Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
08.01.2007. Er bewundert einen prächtigen Bildband über Indien, empfiehlt Alain de Libera und Al-Farabi als Impfung gegen christlichen Hochmut gegenüber dem Gott der Muslime, bewundert einen prachtvoll gewachsenen Krieger, jagt Gespenster mit einem echten Aufklärer und erliegt der Schönheit von George Steiners Melancholie.
Sehnsucht nach dem Staub

Ein Bildband, der alte Aufnahmen aus dem Raj und solche aus dem heutigen Indien vereint. Als Zeitungsjournalist war ich mächtig beeindruckt von einer Aufnahme, deren Entstehungsjahr nicht mitgeteilt wird, die die Mitarbeiter der Times of India zeigt. Sie stehen vor dem von mächtigen Säulen getragenen Verlagsgebäude. Es sind ausschließlich Männer und es sind - ich habe bei 217 aufgehört, weiter zu zählen - vor allem Inder in fast allen Hautfarben und mit allen möglichen Kopfbedeckungen. Nur höchstens ein Dutzend war barhäuptig. In der ersten Reihe saßen sieben Weiße, die meisten in weißen Anzügen, ihre Kopfbedeckungen auf den Schößen. Man könnte sich das Bild stundenlang anschauen und stieße auf immer subtilere Formen des Kolonialismus. Angefangen von den Säulen, die den Weg aus dem dorischen Griechenland über den englischen Banken-Klassizismus bis nach Bycullah, den im 19. Jahrhundert neu erschlossenen Stadtteil von Bombay, schafften, über die starke Rolle des Gentleman-Anzugs, des Dreiteilers auf diesem Foto, bis hin zu der politisch wenig korrekten Meditation darüber, ob so viele Vertreter so unterschiedlicher Ethnien auch ohne den britischen Kolonialismus so friedlich neben einander hätten stehen können.

Sehr schön ist auch das Foto einer einheimischen Theatergruppe, die ein Stück zu Ehren des elefantenköpfigen Gottes Ganesh aufführt. Neben ihm fünf britische Kolonialbeamte, die als Musketiere verkleidet großen Spaß an ihrem Theaterspiel haben. Nicht alle Lustbarkeiten waren so unschuldig wie diese. Sehr unangenehm ist dem heutigen Betrachter der Anblick der Tochter des Maharaja von Rewah, die, ein Gewehr in der Hand, auf einem toten Leoparden sitzt. Das sicher nicht einmal zehnjährige Mädchen blickt ein wenig unglücklich drein. Das versöhnt uns ein wenig mit dem Foto. Aber die Bildunterschrift erklärt uns, sie habe den Leoparden erlegt. Wir zweifeln daran.

So blättert man in dem alten Teil des Buches zwischen Erschrecken und Entzücken. Letzteres stellt sich ein bei den prachtvoll kolorierten Porträtfotos aus dem frühen 20. Jahrhundert. Dreht man das Buch um, hat man es mit dem heutigen Indien zu tun. Hier knallen die Farben. Es ist Bollywood-Ästhetik auf fast jeder Seite. Selbst das Panorama von Ladakh liegt da, wie es die Kinohelden in ihren musikalischen Einlagen immer wieder besungen haben. Man sehnt sich fast nach den grauen Staubwolken, in denen große Teile des versteppenden Indiens versinken.

"Indien einst und jetzt". Herausgegeben von Rudrangshu Mukherjee und Vir Sanghvi. Aus dem Englischen von Christel Klink und Stefanie Schaeffler. Verlag Frederking &Thaler, München 2006. 274 Seiten, 7 Ausklapptafeln, ca. 105 Farb- und 120 s/w-Fotos, 5 handcoloriert, 50 Euro. ISBN: 389405669X.


