9punkt - Die Debattenrundschau

Ein neues Trauma

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.10.2023. Der sadistische Spaß, den die Terroristen bei ihren Verbrechen zeigen, soll unterstreichen, dass Juden auch in ihrer Heimat Opfer von Pogromen werden können. Die Medien und die sozialen Medien versuchen den Schock zu verarbeiten, den diese Verbrechen in Israel und der Weltöffentlichkeit auslösen. Zugleich versuchen erste Kommentare die neue Weltlage zu verstehen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.10.2023 finden Sie hier

Politik

Der Perlentaucher kann heute keinen repräsentativen Überblick über alle Einschätzungen bieten, eher Wahrnehmunssplitter aus den Zeitungen und - da es bislang keine Alternative gibt - Twitter. D. Red.

Der Jom-Kippur-Krieg vor fünfzig Jahren wurde gegen Israel als Militärmacht entfesselt. Der Krieg, den die Hamas jetzt begonnen hat, richtet sich gegen Israel als Zuflucht der Juden. Der sadistische Spaß, den die Terroristen bei ihren Verbrechen zeigen, soll unterstreichen, dass Juden auch in ihrer Heimat Opfer von Pogromen werden.

"Wenig Zweifel kann daran herrschen, dass Israel sich am Ende militärisch durchsetzen wird", kommentiert Nikolas Busse in der FAZ. "Die Hamas kann es mit einer modernen Armee nicht aufnehmen. Der Verlauf der ersten beiden Kriegstage lässt sich auch so lesen, dass es der Organisation vielleicht in erster Linie darum ging, Terror zu verbreiten und Geiseln zu nehmen."

Die ersten Reaktionen in Deutschland wirkten teilweise recht kalt. Die "Tagesschau" sagte eine halbe Stunde lang die Ergebnisse der Wahlen in Bayern und Hessen auf, bevor sie überhaupt zum Thema kam. Hier der Teaser zum ersten Kommentar in der SZ, die sich bei Hubert Aiwangers jugendlichem Antisemitismus so sensibel gezeigt hatte - er wurde später abgemildert:


"Beim ZDF ist da schon der Nahostexperte Michael Lüders unterwegs, um die Dinge aus seiner Sicht einzuordnen" erzählt Michael Hanfeld in der FAZ. "In der ZDF-Mediathek kann man zum Beispiel in der Sendung 'ZDF heute live', in der man geduzt wird, nachhören und -sehen, wie Lüders die Sache sieht (ab Minute 11:40'): weitgehend emotionslos, könnte man sagen. Ihm kommt als Erstes die 'Schlappe des israelischen Militär-Establishments' in den Sinn. Aus Sicht der Hamas könne man von einem 'Erfolg' sprechen, meint der Experte, die israelische Politik der 'vollständigen Entrechtung' und Unterdrückung der Palästinenser, die Kritiker als 'Apartheid' bezeichneten, sei gescheitert."

Die Zahl der Opfer wird heute morgen mit 700 Menschen angegeben. Die New York Times zeigt in Drohnenflugbildern die Stätte des Musikfestivals, das einige Kilometer vom Gaza-Strefen entfernt stattgefunden hatte und bei dem die Terroristen allein 260 Menschen umgebracht haben.

Das Ausmaß der Demütigung für die israelischen Sicherheitskräfte wird in einem Kommentar des New-York-Times-Kolumnisten Tom L Friedman deutlich: "Diesmal wurde Israel an 22 Orten außerhalb des Gazastreifens angegriffen, darunter auch in Gemeinden, die bis zu 15 Meilen innerhalb Israels liegen, und zwar von einer Streitmacht, die 'dem Äquivalent von Luxemburg' entspricht. Doch diese winzige Truppe ist nicht nur in Israel eingedrungen und hat die israelischen Grenztruppen überwältigt; sie hat auch israelische Geiseln über dieselbe Grenze zurück nach Gaza gebracht - eine Grenze, an der Israel rund eine Milliarde Dollar für die Errichtung einer Barriere ausgegeben hat, die praktisch undurchdringlich sein sollte. Das ist ein schockierender Schlag für Israels Abschreckungsfähigkeit."

Für die SZ hat Alexandra Föderl-Schmid mit Tom Segev gesprochen, der die Traumatisierung schildert, die daraus folgt: "Viele Israelis hätten sich oft stundenlang schutzlos ausgeliefert und im Stich gelassen gefühlt von der Armee, von der Regierung, vom Geheimdienst, sagt Segev. Er ist davon überzeugt, dass diese Ereignisse große Auswirkungen auf das Selbstbild und die Identität Israels haben werden und einen Einschnitt in der Geschichte darstellten. 'Dieser Krieg wird ein neues Trauma erzeugen.'"

