Efeu - Die Kulturrundschau

Der Loop ist ein Virus

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24.07.2023. Die Welt sitzt aufgewühlt im Amphitheater von Epidauros, wo Frank Castorf die "Medea" inszeniert hat, und erwartet jederzeit, dass der Blitz das barbarische Europa trifft. Beim Filmemachen wird KI der Tod jeder Inspiration sein, warnt die SZ. Die NZZ bewundert Traummaschinen im Museum Tinguely. Die Berliner Zeitung stellt die israelische Sängerin AŸA und ihren Arabnb vor.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.07.2023 finden Sie hier

Bühne

Welt-Kritikerin Charlotte Szász ist ganz aufgewühlt nach Frank Castorfs "Medea"-Inszenierung im Amphitheater von Epidauros. Voller Widersprüche und gerade deshalb großartig ist diese Aufführung, schwärmt Szász. Castorf inszeniert den antiken Mythos als unbequeme Parabel auf das Scheitern des Westens. Medeas Wut richtet sich hier nicht nur gegen Jason, sondern vor allem gegen den Staat, der ihr das Recht auf Integration verweigert: "Dieser Konflikt wird im Stück auf die internationale Staatengemeinschaft übertragen. In einer Art Kinderspiel nehmen die Schauspieler die Rollen verschiedener Länder an: Deutschland, USA und Israel auf der einen, Russland, China und die Türkei auf der anderen Seite. Sie erklären sich gegenseitig den Krieg. Das CocaColaSchild über der Bühne ist im Verfall begriffen. Medea, die aus der fernen Kaukasusregion nach Griechenland kommt, steht hier für den Konflikt zwischen 'Barbarei' und dem rationalen Fortschritt der westlichen Vernunft."

"Jedermann" mit Michael Maertens in der Titelrolle. Foto: Salzburger Festspiele/Matthias Horn


Bei Michael Sturmingers diesjähriger Inszenierung von Hugo von Hoffmansthals "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen gab es Proteste der "Letzten Generation", berichten die Kritiker. Die passten allerdings so gut in die Aufführung, die Sturminger dieses Mal in einem dystopischen Endzeit-Kosmos angesiedelt hat, dass sich Nachtkritiker Reinhard Kriechbaum erstmal fragte, ob sie nicht Teil der Inszenierung seien. Vor allem die Darsteller überzeugen ihn, allen voran Michael Maertens in der Rolle des Jedermann, aber er auch der diesjährigen Lesart des Stücks bescheinigt er "Klugheit und Nachhaltigkeit". Taz-Kritiker Joachim Lange sieht eine Inszenierung, die es "in sich hat". Weniger begeistert ist SZ-Kritikerin Christine Dössel, die die Dramaturgie ein wenig "plump" findet. Weitere Besprechungen in FAZ und Standard.
Archiv: Bühne

Literatur

Birgit Schmid sucht für die NZZ in Klagenfurt nach Spuren Ingeborg Bachmanns. In der Berliner Zeitung gratuliert Cornelia Geißler der Schriftstellerin Irina Liebmann zum Achtzigsten.

Besprochen werden - sehr nützlich zu dieser Jahreszeit! - zwei Bücher über Wespen (Zeit online), Herta Müllers Essayband "Eine Fliege kommt durch einen halben Wald" (NZZ), A.L. Kennedys neuer Roman "Als lebten wir in einem barmherzigen Land" (Tsp), "Mittsommertage" von Ulrich Woelk (FR) sowie Kinderbücher von Jess Rose, Holly Goldberg Sloan, Brenda Heijnis und Anne Becker (FAZ).
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Film

Die Autoren-Gewerkschaft in Hollywood streikt, die Angst vor Drehbüchern, die nur aus KI-Datenbanken stammen, geht um. Aus Sicht der Produzenten ließen sich damit Blockbuster vorprogrammieren. Das wäre eine fatale Entwicklung, deren Anfänge wir jetzt schon sehen, findet Susan Vahabzadeh. "Personalisierung" ist bereits seit einigen Jahren ein Schlagwort in den Kino-Branchenblättern. Beachtet wird von der KI ja, was früher schon im Kino erfolgreich war. Schon jetzt können die Studios ziemlich genau ausrechnen, wie viele Zuschauer ein Film haben wird. Was sie nun wollen, sind Programme, die ausrechnen, wie ein Film genau aussehen sollte, um möglichst vielen Leuten zu gefallen. Das wäre der Tod jeder Inspiration. Die Programme, mit denen Streamingdienste ihren Kunden Empfehlungen geben, funktionieren schon mit KI und sind dafür ein gutes Beispiel - sie rechnen aus, was einem Zuschauer gefallen würde, der bestimmte Filme vorher gesehen hat. Und nicht, welche Filmen sie oder ihn überraschen, herausfordern oder erschüttern könnten."

Weitere Artikel: In der NZZ erinnert der Historiker Peter Payer an den Schneider Franz Reichelt, der im Februar 1912 vor laufenden Filmkameras in einem selbstgenähten Fallschirmmantel vom Eiffelturm sprang. Joachim Hentschel war für die SZ bei der Pressekonferenz Dario Argentos anlässlich einer Hommage an den Regisseur im Deutschen Filminstitut in Frankfurt. Harry Nutt sieht für die Berliner Zeitung die Krankenhausserie "In aller Freundschaft" und sehnt sich nach Dr. House. Claus Löser annonciert in der Berliner Zeitung 10 Jahre "Lange Nacht der Berliner Filmfestivals". Und Samira El Ouassil entpuppt sich in der SZ als Fan der Serie "Westworld" und empfiehlt das Buch "One more loop around the bend" als Sehhilfe zur Serie.