Kein Europa ohne Bagdad

Der Papst, der von Intellektuellen gerne als einer der ihren betrachtet wird, hat vor ein paar Monaten wieder einmal seine Lieblingsmelodie gesungen. In Regensburg. Sie lautet: Der christliche Gott ist ein vernünftiger, damit auch ein der Vernunft zugänglicher Gott. Es mache gerade den Reiz - das ist nicht Ratzingers Wort - des Christentums aus, dass es ein vernünftiger Glaube sei. Der bedeutende - so die Einschätzung seiner intellektuellen Fürsprecher - Theologe sieht darin eine entscheidende Differenz des Christentums zum Islam, dessen Gott jedem menschlich-vernünftigen Zugang sich verschließe. Die Regensburger Rede ist in vielen Feuilletons damit verteidigt worden, dass man dem Papst das unglückliche Zitat des byzantinischen Kaisers verzeihen müsse, da es ihm doch eigentlich um das durchaus begrüßenswerte Argument der Vernünftigkeit des Glaubens gegangen sei.

Das geht nun freilich am Problem der Regensburger Rede völlig vorbei. Denn genau in diesem Argument liegt die Perfidie der päpstlichen Intervention. Der Versuch, Glauben und Vernunft zusammenzubringen, ist keineswegs originär christlich. Er ist islamisches Erbe. Benedikt XVI. nutzt die Ahnungslosigkeit des Feuilletons aus, um exakt dort einen Gegensatz zu konstruieren, wo es in Wahrheit die stärkste Konvergenz gibt. Konvergenz ist das falsche Wort. Thomas von Aquins groß angelegter Versuch, den Glauben auf den Begriff zu bringen und den Begriff auf den Glauben, auf den Benedikt XVI. anspielte, war eine sehr bewusste Fortsetzung jener Versuche, die Albert der Große unternommen hatte, indem er die Anstrengungen der islamischen Philosophen, Glaube und Vernunft zu vereinen, in die christliche Welt übersetzte.

"Die Arabisierung des theologischen Denkens der lateinischen Christen des 13. Jahrhunderts - das ist das wesentliche Phänomen. Auf es muss man in unserer Zeit der Ausgrenzung und Verfemung zurückgehen, in der ein gewisser Islam gegen die 'westliche' Vernunft kämpft, die für ihn das Emblem aller Imperialismen und Kolonisierungen ist, während die 'griechische' Vernunft, deren legitime Erben die 'Abendländer' sein wollen, und aus der sich ihr Hochmut und ihre Verachtung speist, ohne die Vermittlung der Araber und der Juden nicht in den Westen gelangt wäre. Prägend für die europäische Identität waren die jüdischen Übersetzer in Toledo und die arabischen Philosophen Andalusiens und, vorher noch - im 8. und 9. Jahrhundert, als der Westen teilweise noch im Dunkel der Geschichte lag -, das üppig fließende Licht aus dem Osten und die Herrschaft Bagdads, zu einer Zeit, als christliche und muslimische Araber sich begegneten und zusammenarbeiteten." (Alain de Libera)

Man wird Europa nicht begreifen, wenn man nicht Alain de Libera liest. Ein nur christliches Abendland hat es niemals gegeben. Europäische Geschichte, gar Ideengeschichte, also Geschichte unserer Überzeugungen, unserer Wünsche und Begehrlichkeiten, ist immer auch muslimische, jüdische, heidnische und die Geschichte von Gottesleugnern gewesen. Ebenso absurd ist die Vorstellung einer rein islamischen Welt. Dort - wie immer sie definiert sein mag - hat es immer auch Christen, Juden, Buddhisten und Vertreter zahlloser anderer Religionen gegeben. Der Krieg der Zivilisationen ist immer vor allem ein Krieg der Zivilisationen mit sich selbst. Es ist also nur konsequent, dass der Hauptfeind des islamischen Terrorismus nicht etwa der Westen, sondern die islamischen Brüder und - nicht zuletzt - die islamischen Schwestern sind. Der islamische Terrorismus hat tausend Mal mehr Muslime getötet als Christen oder Hindus. Die Regensburger Rede des Papstes war kein Beitrag zur Klärung. Sie diente im Gegenteil der Munitionierung eines Konflikts, an dem niemand ein Interesse haben kann.

