Efeu - Die Kulturrundschau

Die Anmut einer Bach-Fuge

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22.11.2017. Die New York Review of Books stellt nach einem Besuch der Anni-Albers-Schau im Guggenheim Museum klar: Textilkunst ist Kunst, nicht Handarbeit und nicht Kunsthandwerk. Die SZ begutachtet das schöpferische Handwerk des Fotografen Werner Mantz. Die NZZ lauscht Martha Argerich beim entfesselten Selbstgespräch. Außerdem bringt sie Hintergründe zum Eklat um den Schweizer Buchpreis. Die taz lässt sich noch einmal von Peter Brooks großem Welttheater in den Bann schlagen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.11.2017 finden Sie hier

Kunst


Anni Albers: Studie für einen nicht angefertigten Wandbehang Josef und Anni Albers Stiftung, Bethany CT. Foto: Tim Nighdwander/Imaging4Art ©The Josef and Anni Albers Foundation, VEGAP, Bilbao, 2017

Als einen Akt der Wiedergutmachung, der Wieder- und Neuentdeckung feiert Andrew Dickson in der New York Review of Books die große Anni-Albers-Schau im New Yorker Guggenheim Museum, mit der die Künstlerin endlich von den Rändern der Kunst zurückgeholt wird, wo sie als Textilkünstlerin quasi automatisch hingeschoben wurde: "Was einem sofort aufgeht, wenn man die Guggenheim-Schau betritt ist die Frage: Warum in Gottes Namen wurde sie überhaupt vergessen? Eines der ersten Werke ist auch eines von Albers' frühesten: Das Design für einen Wandbehang von 1926, als sie noch Studentin am Bauhaus in Weimar war. Als sie dort ankam, versank sie in einem Gewirr aus Hoffnungslosigkeit und besuchte die Textilklasse, widerwillig, denn es war der einzige Kurs, in den sie sich als Frau einschreiben konnte. Doch trotz ihres geringen Unterhalts war ihr schnell klar, dass sie ihr Metier gefunden hatten. Ihr Entwurf ist nur 13,5 Zoll hoch, in Bleistift und Gouache, ein rechteckiges Mondiran-artiges Puzzle aus gelben, schwarzen und blauen Streifen und Qaudern, die durch Albers' Webtechnik betont werden. Doch das Werk hat die Präzision und die Anmut einer Bach-Fuge: Motive werden angespielt und neu angeordnet, Echos, Wiederholungen und Variation zusammengefügt mit Elan und Haltung."


Werner Mantz, Café Wien, Köln, 1929, Museum Ludwig, Köln, Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln.

SZ-Kritikerin Carin Lorch feiert die Entdeckung des künstlerischen Fotografen Werner Mantz im Kölner Museum Ludwig, den sie bisher nur als soliden Dokumentaristen kannte: "Es scheint, als stiegen jetzt aus diesem soliden Werk kleine Geister auf, aus dem Nachlass eines Fotografen, der sich nie als Künstler verstand, zeitlebens Abstand hielt zu Kollegen wie August Sander, der keine Ausstellungen besuchte, keine Bücher zur Fotokunst diskutierte und nach dem Zeitpunkt seiner Pensionierung die Dunkelkammer nie wieder betreten hat. 'Schöpferisches Handwerk' nannte Werner Mantz, der 1983 starb, seine Arbeit."

Für die New York Times besichtigt Michael Kimmelman die beiden Ausstellung zu dem von Cornelius Gurlitts gehorteten Bilderschatz in Bern und Bonn. Kimmelman wundert sich ein wenig über die aufkommende Kritik an den Behörden, die sich ganz wie bei Al Capone auf Steuerhinterziehung berufen mussten, um das zusammengeklaubte Konvolut konfizieren zu können. Denn eines zeigen ihm die Ausstellungen über Gurlitt sehr deutlich: "Es gibt keinen Zweifel, dass er wusste, was er tat, und dass er wusste, dass es falsch war."

Besprochen werden eine Schau der bizarren amerikanischen Filmkünstler Mary Reid Kelley und Patrick Kelley in der Tate Liverpool (Guardian) und eine Ausstellung mit Zeichnungen und Lavierungen von Victor Hugo im Wiener Leopold-Museum (Standard).
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Literatur