Besprochen werden eine ZDF-Doku über die Kriegsfotografin Anja Niedringhaus, die beim Attentat auf eine Polizeistation in Afghanistan umkam (Tsp), Volker Koepps Uwe-Johnson-Doku "Gehen und Bleiben"  (taz) und Juel Taylors Sci-Fi-Komödie "They Cloned Tyrone" (SZ).
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Kunst

Janet Cardiff & George Bures Miller, Experiment in F# Minor, 2013
© 2023 courtesy the artists, Art Gallery of Ontario

Eine inspirierende Mischung aus "technischer Perfektion und Poesie" bewundert NZZ-Kritikerin Maria Becker im Museum Tinguely in Basel, die dem Werk des kanadischen Künstlerduos Janet Cardiff und George Bures Miller gewidmet ist. Die "Traummaschinen" sind komplexe mechanische Konstruktionen, die alle Sinne ansprechen, schwärmt Becker, die hier eigentlich gar nicht von "Maschinen" sprechen möchte: "Eher würde man sie als Orte bezeichnen, an denen Überraschendes, Erschreckendes, Wundersames geschieht. Die Künstler arbeiten bewusst mit der Imagination der Museumsbesucher. Ihre Arbeiten setzen etwas in Gang, was sich fast unbemerkt in ihm weiterspinnt. Was rufen die Diaprojektionen einer Reise, die Filmschnitte, die Fetzen von Musik und alltäglichen Geräuschen wach? Es sind Geschichten, Erlebtes, Gesehenes - oder, etwas weiter gefasst: Imaginationsräume. In jedem Betrachter werden es andere Räume sein. Sie sind so vielgestaltig wie der individuelle Schatz an Erinnerungen, den er in sich trägt."

Besprochen werden die Retrospektive von Maria Bartuszová im Museum der Moderne in Salzburg (Standard) und die Ausstellung "Der neue Mensch, der Ansager, der Konstrukteur. El Lissitzky: Das Selbstbildnis als Kestner Gesellschaft" in der Kestner Gesellschaft Hannover (taz).
Archiv: Kunst

Musik

Stefan Hochgesand stellt in der Berliner Zeitung die israelische Sängerin AŸA vor, die mit ihrem Debüt ein neues Genre prägen will: Arabnb. AŸA lebt heute in Berlin, was wohl auch mit ihrem gewalttätigen Vater zu tun hat: "Wenn sie heute von ihm spricht, fällt es ihr sichtlich schwer. Er muss ihr sehr wehgetan haben. Aber sie erzählt auch mit einem Lächeln davon, wie er, ein Taxifahrer aus jüdisch-arabischer Familie, stets am Steuer phantastisch sang - und ihr die arabischen Sounds nahebrachte, deren Spurenelemente sich nun auch auf ihrer 'Used'-EP finden. Mit der Musik ging es für Shoshani dann mit 17 Jahren ausgerechnet beim israelischen Militär so richtig voran, wo sie im Musikcorps spielte. 'Wir traten zwei Jahre lang jeden Tag auf. Manchmal mehrmals pro Tag. Vor Soldaten und vor Familien, deren Wohnorte attackiert wurden, etwa in Ghaza. Es hat mich traumatisiert. ... Andererseits hat Shoshani dort auch viel gelernt: 'Ich kann jederzeit auftreten', sagt sie, 'auch wenn kein Mikro da ist. Auch Wind und Bomben hielten mich nicht ab.'"



In der taz stellt Ogulcan Korkmaz den in Berlin lebenden Oudbauer Mohamed Khoudir vor. Beigebracht hat er sich den Bau dieser arabischen Gitarre selbst, als er Oud spielen lernen wollte, in Berlin aber kein Instrument fand: "Er recherchierte in Bibliotheken, um die Theorie hinter dem Instrumentenbau zu lernen. Er suchte den Kontakt zu anderen Instrumentenbauern: 'Hier in Kreuzberg war ein Gitarrenbauer, der hat mir mit der Decke, also der Vorderseite, geholfen', erzählt er. 'Ich war auch im Prenzlauer Berg bei einem Geigenbauer, den konnte ich viel fragen über Wirbel am Instrument. Letztendlich habe ich dann sechs Monate gebraucht, um meine erste Oud zu bauen.'"

Besprochen werden das neue Album von Christine and the Queens (FR), ein Jazzkonzert mit Lakecia Benjamin in München (SZ) und das Debütalbum der Berliner Band Camino Tronco, das Birgit Rieger im Tagesspiegel empfiehlt: "Der Grund, warum man sich in dieser Musik besonders gut verlieren kann, ist, dass hier zwar der Soundtrack existiert, aber noch nicht der zugehörige Film. Das eigene Roadmovie entwirft jeder selbst. Ganz nach Lust und individueller Sehnsucht."

Wir hören rein:


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Stichwörter: Aya, Oud