Essay

Literaturkritik ist überall

Von Nikola Richter
30.06.2015. Ich würde Wolfram Schütte wirklich gerne einmal auf einen Kaffee treffen und ihm zeigen, wie er mit ein paar einfachen Handgriffen das für ihn vielleicht noch unübersichtliche Internet sondieren könnt. Was er sucht, das Finden ohne Suchen, gibt es längst.
Nikola Richters Artikel antwortet auf Wolfram Schüttes Plädoyer für eine Literaturzeitung im Netz. Hier alle Artikel der Debatte.
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Ich bin von Wolfram Schüttes Plädoyer ganz gerührt. Das, was ihn motiviert, eine neue Literaturzeitung zu fordern, eine, die es ermöglicht, zu "finden ohne zu suchen", weist ihn nämlich als einen neugierigen Menschen aus, als einen, der sich gerne immer wieder überraschen lassen will, einen, den die Trampelpfade der Bestsellerlisten und Bahnhofsbuchhandlungsstapel langweilen, einen, der sich immer wieder in neue Diskurse hineinlesen und -denken will, der mit anderen aktuell, zeitnah, textnah diskutieren möchte, der lesend - und auch schreibend - an einem zeitgenössischen literarischen Leben teilhaben möchte. All dies scheint ihm die derzeitige gedruckte, klassische Literaturkritik nicht mehr zu ermöglichen.

So dass er eine neue digitale Zeitung für Literatur fordert.

"Lieber Herr Schütte", möchte ich rufen, "diese gibt es doch schon! Und Sie sind doch auch bereits auf dem besten Wege dahin. Die Blogs, die Sie benennen, Logbuch Suhrkamp, 114 des S. Fischer Verlags, Resonanzboden von Ullstein: Abonnieren Sie sie über einen Feed-Reader (zum Beispiel Feedly). Dazu noch ein paar tolle Literaturblogger wie Stefan Mesch, Mara Giese, Karla Paul oder Jan Drees und viele andere, die Sie in den Linklisten der genannten Blogger finden. Oder richten Sie sich eine Liste auf Twitter ein, mit den Verlagen und Autoren, die Sie schätzen. Ich habe bereits eine für kluge, witzige, höchstliterarische Twitterer angelegt oder twittere unter #mikroreads die Links, die meinen Horizont als Digitalverlegerin erweitern. Oder befreunden Sie sich mit den Ihnen liebsten LiteraturkritikerInnen auf Facebook. Steigen Sie in die virtuellen Leserunden bei Lovelybooks oder Goodreads ein, hier eine zum Chat zwischen einer Deutschen und einem Syrer auf der Flucht "Mein Akku ist gleich leer". Stöbern Sie doch mal in der unabhängigen E-Book-Boutique minimore nach Neuerscheinungen aus größeren und kleineren Verlagen. Oder schließen Sie sich dem Verein Log.os an, der versucht, ein alternatives Kauf- und Leseportal zu Amazon zu gründen. Abonnieren Sie das E-Book-Programm meines Digitalverlags mikrotext, das sechs- bis achtmal im Jahr direkt in Ihren E-Mail-Eingang wandert, ganz bequem, ohne Anmeldung - und das mittlerweile auch von der FAZ in ihren E-Lektüren besprochen wird.

Alles ist in Bewegung. Man muss sich nur einloggen.

Ich würde Wolfram Schütte wirklich gerne einmal auf einen Kaffee treffen und ihm zeigen, wie er mit ein paar einfachen Handgriffen das für ihn vielleicht noch unübersichtliche Internet sondieren könnte, wie er in das "unübersehbar breite Angebot", von dem er schreibt, Schneisen schlagen könnte, so dass er auf einmal seine persönliche digitale "Zeitung für Literatur" auf dem Bildschirm sehen würde. Vielleicht sollte es einfach einen Workshoptag für alle Interessierten geben, der genau diese Lesetechniken vermittelt. Ich mache gerne mit.

"Lesen ist eine erlernte Kulturtechnik", schreibt Wolfram Schütte in seinem Artikel. Ja, das stimmt. Nur ist Lesen eben nicht auf das Lesen von gedruckten Buchstaben auf Papier beschränkt. Wir wissen mittlerweile, dass die digitale Revolution sogar das Lesen und Schreiben unterstützt, denn ein Großteil der Informationen, die im Netz versendet wird, ist textbasiert. Die erlernte Kulturtechnik Lesen entwickelt sich also durch die Digitalisierung weiter. Jüngst ergab ein Experiment der Stiftung Lesen, bei dem Jugendliche einen Tag lang während ihres Leseverhaltens beobachtet (gescreent) wurden, dass sie sowohl auf dem E-Reader als auch auf dem Papier intensiv lesen, auf dem Smartphone und in sozialen Netzwerken dagegen eher schnell scannen. Daraus folgt: Es hat sich schon eine zweite Lesekulturtechnik herausgebildet. Und wer diese beherrscht, wird merken: Literaturkritik ist überall. Nicht nur in den dünner gewordenen Feuilletons.

Das, was wir vor allem brauchen, ist daher eine neugierige kritische Haltung. Sowohl Im Netz: Weniger "I like" als auch eine Auseinandersetzung mit den Inhalten. Als auch auf dem Papier: Weniger ein "Das hat schon mein Kollege besprochen, also müssen wir jetzt "nachziehen"", als ein "Ich finde das interessant, weil ... Und ich glaube, das interessiert die Leser, weil ... Und das ist wichtig, weil ..."

Was wir, meiner Meinung nach nicht wirklich brauchen, ist ein Feuilleton, das seine doch immer noch meinungsbildende Funktion, ob im Radio, TV, Zeitung, Blog, aufweicht.

Ich wünsche mir, online und offline, mehr Mut zu eigener Meinung, zur Einordnung. Weniger Kaufempfehlungen als Kontextualisierung. Gerne auch kurze Besprechungen statt eine schwafelige lange. Oder eben eine umfassende zu vielen verschiedenen Publikationen. Das gefällt mir, das lese ich. Darauf reagiere ich.

Nikola Richter

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