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Nachgefragte Ressource

Von Rüdiger Wischenbart
26.02.2019. Die Buchbranche kriselt. Doch das Geschichtenerzählen boomt: Ob im Fernsehen, bei Netflix, in Games oder Büchern. AutorInnen sind gefragt, nur nicht immer dort, wo sie antworten wollen. Warum die Depression? Stürzen wir uns einfach in das neue Biotop!
Der Text ist Auszug einer Rede, die Rüdiger Wischenbart aus Anlass von "50 Jahre Verband der Schriftsteller" in Aschaffenburg gehalten hat. Wir danken für die Abdruckgenehmigung. D.Red.

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Die Wahrnehmung von Verlusten, und die verschiedensten Empfindungen der Vergänglichkeit, prägen mehr als alles andere die Selbstwahrnehmung der verschiedenen Zünfte rund um Buch und Lesen. Warum eigentlich? Leben wir, wenn es um das Erzählen von Geschichten und die Aufbereitung von Wissen geht, nicht in goldenen Zeiten?

Story-Telling, um es neumodisch auszudrücken, boomt. Wir beklagen, dass in Deutschland und europaweit der Umsatz mit Büchern rückläufig ist. Aber gleichzeitig verlagern sich etliche Erzählstränge schlicht von Büchern zu filmischen Geschichten oder komplexen narrativen Games, von geschlossenen Formaten wie dem Buch zu ausufernd epischen Erzählvorlagen, die ganze Gesellschaften von Mitspielenden zusammenführen.

Dabei knüpfen wir mit den neuesten Modellen des Schreibens und Publizierens nahtlos ans 19. Jahrhundert an, als sich Literatur, Buchmarkt und auch Urheberrecht im noch heute gültigen Verständnis konstituierten. Fortsetzungsromane, Serien, Massenpublikum, Abo-Modelle und geschäftstüchtige Verleger sind keine Erfindungen von Netflix, Kindle Direct Publishing und Schreib-Plattformen wie Wattpad. Hohe Literatur und breiter Publikumsgeschmack, solides Handwerk und nicht nur ästhetische Innovation sind seit langem eng miteinander verzahnt. Auch Trash hat Tradition!

Das Paradox der Buchwelten heute aber ist: Weshalb schrumpfen die Märkte? Weshalb wachsen die Sorgen vieler Buchmenschen? Warum nehmen wir so häufig so viele der neuen Optionen und Angebote erst einmal als Bedrohung wahr?

Die Zahl der potenziellen Leserinnen und Leser wächst. Das wird nur selten wahrgenommen. Dies gilt einerseits weltweit. In Schwellenländern von China und Indien bis Mexiko und Brasilien entstand eine neue Mittelklasse aus vielen hundert Millionen Menschen, mit Wünschen nach Bildung und Unterhaltung, nach Geschichten und Wissen. Doch der globale Absatz von Büchern wuchs marginal. Aber auch die Millionen an neuen Zuwanderern in den Industrieländern, auch in Deutschland, kamen, stiegen auf, leben, lernen, unterhalten sich. Aber irgendwie anders. Die Häkchen und die Ösen greifen nicht automatisch ineinander.

Unter den 82.636 Neuerscheinungen des Jahres 2017 in Deutschland sind genau 44 Bücher aus dem Polnischen übersetzt, ebenso viele wie aus dem Finnischen, zwei weniger als aus dem Hebräischen, aber mehr als die 37 aus dem Chinesischen und 35 aus dem Türkischen.

Dies steht 2,1 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern in Deutschland mit polnischen Wurzeln gegenüber, und 2,8 Millionen türkischer Herkunft. 1,1 Millionen mit Bindungen an Ex-Jugoslawien sind in punkto Übersetzungen in den verfügbaren Daten zu Übersetzungen nur schwer zu fassen. Schafkäse, Yeni Raki oder Vodka mit einem Halm Büffelgras sind längst feste Bestandteile deutscher Alltagskultur. Aber bürgerliche Großeltern aus Lodz oder Mersin können den in Dortmund oder Frankfurt aufwachsenden Enkelkindern nur sehr schwer Polskie książki oder Türkçe kitaplar besorgen.