Wer eine Ahnung davon bekommen möchte, wie islamische Denker versuchten, Glauben und Vernunft zusammenzubringen, wie schwer es sie sich dabei machten und wie schwer es ihnen - nicht anders als ihren Kollegen im Westen - dabei gemacht wurde, für den gibt es die sehr schöne zweisprachige Ausgabe von "Über die Wissenschaften" von Al-Farabi (ca. 870-950). Man muss sich Zeit nehmen für das Buch. Al Farabis Abhandlung nimmt zwar nicht einmal 70 Seiten des Bandes ein, aber sie ist nicht zu verstehen ohne die vorangestellte Einleitung von 84 Seiten, die so geschrieben ist, dass sie auch einem Ahnungslosen klar macht, worum es geht. Verstehen wird man Al-Farabis Ausführungen auch nicht, wenn man nicht die 170 Seiten Anmerkungen sehr aufmerksam liest. Man wird also eine gute Woche Lebenszeit investieren müssen in diese Lektüre. Das wird leichter fallen, wenn man daneben Alain de Libera liest, der einen anfeuert und einem klarmacht, dass es nicht um das Mittelalter, sondern um uns geht. (Mehr über die Philosophie Al-Farabis hier.)

Alain de Libera: "Denken im Mittelalter". Aus dem Französischen von Andreas Knop. Wilhelm Fink Verlag, München 2003. 310 Seiten, 41,90 Euro. ISBN 3770532422. ()

Al-Farabi: "Über die Wissenschaften". Nach der lateinischen Übersetzung Gerhards von Cremona. Mit einer Einleitung und kommentierenden Anmerkungen herausgegeben und übersetzt von Franz Schupp. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2005. 365 Seiten, 48 Euro. ISBN 378731718X.


Über Männer und Frauen

Alexandra Fullers "Die Krallen des Löwen" ist eines der interessantesten Bücher des vergangenen Jahres. Es ist das Porträt eines Kriegers, eines Elitesoldaten, der zunächst für ein weißes Rhodesien kämpfte und als das scheiterte, in Mozambique versuchte, soviel Schwarze wie möglich umzubringen. Alexandra Fuller hat mit diesem Killer einige Schauplätze seiner einstigen Untaten aufgesucht. Sie trifft dort Weggefährten ihres "Helden". Bei allen ist nach wenigen Minuten klar: Sie haben nicht nur andere, sondern auch sich umgebracht. Nachts wachen sie - wenn sie Glück haben - aus Angstträumen auf. Manchmal schlüpfen sie dabei in die Rolle ihrer Opfer, manchmal wiederholen sich Situationen, in denen sie selbst beinahe gestorben waren. Alexandra Fuller mag die großen, prachtvoll gewachsenen Männer, sie erregen sie. Das macht weder die Männer noch sie besser. Es gehört aber sicher zu den Qualitäten des Buches, dass die Autorin nicht nur von dem Abscheu spricht, den sie gegenüber dem empfindet, was die Männer getan haben, sondern auch von der Attraktion, die deren Physis auf sie ausübt.

