annullierte die Verträge zur Auflösung der UdSSR, blockierte die von Jelzin geplante Rückgabe der Kurilen an Japan, revidierte die Entscheidung seiner sowjetischen Vorgängerinstitution in den fünfziger Jahren, die Krim unter die Verwaltung der ukrainischen Sowjetrepublik zu stellen, und formulierte mehrfach den russischen Anspruch auf die Halbinsel. Auch die personellen Kontinuitäten sind eindeutig: Die meisten Liberalen, die im Oktober 1993 Jelzin unterstützten, haben dem heutigen autoritären Regime den Rücken gekehrt. Die einstigen Ökonomen aufseiten des Obersten Sowjets aber sind heute die Wirtschaftsberater des Putinschen Klientelkapitalismus."
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Stichwörter: Krim, Imperialismus

Geschichte

Faschismus braucht Wegbereiter aus der gesellschaftlichen Mitte, wie auch die jüngsten Ereignisse zeigen. Der Historiker Michael Brenner erinnert in der FAZ daran, dass der 9. November 1938 nicht ohne die Vorgeschichte in den zwanziger Jahren möglich gewesen wäre: "In Bayern setzte bereits 1920 die konservative Regierung auf die antisemitische Karte, teilweise genährt aus Ressentiments gegen die mit Beteiligung prominenter jüdischer Akteure durchgeführte Revolution von 1918 und die Räterepubliken vom Frühjahr 1919. Der neue Ministerpräsident Gustav von Kahr spielte mit dem Gedanken, osteuropäische Juden auszuweisen, die Gerichte ließen die Gewalt von rechts oft ungesühnt, und die Münchner Polizei war fest in der Hand von Hitlers Gesinnungsgenossen, allen voran der Polizeipräsident Ernst Pöhner, der 1923 mit Hitler zur Feldherrenhalle marschieren sollte. Auch die katholische Kirche spielte in dieser Gemengelage keine rühmliche Rolle."

Preußen ist tot, aber als Untoter doch noch recht präsent in den Debatten, schreibt der Historiker Christoph Markschies auf der "Ereignisse und Gestalten"-Seite der FAZ. Ein Beispiel ist für ihn die Debatte um die Kuppelinschrift an der Berliner Stadtschlossattrappe: Sie sei "im Kern ebenfalls eine öffentliche, auf die Ambivalenzen zugespitzte Debatte über das preußische Erbe. Sie konzentriert sich auf ein weithin sichtbares Zeichen der persönlichen Frömmigkeit dessen, der diese Kuppel in Auftrag gab und bis in Details prägte. König Friedrich Wilhelm IV. war, wie einige seiner Vorgänger, ein recht gut gebildeter Laientheologe, der an das Gottesgnadentum glaubte, aber sich als Monarch von Gottes Gnaden in evangelischer Tradition als Gottes sündiger Knecht fühlte und mit der Kuppel zugleich auch die Demut der Monarchen vor dem göttlichen Thron sichtbar inszenieren wollte. Das verstehen heute aber bestenfalls noch die Fachleute."
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Brenner, Michael

Gesellschaft

In Sachsen-Anhalt möchte sich ein Kindergarten gerne umbenennen - bisher war die Einrichtung nach Anne Frank benannt, berichtet Sandra Kegel entsetzt in der FAZ. Nun aber bevorzuge die Kindergartenleiterin den "kindgerechten" Namen "Weltentdecker" (auch noch ungegendert!), weil Anne Franks Geschichte "für kleine Kinder kaum fassbar sei". "Besonders perfide in der jetzigen Situation, da in Nahost Krieg herrscht, auch noch die 'Eltern mit Migrationshintergrund' gegen Anne Frank in Stellung, die mit dem Namen 'oft nichts anfangen' könnten. Sie wolle einen Kita-Namen 'ohne politische Hintergründe', verkennend, dass der Akt der Namenstilgung selbst eminent politisch ist. Der irregeleiteten Pädagogin springt der parteilose Bürgermeister von Tangerhütte zur Seite, der die Kita heute für 'offener als früher' hält, die 'stärker Selbstbestimmtheit und Vielfältigkeit der Kinder' fördere."
Archiv: Gesellschaft