Essay

Die Vielfalt preisen

Von Florian Kessler
03.07.2015. Heute ist das Netz die literarische Öffentlichkeit. Und eine Gesellschaft, in der nicht nur Profis das Gespräch dominieren, kann nicht völlig missraten sein. Wozu also eine Printzeitung im Netz? Was wir dagegen gebrauchen könnten, wäre ein renovierter Alfred-Kerr-Preis!
Florian Kesslers Artikel antwortet auf Wolfram Schüttes Plädoyer für eine Literaturzeitung im Netz. Hier alle Artikel der Debatte.
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Nee. Eher nicht. Ich ahne, dass es sie nicht geben wird, die hier beim Perlentaucher diskutierte große zentralisierte Literaturzeitung, die Widerstand leisten soll gegen das Verschwinden der angestammten literarischen Öffentlichkeit.

Ich ahne es, bedauere es aber eher nicht.

Denn das wichtigste Schlagwort in Wolfram Schüttes unbedingt lobenswertem Plädoyer finde ich einfach nur problematisch. Es lautet "zentralisiert". Das Format einer großen Online-Zeitung mit ""kanonischen" (zentralisierten)" Ansprüchen wird vorgeschlagen, weil die Offline-Literaturfeuilletons an Bedeutung verlieren, die eben zu ihren hehren Zeiten für exakt solche Ansprüche standen. Letztlich ist das eine retrograde Phantasie: Die Vergangenheit ist vorbei, bauen wir sie doch einfach nochmal nach.

Kein Zweifel: Die Rückgangszahlen der Literaturkritik in den Feuilletons, wie sie sich in Thierry Chervels Perlentaucher-Auswertung definitiv abbilden, sind niederschmetternd. Auf jeden Fall geht da stetig etwas verloren: Allgemeines Bekenntnis zur Kultur, Aufmerksamkeitsweite, Expertise. Eine Gesellschaft, die neben vielem anderen viele Literaturkritiker und vielleicht sogar einige Kritikerinnen beschäftigen wollte, und diese eventuell sogar noch halbwegs anständig finanzierte, war sicherlich in zumindest diesem einen Punkt keine ganz schlechte Gesellschaft.

Aber eine Gesellschaft wie die heutige, in der nicht nur ausschließlich professionelle Literaturkritiker das literarische Gespräch mitbestimmen können, ist dann eben auch zumindest in diesem einen Punkt nicht völlig missraten. So kulturell verheerend Amazon sein mag, so kulturell großartig bleibt selbst jede Amazon-Kundenrezension. Und das gilt natürlich noch viel stärker für all die Blogs, Plattformen und Nischen, die sich horizontal und auf Augenhöhe mit ihren möglichen Lesern mit den verschiedensten kulturellen und literarischen Themen auseinandersetzen. Der einfache Beweis für die fantastische Lebendigkeit dieser vielen verschiedenen derzeitigen Auseinandersetzungen besteht wahrscheinlich darin, dass jedem einzelnen Leser meines Eintrags hier jeweils vollkommen andere Medienformate, Webseiten, Facebook-Virtuosdiskutanten und so weiter einfallen werden, deren Beschäftigungen mit Literatur ihn interessieren.

Die Idee eines allein von einem zentralen Experten-Gremium herausgegebenen, den möglichen Lesern gebündelt vorgesetzten, Bezahlung verlangenden, chamäleonhaft eine Zeitung imitierenden Periodikums widerspricht also vollkommen dem einen großen Qualitätssprung, den das Netz der sich gegenwärtig vollkommen verändernden literarischen Öffentlichkeit gebracht hat. Dieser Qualitätssprung ist die Öffnung des Sprechens über Literatur - hin zum Publikum und hinein in die verschiedensten gleichberechtigten Diskurse und Interessen. Der Literaturkritiker Wolfram Schütte war ja auch selbst herausragend und beeindruckend neugierig und offen für diese Qualitäten, wenn er nach der Frankfurter Rundschau für Plattformen wie das TITEL-Kulturmagazin und CULTurMAG schrieb. Ich finde: Wenn über die Veränderungen der literarischen Öffentlichkeit nachgedacht werden soll, dann muss darüber nachgedacht werden, wie derartige Vielfalt gefördert werden kann - wie es gewissermaßen möglichst viele verschiedene Wolfram Schüttes, Frankfurter Rundschau-Rezensionen, TITEL-Kulturmagazine und CULTurMAGs geben kann; und wie über solche möglichst vielen verschiedenen Zugriffe dann doch wieder gemeinsam gesprochen werden kann.