Die Frage stellt sich, wie es kommt, dass Stimmen mit "Migrationshintergrund" recht selbstverständlich im Unterhaltungsfernsehen hörbar wurden, in der Comedy, im staatlich geförderten Art House Kino, auch unter kleinen und mittelständischen Unternehmungen unterschiedlichster Sparten. Wir kennen Künstlerinnen und Unternehmer, Politiker und Wissenschaftlerinnen mit "Migrationshintergrund". Unter Autorinnen und Autoren, in Verlagen oder im Feuilleton gilt dies bestenfalls marginal. Die Buchkultur hat in mehr als nur einer Dimension den Anschluss an die Transformation unserer Gesellschaften verloren.

Meine größte Sorge, wenn ich über die aktuellen Veränderungen bei Büchern, Lesenden und die Bücher Kaufenden nachdenke, ist nicht deren Digitalisierung - sondern dass wir alle uns so furchtbar schwer tun, über unsere Verliebtheit in unsere Besonderheiten und Alleinstellungen wenigstens ein Stück weit hinaus zu blicken.

Der hohe Anspruch der Exklusivität und Einzigartigkeit in Sachen Buch bedeutet, als Haltung betrachtet, nun einmal sich selbst genug zu sein. In Zeiten der Stabilität ist dies eine hohe Qualität. Zeiten der Transformation stellen indessen andere Anforderungen.

Was geschieht mit dem Heiligen Gral, wenn im Land rundum die Wege nicht mehr magisch auf den Gral hin ausgerichtet sind? Wenn Wege wie Flure neu angelegt werden, und die Leute durchaus mit Achtung zwischendrin auch auf die Burg gucken, aber im Grunde ein anderes Ding drehen?! Die größte Gefahr für den Gral ist doch nicht überrannt oder gestohlen zu werden. Sondern dass ihn die Leute beiseite schieben.

Lassen Sie mich meine Geschichte vom Erzählen noch einmal, aus einem ganz anderen Blickwinkel, erzählen.

Unlängst traf ich in Spitz an der Donau, bei den "europäischen Literaturtagen", den kroatischen Journalisten Ivica Đikić, einen ziemlich hart gesottenen Reporter, der in Kroatien heiß diskutierte Sachbücher über Politik und illegale Geschäfte am Balkan veröffentlicht hat. Auf etwas komplexen Wegen wurde aus diesen Berichten ein Roman, ein Filmprojekt für das kroatische TV und schließlich eine TV-Serie für den global expandierenden Medienkonzern Netflix, "The Paper", über kritischen Journalismus, schmutzige Geschäfte und alles dazwischen.

Für einen Schriftsteller vom Balkan bedeutet dies einen ganz unglaublichen Karrieresprung, mitten hinein ins Zentrum der europäischen Aufmerksamkeits-Maschinerien. Ich kann diese Behauptung mit Zahlen und Fakten gut belegen. Diese Verfilmung und Verbreitung als TV-Serie ist das Äquivalent zu einem veritablen Bestseller, mit Spitzenrängen in den Charts mehrerer Länder. Kein einziger Roman aus einer zentral- oder osteuropäischen Sprache hat es in den vergangenen zehn oder zwölf Jahren, seit ich diese Charts systematisch beobachte, in West-Europa in die Top-Ränge im Buchgeschäft geschafft.

Die viel sanfteren Erzählungen aus Neapel, die unter dem Pseudonym Elena Ferrante erschienen sind, "Una amica geniale", hat anfangs nicht ein Konzernverlag veröffentlicht, sondern ein Gespann aus einem italienischen und einem amerikanischen "Independent" Verlag, und wurde so via englische Übersetzung zu einem internationalen Bestseller. Aber auch ein anderer überraschender Welterfolg mit italienischen Wurzeln, die "Good Night Stories for Rebel Girls", fanden ihre Chance in Sachen "Empowerment" junger Mädchen nicht über die konventionellen Bahnen des Buchgeschäfts, sondern über den Aufbruch einer Autorin und einer Gestalterin aus Mailand nach Silicon Valley, über den Aufbau einer Online Community für die junge Zielgruppe von "girls", und über Crowdfunding.

