Essay

Aus der ideologischen Antike

Von Marie Luise Knott
06.07.2015. Die Kunstbiennale in Venedig läuft noch bis November und wird auch dieses Jahr wieder Millionen Besucher anziehen. Doch die öffentlichen Reaktionen auf die von Okui Enwezor kuratierten Räume - zentraler Pavillon und Arsenale - sind durchwachsen. Von "Inhaltismus" und "Revolutionsromantik" ist die Rede. Überhört wurden im Trubel der Eröffnung die Stimmen, die in den Sälen umgehen, ein wenig wie Gespenster - oder sind es doch gute Geister?
Am Eingang zu den Giardini ragen dieses Jahr grellweiße Abgüsse von Skulpturen hohler kronkolonialer Macht in die Luft - allerdings sind alle Figuren des "Coronation Park" genannten Ensembles beschädigt. Auf den Sockeln finden sich Zitate aus George Orwells "Shooting An Elefant": "Wo der weiße Mann tyrannisch wird, zerstört er seine eigene Freiheit." Vor 12 Jahren, im Jahr 2003, hatte Christoph Schlingensief hier am Eingang, als Reaktion auf den 11. September 2001, hohe Pfähle aufgestellt, auf denen - eremitengleich - Menschen hockten und über unsere Köpfe hinweg den Besuchern von ihrer Angst erzählten. Wenn wir nicht darüber reden, holt sie uns ein, kommentierte Schlingensief damals. Wir müssen ins Erzählen kommen, weil das Erzählen die Welt zusammenhält.

Drinnen, im Zentrum des zentralen Pavillons, hat Enwezor eine Arena aufgebaut, keinen Sandplatz für den physischen Wettstreit wie bei den Griechen, eher ein Theater, mit revolutions- oder blutrotem Stoff ausgekleidet. Hier versammelt sich Gesprochenes und Gesungenes - Klänge wie Gesänge, Rezitationen, Vorträge und Filmvorführungen; hier wird das Kapital von Karl Marx "als Oratorium" rezitiert, auf Englisch, Satz für Satz, alle drei Bände. Zu anderen Tageszeiten werden Balladen aus der Zeit "der industriellen Revolution" gesungen, die Jeremy Deller in Archiven auf Broadsides, also einseitigen, zeitungsgroßen Flugblättern, fand und in einem eigens hierfür vorgesehenen Raum ausgehängt hat. Man versetzt sich dank der Anmutung dieser Riesenblätter in Gedanken zurück in deren Entstehungszeit und gerät, dank der rhythmischen Gestalt der Texte stumm ins gedankliche Deklamieren, ähnlich wie in dem Raum des Konzeptkünstlers Charles Gaines, der Manifeste von politischen Aktivisten versammelt hat und die Buchstaben in Noten transponierte. Herausgekommen ist eine Instrumentalmusik, zu der man, wie beim Karaoke, den ursprünglichen Text mitlesen, ja performieren kann, seine Konsumentenhaltung verlässt und in den "Mitvollzug" gerät.


(Bild: Charles Gaines, Noten und Text zur Rede von Susan B. Anthony)

So liest der Besucher zu Gaines Tönen die Verteidigungsrede Susan B. Anthonys von 1873: "Freunde und Mitbürger, ich stehe heute vor Ihnen, weil ich des Verbrechens beschuldigt bin, bei der letzten Präsidentschaftswahl meine Stimme abgegeben zu haben, ohne im Besitz eines Stimmrechtes zu sein. Heute möchte ich beweisen, dass ich mit meiner Stimmabgabe nicht nur kein Verbrechen beging, sondern schlicht mein Bürgerrecht ausgeübt habe, wie es die Verfassung der Vereingten Staaten mir und allen Bürgern gewährt, ein Recht, das uns kein Einzelstaat nehmen kann." - Später im gleichen Text liest man: "In moments of agony I have often wished myself to be a beast." Auch das Frauenwahlrecht hat in Verzweiflung angefangen.

Neben der Kapital-Lesung, neben den Manifesten, Balladen und Songs und neben Alexander Kluges Marx-Film Nachrichten aus der ideologischen Antike, geistert ein Werktitel von Luigi Nono durch die Räume: "Non consumiamo Marx!" Frei übersetzt: Kommt lasst uns Marx nicht konsumieren! Während Nono, der venezianische Komponist, 1968 die Proteste gegen den zunehmenden Warencharakter der Biennale auf Tonband aufnahm und daraus eine Komposition arrangierte, hat Olaf Nicolai fast 45 Jahre danach in Ermangelung revolutionären Aufbegehrens offensichtlich Komponisten damit beauftragt, sich von einem Marx-Zitat zu einem Lied inspirieren zu lassen. Die Ergebnisse werden auf der Arena aufgeführt.

Ob die Säulenheiligen des Sozialismus uns noch irgendwas zu sagen haben, fragte sich Harun Farocki schon 1967, als er mit Holger Meins den dadaistisch anmutenden urkomischen Kurzfilm "Die Worte des Vorsitzenden" produzierte, in dem ein anonymer Guerillero Mao lesend eine Seite aus der Roten Bibel herausreißt, und zum Papierflieger faltet, der, einmal losgeworfen, in der Suppentasse eines als US-Imperialist ausstaffierten Papiertigers landet. "Wir müssen seine Worte auf eine völlig neue Stufe bringen", sagt die Stimme aus dem Off.