Die Frage ist also, wie die Vielfalt der Auseinandersetzungen mit Literatur zu verbessern wäre. Was für Instrumente braucht es, um Vielfalt zu fördern? Zunächst gilt da natürlich wie bei jeder Instrumentenwahl: Die Handhabung selbst sollte bitteschön nicht zu viel Aufmerksamkeit verbrauchen. Auch das spricht aber stark gegen die Institutionalisierung einer zentralen Redaktion. Die ja eben nicht nur Geld kosten würde, sondern die vor allem auch irre Aufmerksamkeit ausgerechnet auf sich selbst ziehen müsste: Wer gehört dazu, wer gehört nicht dazu (und wie verhindert sich genau solche Cliquenwirtschaft, wie sie sich etwa andeutet im freundlich-gutgemeinten Beitrag des Festivalmachers Michael Kötz, der seinem Bekannten Schütte gleich mal die Mitarbeit im Gründungsklub anbietet).

Nee, nee, wirklich nicht. Und Achtung, jetzt kommt mein Vorschlag. Der in meinen Augen ungleich durchführbarer ist, jedoch erstmal leider auch unglaublich lahm klingt, denn Preise sind in Kulturdeutschland ja dicht gesät und haben - mit Ausnahme der beiden Preise der Buchmessen, die im Guten wie im Schlechten definitiv Auswirkungen auf die literarische Aufmerksamkeit nehmen - eher sedierende Wirkung. Aber dennoch: Preise sind ein kaum schlagbares Instrument, um vielfältige Positionen nebeneinander zu stellen, sie zu diskutieren und durchaus auch zu bewerten. Kleinerer praktikabler Vorschlag also: Wie wäre denn statt einer Literaturzeitung ein großer, öffentlich verhandelter Preis für Literaturbeiträge - und zwar Literaturbeiträge jedes Kalibers im gleichen Topf, online und offline, vom Rezensionsblog über die Autorenbeiträge der neuen Verlagsblogs bis hin zu Vierspaltern im Hochfeuilleton.

Preisfragen und Wettbewerbe waren ein Werkzeug der Aufklärung, um unter ungewissen Umständen ungelöste gesellschaftliche Problemstellungen zu verhandeln. Ich würde sagen: Wettbewerbe können genau das selbstredend immer noch leisten. Für mich wie für viele Leser dieser Jahre lautet ein entscheidendes Problem: Wie können wir überhaupt noch gemeinsam über Kultur sprechen, wenn die Medienumwälzungen jeden Kanon erschüttern und zersplittern? Ich ahne: Darauf haben viele verschiedene schreibende Leser und lesende Schreiber viele verschiedene gute Antworten. Ein jährlich ruhig zumindest ein Stück weit buchpreisartig-spektakulär vergebener Preis mit vorangegangener Longlist und Shortlist und offen vorgebrachten Auseinandersetzungen der rapide wechselnden Jurys würde viele verschiedene solcher Antworten in die geneigte Öffentlichkeit tragen.

Börsenverein, reformier doch einfach mal grundlegend deinen ehrlich gesagt ein ganz wenig angestaubt wirkenden Alfred-Kerr-Preis! Ich glaube, das Jahr, in dem in öffentlicher Auseinandersetzung Blogger und Literaturkritiker über ihre jeweiligen Kriterien und Standards sprechen würden, und dieses Sprechen in zumindest halbwegs große Berichterstattung transportiert würde - dieses Jahr wäre ein gutes Jahr für die literarische Öffentlichkeit.

Das war auch schon mein Punkt. Bloß noch eine Sache. Nämlich: Das soll jetzt keine Lobhudelei sein, aber wer über die Förderung der Vielfalt des Sprechens über Kultur sprechen will, der kann im deutschsprachigen Raum vom Perlentaucher nicht schweigen, oder zumindest von dem, was er von seinen großartigen Ansätzen her sein könnte. Denn erst Meta-Berichterstattung und Kritik der Kritik bringen die zunehmend verstreuten Einzelheiten der vielen kulturellen Interventionen in Kontakt zueinander. Sympathischer als jede in sich abgeschlossene, bezahlbeschrankte, neue Internet-Riesenzeitung wäre mir darum immerzu ganz einfach, wenn es mehr perlentaucherartige Meta-Berichterstattung zu Themen der Feuilletons ebenso wie seitlich der Feuilletons gäbe. Mich würde wirklich sehr interessieren, wie überhaupt die Pläne des Perlentauchers aussehen, und wie durchwachsen oder euphorisch die Bilanz nach fünfzehn Jahren ausfällt. Aber zugegeben - womöglich ist das selbst in der Vielfalt heutiger Lese-Nischen ein eher spezielles Interesse.

Florian Kessler

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