Beides lässt sich nicht von einander trennen. Man hat den Körper, den man braucht, nicht den, den man sich wünscht. Aber es ist nicht nur der Körper. Es ist auch die Mischung aus Verletzlichkeit und Brutalität, die sie reizt. Dieses Buch macht wie wenige klar, dass es keinen Krieg ohne Krieger gibt. Die Vorstellung von einem sauberen, einem anständigen Krieg ist eine Illusion, die allenfalls die Daheimgebliebenen hegen konnten, solange es noch einen Unterschied zwischen der Front und Daheim gab. Ohne brutale Killer, ohne die Bereitschaft und das Können, alles, was sich einem in den Weg stellt, niederzumetzeln aus Instinkt, aus vielfach trainiertem Instinkt, lässt sich kein noch so honoriger Krieg führen. Das Buch macht auch klar, dass eine Krieg führende Gesellschaft Krieger hervorbringt, dass sie sie zu ihrem Ideal macht, weil ihr Leben von der Existenz solcher Krieger abhängt. Alexandra Fuller glaubt nicht, dass es etwas gibt, was diesen Preis wert ist. Aber sie glaubt nicht daran, dass es der Mühe wert sei, sich darüber Gedanken zu machen, denn sie befürchtet, dass es in der Geschichte nicht geht ohne Krieger und Kriege. Jedenfalls nicht auf Dauer. Selten war jemand so fasziniert von der Brutalität und gleichzeitig so angewidert wie Alexandra Fuller.

Natürlich ist "Die Krallen des Löwen" mehr noch als ein Buch über Afrika ein Buch über Männer. Über Männer und Frauen. Es ist das so sehr, dass sich dem Leser der Verdacht aufdrängt, es handele sich bei dem Buch nicht um ein Sachbuch, sondern um einen Roman. Die beigefügten Fotos wirken wie die Namen von Markenartikeln in Fontanes Romanen. Sie stützen deren Realismus. Sie beglaubigen die "Wahrheit" von etwas, das doch Erfindung ist. Die Dialoge in Alexandra Fullers Erzählung haben so nicht stattgefunden. Gar zu schnittig laufen sie auf die Pointe hinaus. Der Leser freut sich, dass er exakt das dachte, das der Killer sagen würde, das der dann tatsächlich sagte. Der Leser schreibt das seiner Einfühlungsgabe zu. In Wahrheit aber hat es mit der Logik der Erzählung zu tun. Also nicht mit der Wirklichkeit. Aber auch das macht das Buch interessant.

Fuller wurde übrigens für dieses Buch 2005 mit dem Lettre Ulysses Award für literarische Reportage ausgezeichnet.

Alexandra Fuller: "Die Krallen des Löwen". Unterwegs mit einem afrikanischen Krieger. Aus dem Amerikanischen von Walter Ahlers. Goldmann Verlag, München 2006. 288 Seiten, 19,95 Euro. ISBN 3442311179.


Gespensterdebatte

Aufklärung ist wieder mal en vogue. Jedenfalls beruft man sich gerne auf sie, wenn es gilt, gegen den Islam zu Felde zu ziehen. Dann werden oft gerade die, die sonst so gerne wider den Verfall der Werte wettern, zu großen Freunden, ja Propagandisten der Aufklärung. Freilich nie der, die die Gegenwart zu erhellen helfen könnte, sondern allein zu der, als deren Produkt sie sich begreifen, die sie schon darum so hoch schätzen, weil sie etwas so Schönes wie sie hervorgebracht hat.

Gegen diesen neuabendländischen Hochmut hilft der Blick in die Arbeit der echten Aufklärer. Georg Wilhelm Wegner (1692-1765) zum Beispiel kämpfte in einer Reihe von Arbeiten gegen den Gespensterglauben. Er tat das mit klaren Argumenten und einem heute etwas aus der Mode gekommenen Eifer. Wie soll etwas, so fragt er die Gespenstergläubigen, das keinen Körper hat, sich einen Körper bauen? Wie soll die Seele Verstorbener auch nur den Ärmel eines Nachthemdes bewegen können, wenn sie nicht Körper ist? Ein Gespenst, das spricht, so wird er nicht müde klar zu machen, bedarf der Sprechwerkzeuge, jenes komplizierten Apparates also, der ganz und gar Körper, somit den Gesetzen der Mechanik unterworfen ist. Die Vorstellung eines Gespenstes, das, einer Wolke gleich, aus nichts als Luft und Wasser bestünde, und dennoch eine menschliche Figur, einen menschlichen Bewegungsapparat und menschliche Sprache besäße, widerspricht schon den fundamentalen Einsichten der Physik. Es hilft auch nichts, sie mit einer Handbewegung beiseite zu schieben, da man sie ja gleichzeitig für die Art, wie das Gespenst sich bewegt, wieder in Anspruch nimmt.