Alle drei hier ganz kurz angetippten Geschichten aber zeigen direkt auf den realen Kern in der Sorge um den Verlust an Bedeutung im alten Buchgeschäft.

Die Digitalisierung von Buch und, weit darüber hinaus, von Geschichtenerzählen, von kultureller Produktion, Distribution und Rezeption insgesamt, ist viel umfassender. Es geht NICHT darum, wie viele Leute einen Roman nun am Handy lesen, oder doch lieber Serien gucken. Es geht darum, welche Leute überhaupt von Büchern angesprochen werden - oder ohne lange nachzudenken, scheinbar selbstverständlich, gar nicht als Zielgruppen oder auch als Autorinnen und Autoren wahrgenommen werden.

Wattpad, in Europa und Nordamerika lange ignoriert als Trash-Plattform für Fan Fiction nutzt heute künstliche Intelligenz und Machine Learning, um aus Millionen hoch geladener Stories besonders vielversprechende herauszufiltern, und mit deren Autorinnen und Autoren gezielt an Verwertungen weit über das Format Buch hinaus zu arbeiten. Und gleichzeitig sehr aktiv Zielgruppen von Schreibenden und von Lesenden weit jenseits der im klassischen Buchhandel so sprichwörtlichen "schwäbischen Hausfrau" anzusprechen.

Unter dem Stichwort "digitale Produktion" geht es für Autorinnen und Autoren darum, wie Ihre Arbeit, das Erzählen von Geschichten, die Arbeit am Wissensberg, hier und jetzt in ihre einzelnen Schritte und Bestandteile zerlegt, und neu zusammengesetzt wird. Es geht um die Industrialisierung des Schreibens.

Wenn Netflix 2017 weltweit mehr als 7 Milliarden Dollar für Produktionsbudgets ausgibt, und diese Summe 2018 vermutlich verdoppelt hat, wenn Amazon Studios zügig aufschließt und Disney in noch höheren Dimensionen in den Zugang zu digitalen Vertriebskanälen investiert, dann öffnet dies natürlich neue Möglichkeiten am Markt des Geschichtenerzählens! Dies ist aber auch ein gnadenlos harter Poker. Ein Manuskript nicht für ein Buch, sondern für eine Serie oder ein Game entsteht zumeist in einer komplexen Hierarchie in Autoren-Teams, mit Blick auf ein großes Produktionsvorhaben, und unter dem Druck, der sich aus großen Produktionsbudgets ableitet. Im dazu passenden Tonfall formuliert: Ein "Writers" Room" ist kein Ponyhof.

Das neue Zeitalter des Story Telling ist für einige Glückliche vergoldet. Als Autorinnen und Autoren werden Sie, in den besten Fällen, heftig umworben. Sie sind eine rare, nachgefragte Ressource, als "talent" für das "content development", wie die neuen Überschriften für die Geschichtenerfinder lauten.

Andere, nicht Auserwählte, werden auch bei ihren Buchverlagen zunehmend zu kämpfen haben, um das nächste Buch zu platzieren, und den drohenden Schwund bei Einnahmen, die sich schon jetzt über immer zahlreichere kleine Kanäle verteilen, zu kompensieren, um weiterhin ein Auskommen aus ihrer Arbeit zu gewährleisten. Die Ungleichheiten nehmen spürbar zu.

Das wilde Biotop als ein intimes Ineinander-Greifen von Miteinander und Konkurrenz arrangiert sich neu, mit allen alten und mit zahlreichen aggressiv agierenden neuen Akteuren. In dieser Transformation wird es großes Geschick erfordern, fundamentale Spielregeln und Rahmen mitzunehmen, wenn es um Honorierungen, geteilte Rechte und um Mitsprache im gesamten kreativen Prozess geht.

Was in diesen Transformationen nicht mehr hält, ist die Behauptung der Einzigartigkeit, also sich selbst genug zu sein.

Die Welt, gerade wie sie sich scheinbar eben wieder hinter Barrieren und Grenzzäunen teilt, ist eine globale und ineinander verwobene Geschichte geworden. Ich bin zuversichtlich, dass Sie in all den verschiedenen Formen und Tonlagen daraus auch weiterhin Ihre Geschichten spinnen werden, und bin schon neugierig, diese zu lesen, zu hören oder zu sehen.