Wer die Ereignisse auf Twitter verfolgte, konnte am Samstag und Sonntag all jene, oft von den Terroristen selbst geposteten Videos sehen, die in den Medien mit gutem Grund meist nicht gezeigt werden, und die doch nötig sind, um sich ein Bild vom Sadismus der Täter zu machen. "Für die Hamas-Terroristen sind Bilder und Videos in diesem Kampf eine wichtige Waffe geworden", schreibt Anna-Sophie Schneider bei spiegel.de. Ihr Zweck ist es sicher auch, Israel mit Blick auf all die Verbrechen, die an den Geiseln noch geschehen könne, zu terrorisieren: "In einem Video wird ein kleiner Junge von anderen Kindern verhöhnt und umhergeschubst. Er höre nicht auf, nach seiner Mama zu rufen, spotten sie. Die Kinder hätten 'Spaß mit dem Juden', hört man einen Erwachsenen im Hintergrund sagen."

Die Hamas, wird allgemein kommentiert, hat die innere Schwächung des Landes durch seine extreme innenpolitische Polarisierung ausgenutzt. taz-Korrespondentin Judith Poppe schildert Auflösungstendenzen: "Der Run von Israelis auf europäische Staatsbürgerschaften ist schon in den letzten Monaten, seit dem Antritt der neuen ultrarechten Regierung, sprunghaft angestiegen. Alles sieht danach aus, als würden die Bewerbungen darum nun einen neuen Peak erreichen."

Die Hamas dankt Gott:



Deutsche Islamfunktionäre wie Aiman Mazyek (Zentralrat der Muslime) äußern sich bisher nur mit sehr spitzen Lippen zu den Pogromen:


FAZ-Redakteure machen sich unterdessen auf Twitter Sorgen, dass Religionskritik ein Bündnis mit Rechtsextremismus bedeuten könnte:

FAZler Patrick Bahners, Jürgen Kaube und Lorenz Jäger, flankiert von Sawsan Chebli, im politologischen Austausch über die Frage, ob eine religionskritische Linke in Wirklichkeit "rechts" sei.


In vielen europäischen Städten geben Hamas-Sympathisanten in Spontandemos ihrer Freude über die Pogrome Ausdruck, etwa in Neukölln (hier), Barcelona (hier), Amsterdam (hier). Ein Beispiel aus Birmingham:


Es gibt auch andere Stimmen arabischer Intellektueller. Hussein Aboubakr Mansour, Autor des Buchs "Minority Of One - The Unchaining Of An Arab Mind", schreibt auf Twitter: "Die Vorstellung von einem befreiten und freien Palästina beinhaltete immer auch die Idee des wahllosen Mordes an Juden in ihren Städten, Straßen, Geschäften und Wohnzimmern. Ich habe 23 Jahre lang in Ägypten gelebt, bin in einer Kultur aufgewachsen, in der sich ein großer Teil der politischen und religiösen moralischen Identität und des Denkens um Palästina drehte. Jeder Araber und Muslim, der ehrlich zu sich selbst ist, weiß das! Diejenigen, die mir folgen, wissen, dass ich einen guten Teil meines Lebens darauf verwendet habe, diese Fantasie aufzuspüren, zu verstehen und zu bekämpfen."

Die aktive Rolle des Irans bei den Ereignissen ist für die Medien ein offenes Gehemnis. Es gehe dem mit Russland verbündeten Regime vor allem darum, eine Annäherung zwischen Saudi-Arabien (das sich nur halbherzig zu den Ereignissen äußerte) und Israel zu verhindern. Patrick Wintour zitiert im Guardian Äußerungen des Ayatollah Ali Khamenei, die sich im Nachhinein wie eine Kriegserklärung lesen: "In einer Rede Anfang dieser Woche warnte der oberste Führer des Iran Riad eindringlich, dass jeder Golfstaat, der die USA unterstütze, auf das falsche Pferd setze. 'Die Haltung der Islamischen Republik ist, dass die Regierungen, die dem Spiel der Normalisierung mit dem zionistischen Regime den Vorrang geben, Verluste erleiden werden', sagte er in Statements, die von den staatlichen und halboffiziellen Medien des Iran verbreitet wurden. 'Die heutige Situation des zionistischen Regimes ist keine, die zu einer Annäherung an das Regime motivieren sollte; sie sollten diesen Fehler nicht begehen.'"
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