Wegners Text "Philosophische Abhandlung von Gespenstern" aus dem 1747 hat der Herausgeber Martin A. Völker eine Reihe anderer zeitgenössischer Äußerungen an die Seite gestellt und diese Gespensterdebatte mit einem Nachwort versehen, in der er versucht, sie in eine "Dialektik der Aufklärung" zu stellen. Er schießt dabei deutlich über das Ziel hinaus, wenn er aus der Tatsache, dass Gottsched in einer öffentlichen tatsächlich aufklärerisch-antiaufklärerischen Aktion im Oktober 1737 einen Harlekin verbrannte, den allgemeinen Schluss zieht: "Angst und Gelächter befinden sich außerhalb der aufklärerischen Tradition." Schon die von ihm herausgebene Arbeit Wegners zeigt, wie sehr Angst und Gelächter Impulse, Themen und Medien der Aufklärung waren und sind.

Georg Wilhelm Wegner: "Philosophische Abhandlung von den Gespenstern". Mit Erläuterungen und Materialien herausgegeben von Martin A. Völker. Wehrhahn Verlag, Hannover-Laatzen 2006. 140 Seiten, 16 Euro. ISBN 386525022X.


"Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen"

George Steiners Buch "Warum Denken traurig macht" ist ein bitteres Rondo in zehn Sätzen, die herzerweichende Bilanz eines Gelehrtenlebens. Am Ende eines jeden Nachdenkens - so Steiner - steht die Einsicht in seine Vergeblichkeit. Die Suche nach Wahrheit wird nicht durch Erkenntnis belohnt, sondern durch "Zweifel und Frustration". Das Ergebnis ist immer ein Widerspruch. Alle Anstrengung geht ins Leere. Seit Parmenides wurde nichts Neues entdeckt. Die Arbeit am Begriff fördert nichts zu Tage. Je mehr man nachdenkt, desto tiefer gerät man ins schwarze Loch der Melancholie. Man mag das Denken preisen, die Wahrheit aber ist: Man entkommt ihm nicht. Der Mensch - und wahrscheinlich nicht nur er - ist ein Lebewesen, das gar nicht anders kann als denken. Selbst die paar Sekunden, die er den Atem anhält, kann er nicht aufhören zu denken. "Denk doch mal nach!" - diese pädagogische Ermahnung heißt in Wahrheit: Hör' auf selbst zu denken, denke gefälligst, was ich möchte, dass Du denkst.

Man mag das Denken, so Steiner, als Lust empfinden, aber es ist eine Fron, der man nicht entkommt. Steiner erinnert an die Anstrengungen indischer Yogis und europäischer Mystiker, frei zu kommen von der Last des Gedankens und einzutauchen ins Nichts. Es war und ist immer vergeblich. Und es wird immer vergeblich sein. Wir kommen nicht hinaus aus der Tretmühle unseres Denkens. George Steiner aber ist kein Propagandist der Ekstase, kein Vertreter des New Age, keiner, der sich einsuppen möchte im Urschleim. George Steiner liebt exakte Differenzen, präzise Äquivalenzen und Taktgenauigkeit. Dass das Denken nichts davon fördert, sondern am Ende nur Vages dabei herauskommt, eben das stürzt Steiner in Melancholie.