In der NZZ trägt Roman Bucheli Hintergrund zum Eklat bei der Verleihung des Schweizer Buchpreises. Der nominierte Urs Faes sei dabei "aufs Schäbigste öffentlich desavouiert" worden, als sein Buch praktisch nur mit einem Verriss von Martin Ebel vorgestellt wurde. Lukas Bärfuss, Monique Schwitter und Melinda Nadj Abonji, die sich an einer Solidaritätsbekundung für den Autor versuchten, wurden im Radio abgeschnitten. Die Organisatoren, die sich schon in die Arbeit der Jury eingemischt haben sollen, wollten die Sache unter dem Deckel halten. So Bucheli, der mit dem Verhalten aller unzufrieden ist, auch mit dem der Protestierer: "Hätten sie an der Preisverleihung die Zivilcourage besessen und Klartext gesprochen, hätte Lukas Bärfuss sich ein Herz gefasst und gesagt, was zu sagen war, nämlich ein deutliches Wort des Protests gegen die Beleidigung eines Kollegen, statt nur schwammig zu salbadern, niemand hätte sie daran hindern können." Und wenn die Jury tatsächlich behindert wurde, "dann wäre es die Pflicht der Jury oder der betroffenen Juroren, ihre Arbeit unter öffentlichem Protest niederzulegen. Indem Gerüchte gestreut werden, tut man der Sache den denkbar schlechtesten Dienst."

In der FAZ antwortet unterdes der von Lukas Bärfuss gestern ebendort angegriffene Literaturkritiker Martin Ebel (unser Resümee) und nennt dessen Sicht auf die Dinge reine Verschwörungstheorie: "Ein Fitzelchen stimmt immer, auch wenn Lukas Bärfuss kräftig danebenhaut. Problematisch für den Literaturbetrieb und damit für die Literatur sind nicht Kumpanei und Filz, sondern die Ausdünnung der Literaturkritik. Es gibt, wegen anhaltenden Spardrucks und redaktioneller Fusionen, immer weniger 'Player' - Martin Walser nannte sie: Platzanweiser. Die haben folglich größeren Einfluss. Aber genau das kann einem als Player unangenehm sein." Im Interview mit Deutschlandfunk Kultur erklärt das ehemalige Jury-Mitglied Hans-Ulrich Probst, dass in seiner Zeit nie ein Organisator in die Debatte der Jury eingegriffen hätte.

Weitere Artikel: Es gibt schlimmeres für einen Autor als ein erfolgloses Buch: ein unvollendetes, meint Alain Claude Sulzer in der NZZ: "Vom Künstler aus gesehen", so Sulzer, ist es "Ausdruck und Beleg der größten Niederlage, die er sich selbst bereiten konnte".

Besprochen werden Shumona Sinhas Roman "Staatenlos" (FR), Arno Tauriinens Roman "Goldgefasste Finsternis" (taz), Anna Galkinas Roman "Das neue Leben" (NZZ), Mark O'Connells Band "Unsterblich sein" (NZZ), Rodrigo Hasbúns Roman "Die Affekte" (Tagesspiegel) und Nikolaus Heidelbachs Kinderbuch "Schornsteiner" (Tagesspiegel).
Archiv: Literatur

Musik

Christian Wildhagen, der Glückliche, ist für die NZZ beim Lucerne Festival, das Martha Argerich schwungvoll mit Robert Schumanns a-Moll-Konzert op. 54  eröffnete. Vladimir Jurowski und das Deutsche Kammerphilharmonie Bremen hatten Mühe mitzuhalten, erzählt er: "Vom ersten Augenblick an entfesselt Argerich ein mitreißendes Selbstgespräch, so überreich an pianistischen Nuancen, als wollte sie den Orchesterpart vollends überflüssig machen. Wie beredt sie allein das zentrale 'Chiara'-Motiv am Beginn des Hauptthemas gestaltet, Schumanns in Tonbuchstaben versteckte Hommage an seine Braut Clara, die er erst ein Jahr vor der Komposition des Kopfsatzes nach langem Kampf den Fängen von Vater Wieck entrungen hatte. Argerich scheint die ganze leidige Geschichte in nur vier Tönen zu erzählen: indem sie das anfängliche C des Motivs hell und hoffnungsvoll leuchten lässt, schon das folgende H aber in gleichsam verschattetes Mondlicht taucht und vor dem bekräftigenden doppelten A am Ende eine fast unmerkliche Zäsur einbaut - ein Zögern, das alles sagt."

Weitere Artikel: In der Welt erinnert Manuel Brug an den Barockkomponisten Alessandro Stradella. Christoph Wagner annonciert in der NZZ das Zürcher Jazzfestival "Unerhört" 2017. Antje Rößler berichtet in der neuen musikzeitung über das Musikfestival "Montforter Zwischentöne" im österreichischen Feldkirch.