Mao und Marx erscheinen uns derzeit so überholt und so stumm, wie Terry Adkins Assemblage überdimensionierter Musikinstrumente, die im Arsenale zu sehen sind. Zu hören sind sie nicht: eine Riesenspieluhr, deren Melodie wir nie kennen werden, ein Turm aus Trommeln, den nur Giganten bespielen könnten, und eine übergroße Klangschale "The Mute Instrument". Eine Kanone bedroht das Ensemble, doch zu festgelegten Tageszeiten singt hier ein Oktett zur Musik von Gene Coleman frei nach Haydns Schöpfung: "Es werde Licht - und es ward Licht."- "Seid fruchtbar und mehret Euch." So soll es sein.


(Bild: Terry Atkins, Trommelturm)

Auf der diesjährigen Biennale, die Enwezor unter dem Titel "All the world"s futures" ausgerichtet hat, gehen Stimmen und Erzählungen um, ein wenig wie Gespenster: Sie erzählen von Unterdrückung, Versklavung, aber auch von Protest und Revolte. Die Erfahrungen werden wiederbelebt und wiedererzählt, als glaube Enwezor, dass sich, wenn man die Quellen der "ideologischen Antike" animiert, sich eine zweite Renaissance ereignen könnte. "The futures" eben. Seine "Arena" wäre, so gesehen, eine Art Palaverbaum des 21. Jahrhunderts, wo angesichts der sich uniformisierenden Welt aus den Trümmerfeldern der Besiegten sich Stimmen versammeln, um vielleicht eines Tages dort, wo derzeit der globale Markt tobt, wieder einen Marktplatz der Ideen und des Wettstreits zu begründen. Das könnte Enwezors unsichtbarer roter Faden sein, sein ästhetisches Konzept sozusagen. Allerdings vermisst man im Palaver die Klangkaskaden und Kakophonien unserer Gegenwart. Kleine Kostproben gabe es bei Sonia Boyces "Exquisite Cacophony" oder in der Zweikanal-Video-Installation "Fara Fara" (Von Angesicht zu Angesicht) von Carsten Höller und Måns Månsson, wo die berühmten kongolesischen Musiker Werrason und Koffi Olomidé, im "clash concert" gegeneinander antreten. Wer länger durchhält, hat gewonnen. Gegenwart? Zukunft?

Auch wenn Enwezor viele Künstler erstmals nach Venedig holte, sind die meisten der Eingeladenen in großen Galerien längst etabliert. Terry Adkins ebenso wie Chris Marker, der in einem grandiosen und grandios langsamen Video die Tage nach dem Putsch gegen Salvador Allende vom 11. September 1973 in der französischen Botschaft Santiagos filmte. Während die Kamera die verzweifelten Gesichter der Menschen im Innern und die Erschießung eines Flüchtenden draußen zeigt, sagt Marker aus dem Off: "Die Angst ist ein schwarzer Bär, den man um alles in der Welt verjagen muss, sonst wird man reglos unter seiner Pranke." Gefangen in der Botschaft erzählen die Geflüchteten sich Geschichten von der Vergangenheit, die gestern noch Gegenwart war, von den Liedern, dem Glück des Kampfes ... Chris Marker kommentiert: Sie beschwören das gestrige Draußen, um in sich die Idee der Freiheit lebendig zu erhalten.

Auch Enwezor will offensichtlich mit seinen Stimmen die Existenz einer anderen Welt beschwören, ein Draußen, in dem der Lauf des Kapitals ausgesetzt ist. Dort, wo die bedrückende Erfahrung des historischen Scheitern wieder gesprochenes Wort wird, kommt Pluralität der Stimmen auf; der Text verliert seine ohnehin längst vergangene Autorität und kann sich in eine Rede zurückverwandeln, gegen die Einspruch und Widerrede möglich ist. Und Weiterdenken.

Eine Widerrede der besonderen Art schallt dem Besucher am Ende des Arsenale schon von weitem entgegen. Dort, wo die Schiffe einst in Venedigs Militärhafen einfuhren, hört man aus einem der Wachtürme die Melodie der Deutschlandhymne. "The Song of the Germans", wie der in Berlin lebende nigerianische Künstler, Emeka Ogboh, seinen Beitrag titelt. Haydn, gespielt von einem Streicherensemble, doch mit fremden Texten. Zehn verschiedensprachige afrikanische Flüchtlinge, die derzeit in Berlin leben, singen die Einigkeits-Hymne in ihrer je eigenen Sprache: auf Douala, Igbo, Ewondo, Bamun, Kikongo, Sango, More, Twi, Yoruba und Lingála. Einer fängt an und nacheinander stimmen alle ein. Eine minimalistische Installation: 10 schwarze Lautsprecher auf hölzerner Wandverkleidung. Auf der Bank sitzen Besucher, Ogbohs Gesangbuch in der Hand, und singen auf Kikongo oder Douala den Song des verheißenen Landes: "brüderlich mit Herz und Hand." - Okbohs Deutschenlied ist jedenfalls die herrlichste Installation, die man sich für Neil Mac Gregors Berliner Humboldt Forum denken kann. (Bild: Biennale-Besucherinnen singt das Deutschlandlied auf Douala.)

Alle Fotos: Martin Warnach