Seit Jahrtausenden beißt die Menschheit auf denselben Brocken herum und noch immer hat sie keine Antwort auf die großen Fragen nach dem woher und wohin. Ist Spinoza weitergekommen als Platon? Ist Kant der Wahrheit näher gerückt als jeder Einzelne von uns? Nein, meint Steiner. Das Kantsche Denken hat im Gegenteil klar gemacht, dass wir nicht an sie heranrücken können. Aber diese Klarheit hilft uns nichts. Wir kämpfen gegen sie an. Wir geben nicht auf, wir wollen wissen, warum und wozu wir hier sind. Es ist zum Verzweifeln. Die Erkenntnis ihrer Grenzen hilft uns nicht gegen die Grenzenlosigkeit unserer Ansprüche an unsere Erkenntnis. George Steiners "Warum Denken traurig macht." rennt in zehn Kapiteln auf 57 Seiten zehnmal gegen die Wand. Nein, Steiner rennt nicht. Er geht sehr entschlossen, festen Schrittes, auf sie los.

Der 1929 in Paris geborene Steiner, der in Genf, Cambridge und Oxford vergleichende Literaturwissenschaften gelehrt hat, einer der großen Gelehrten des 20 Jahrhunderts, kennt diese Wände nur zu gut. Er weiß, was ihn erwartet. Aber er kann nicht anders. Es ist die Hoffnung, wider alle Hoffnung. Aber auch die ist längst durchschaut. Schon in der sechsten Reprise heißt es von ihr, sie sei "eine machtvolle, aber letztlich niederdrückende Wendung für den Gifthauch, mit dem das Denken jegliches Ergebnis überzieht". Steiner hat Recht. Alles zerbröselt. Es bleibt nichts übrig. Es geht nicht allein um die Werte und Vorstellungen, in die er hineingeboren wurde. Es ist die Materie selbst, die in seiner Lebenszeit auseinander genommen wurde. Aus Molekülen wurden Atome, deren Kerne wiederum zerfielen in Protonen und Neutronen, in denen Up-Quarks und Down-Quarks sich herumtreiben.

Woher aber kommt die Schönheit von Steiners Melancholie? Woher der Reiz dieses Büchleins? Sie haben nichts - oder doch nur sehr wenig - zu tun mit dem niederschmetternden Ergebnis der Steinerschen Reflexion. Wer die zehn Reprisen von Steiners Rondo nur abhört auf ihre Summen, der hört nur: "Schwermut", "unzerstörliche Melancholie", "anklebende Traurigkeit", "unzerstörliche Melancholie", "dunkler Grund", "tristitia", "Schleier der Schwermut", "Betrübnis", "Melancholie", "anklebende Traurigkeit". Es sind das zehn Variationen auf ein Thema aus Schellings "Über das Wesen der menschlichen Freiheit" aus dem Jahre 1809, das Steiners Text vorangestellt ist: "Dies ist die allem endlichen Leben anklebende Traurigkeit, die aber nie zur Wirklichkeit kommt, sondern nur zur ewigen Freude der Überwindung dient. Daher der Schleier der Schwermut, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens."

Die Schönheit, ein anderes Wort für Freiheit, liegt nicht im Ergebnis, sondern in der Durchführung, in der Bewegung des Gedankens. So trübe die Summen sein mögen, so schön ist das Spiel mit ihm. Es ist der Kern der romantischen Ironie, dass sie den schwarzen Grund des Lebens klingen lässt, dass sie ihn singt. Wer in Schellings Satz nur die "tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens" hört und nicht auch die "ewige Freude der Überwindung", der hat die Pointe verfehlt. Nicht nur Schellings, sondern auch die Steiners. Die Steinersche Verzweiflung ist die der Winterreise. Sie ist ganz und gar subjektiv und gleichzeitig hochartifiziell. Jeder ist fremd eingezogen und jeder zieht fremd wieder fort. Die persönlichste Erfahrung ist zugleich die allgemeinste. Dennoch: Wir verstehen den anderen so wenig wie er uns versteht. Die Liebenden bleiben auch in der innigsten Verschmelzung einander fremd.