Besprochen werden Olga Neuwirths Raumklangprojekt "Le Encantadas" beim Festival Wien Modern (Standard), U2s neues Album "Songs of Experience" (FR), ein offenbar wenig inspiriertes Konzert Chick Coreas in der Tonhalle Maag (NZZ), ein Konzert von Laibach in Berlin (taz), Willie Nelsons jetzt erstmals auf Vinyl erschienenes Album "Spirit" (Standard) und Marc Boettchers Biografie der ostdeutschen Jazzsängerin Inge Brandenburg "Sing! Inge, Sing!" (nmz).
Archiv: Musik

Bühne


Peter Brook: "Battlefield" am Schauspiel Köln. Foto: Théâtre des Bouffes du Nord

Als groß, mythisch gar erlebte taz-Kritiker Peter W. Marx das seltene Glück eines Gastspiels von Peter Brook in Köln. Mit seiner Produktion "Battlefield" knüpft Brook an seine monumentale Inszenierung des "Mahabharata"-Epos von 1985 an - mit großer poetischer Kraft, wie Marx versichert, aber leider ohne die Kritik am postkolonialen Geist seines Vorgehens aufzunehmen: "Heute, 30 Jahre später, in einer politischen Situation, die die Frage nach der Möglichkeit interkulturellen Dialogs mindestens so eindringlich stellt wie damals, hätte man gerne auch Spuren dieser Reflexion gesehen. Doch diese Chance bleibt in 'Battleground' ungenutzt. Brook/Estienne präsentieren Brooks Welttheater - in verdichteter Form und mit der Perfektion eines großen Theaterabends. Die Inszenierung kehrt nur zu den Wurzeln ihrer eigenen Ästhetik zurück - vergeblich sucht man nach Spuren einer Auseinandersetzung etwa mit indischen Theaterformen wie dem Katakhali. So bleibt auch die internationale Besetzung blind gegenüber dem kulturellen Ort der Erzählung; er verschwindet hinter dem leeren Raum."

Besprochen werden Corinna von Rads Inszenierung von Henry Purcells Oper "Dideo und Aeneas" am Weimarer Nationaltheater (FAZ) und Chris­ti­an Spucks Cho­reo­gra­phie zu "An­na Ka­reni­na" am Baye­ri­schen Staats­bal­lett (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Andreas Busche berichtet im Tagesspiegel über eine Debatte zum geplanten neuen Filmhaus in Berlin. In der NZZ empfiehlt Christian Weisflog für heute abend die Arte-Doku "Hissa Hilal - Eine Stimme hinter dem Schleier" über die saudische Dichterin Hissa Hilal. Michael Jürgs schreibt im Tagesspiegel zum 100. Geburtstag der Ufa. Andreas Busche gibt im Tagesspiegel eine Vorschau auf das Berliner Festival "Around the World in 14 Films" im Kino der Kulturbrauerei. Die Berliner Zeitung meldet den Tod des Schauspielers David Cassidy.

Besprochen werden Antje Kruskas und Judith Keils Dokumentarfilm "Inschallah" (Berliner Zeitung), Nina Prolls Film "Anna Fucking Molnar" (Presse), Jonathan Daytons und Valerie Faris' "Battle of the Sexes" über das Tennismatch Billie Jean King vs. Bobby Riggs (Standard), Kathryn Bigelows Film "Detroit" (FAZ, SZ, in der taz liefert Christian Werthschulte eine Reportage aus Detroit) sowie Catherine Gunds und Daresha Kyes Doku über die Sängerin Chavela Vargas (Presse).
Archiv: Film

Architektur

Marcus Woeller berichtet in der Welt von einer Berliner Veranstaltung der Reihe Stadtforum, die darüber nachdachte, wie in den nächsten zwanzig Jahren Wohnungen für die geschätzten 200.000 Einwohner mehr geschaffen werden können: "Der eingeladene Stadtplaner Rudolf Scheuvens, der an der Technischen Universität Wien die Fakultät für Raumplanung und Architektur leitet, machte in einem Vortrag deutlich, dass schon ein Vergleich mit der Wiener Gegenwart illusorisch ist. '180.000 zusätzliche Einwohner bedeutet, dass Sie in Berlin eine mittlere Großstadt bauen', erklärte er und ließ ein Beispiel aus Wien folgen. Mit der Seestadt Aspern entsteht dort seit 2010 ein neuer Stadtteil für 20.000 Einwohner. Es ist das zurzeit größte Stadtentwicklungsvorhaben in Europa mit 9000 Wohneinheiten plus Infrastruktur. 'Jährlich würde Berlin dann sozusagen zweimal ein Projekt in der Größe der Seestadt Aspern bauen.'"

Ebenfalls in der Welt kann Thomas Schmid keine Freude am Retro-Trend entwickeln, wie er am Beispiel einer Berliner Tankstelle zeigt, die von einem Immobilienentwickler zu Werbezwecken restauriert wurde, inklusive Ruß und Stahlträger: "Die verrußte Wand und der Haken sind nun zu musealen Stücken geworden. Sie sind Zitate. Sie künden nicht vom Vergangenen, sondern vom Sieg der Moderne, des Hellen über das Dunkle, des Leichten über das Schwere. Die Industriezitate haben ihr Eigenes, ihre Seele verloren, sie sind wie ein Skalp."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Berlin, Wohnungsbau, Retro, Raumplanung