Das ist bitter traurig und tröstlich zugleich. Es ist diese Melancholie, auf der die menschliche Freiheit wächst. Die Freiheit zur immer verletzenden Tat. Eine ihrer Spielarten ist die Kunst. Auch die Kunst von Steiners "Warum Denken traurig macht". Die bitteren Schlusssätze seiner raffinierten Kontertänze und Kadenzen - wir sehnen sie herbei wie einen Schlussakkord, der uns mit seiner Bitterkeit die Süße der davor gehörten Melodie erst recht klar macht. Es stimmt also nicht, dass die "Ergebnisse" nichts oder nur wenig zu tun haben mit der Schönheit der Erzählung. Sie sind ihr wesentlich. Sie bedarf des "dunklen Grundes", der alles zu verschlingen droht, um ihre Gegenbewegung zu wecken.

Die Schönheit der Steinerschen "Gedankenmusik", so Durs Grünbein in seinem bewunderungswürdigen Nachwort, hat viel mit den unterschiedlichen Fallhöhen seiner zehn - nennen wir sie ruhig Erzählungen - zu tun. Wie er zum Beispiel in der dritten in kleinen Sekundschritten in immer wieder neuen Varianten scheinbar immer tiefer hinuntergeht, das ist ein Meisterwerk philosophischen "Weinens, Klagens, Sorgens, Zagens." Daneben gibt es die plötzlichen, ganz und gar unerwarteten Auftritte. Der Tod zum Beispiel stürzt in der siebten Erzählung aus der reinen Mathematik auf die Szene wie aus einer Falltür. Erst wenn man den Text, man ist versucht zu sagen: die Partitur, noch einmal mit geschärftem Blick liest, entdeckt man, wie kunstvoll Steiner das Thema in einer den ganzen - unbelebten - Kosmos mitschwingen lassenden Gegenbewegung vorbereitet hatte.

So gelesen ist "Warum Denken traurig macht" ein beglückendes Buch. Es ist ein Triumph des Gedankens, ein Triumph der Kunst, ein Triumph des Subjekts gegen die Fatalität. Es ist ein immer wieder zu Schanden gehender Triumph. Am Ende besiegt immer der "dunkle Grund" die Freiheit. Aber die rappelt sich immer wieder auf. Ausgezählt wird sie nie. Man könnte die zehn Kapitel auch anders lesen. Als Ausschnitte nämlich aus unendlich vielen. - Mit dem Untertitel "Zehn (mögliche) Gründe" legt George Steiner diese Wendung nahe. - Dann wäre die "Traurigkeit" des zehnten Kapitels nicht das letzte Wort, sondern nach ihm ginge es weiter zur elften Geschichte, so wie es nach der "Traurigkeit" der dritten Geschichte eine vierte Geschichte gegeben hatte. Es entstünde so eine unendliche Kette von Melancholie, Schwermut und Tristitia und eine ebenso unendliche Kette der ewigen Freude ihrer Überwindung. Es wäre eine Geschichte, in der es unendlich viele Niedergemetzelte und Vernichtete gäbe und den ebenso unendlichen Kampf gegen die Gemetzel und die Vernichtung.

So gesehen wäre George Steiners Blick auf das Geschehen der von Benjamins Engel der Geschichte: "Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."

Aber George Steiner ist kein Engel. Er lebt nicht ewig, und der aufmerksame Leser ist ein ängstlicher Leser. Er fürchtet um den Autor. Wer "Warum Denken traurig macht" liest, wird den Gedanken nicht abwehren können, dieses sei ein letzter Text. Jedenfalls einer, der im Bewusstsein, dass es ein letzter ist, geschrieben wurde. Er hat eine zerbrechliche Größe, eine demütige Härte, der wir glauben die Todesnähe anzusehen. Nicht die dessen, der dem Tode noch einmal glücklich entkommen ist, sondern die dessen, der ihn vor sich sieht.

George Steiner: "Warum Denken traurig macht". Zehn (mögliche) Gründe. Aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn. Mit einem Nachwort von Durs Grünbein. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2006. 91 Seiten, 14,80 Euro. ISBN 3518418416.