Essay

Nele liebt Paul, aber Paul liebt Isa

Von Jörg Sundermeier
30.06.2015. Ist es nur eine Frage des Orts? Auch im Internet braucht Kritik mündige Leserinnen und Leser - und mündige Kritikerinnen und Kritiker. Die Frage wäre also, ob Wolfram Schüttes Literaturzeitung im Netz etwas am Zustand des Betriebs ändern könnte.
Jörg Sundermeiers Artikel antwortet auf Wolfram Schüttes Plädoyer für eine Literaturzeitung im Netz. Hier alle Artikel der Debatte.
====================


Bevor man auf den Text "Fahrenheit 451 oder die Zukunft des Lesens" von Wolfram Schütte reagiert, sollte man sich, denke ich, einige Dinge noch einmal ins Gedächtnis zurückrufen:
Das so genannte Zeitungssterben - und das allmähliche Verschwinden der zurzeit vor allem im Print angesiedelten Literaturkritik - ist keine Konsequenz aus einem Rückgang der Lesefähigkeit. Die Zeitungen sterben nämlich nicht nur, weil die Leserinnen und Leser fortbleiben, weil sie vielleicht, wie Frank Schirrmacher schwarzmalte, gar nicht mehr lesen können. Vielmehr ist der herbeifantasierte Rückgang der Lesefähigkeit an der allgemeinen Konsumption von Zeitungen selbst gar nicht mehr messbar.

Denn seit Jahren wird der Gehalt der Printmedien immer weiter eingeschränkt, werden die Printmedien ihrer Stärken beraubt, welche da wären: Kommentar, Kritik, Glosse, Hintergrundartikel, sorgfältige Auswahl und Gastbeiträge von Fachkräften.

In Zeitungen, deren Inhalte im Jargon der Effizienzjünger eh zum "Content", zum "Infotainment" verkommen sind, in denen die Namen (nicht die Texte) von Autorinnen und Autoren zu "Marken" ernannt werden, weil es nichts mehr zu sagen gibt, und in denen "Statements" von "Promis" wichtig erscheinen, wird Kritik zu einer Randerscheinung.

Kritik basiert, anders als "Meinung", auf Kriterien. Daher können Postings und Widerpostings auf Facebook auch keine kritischen Auseinandersetzungen ersetzen. "Infotainment" bietet dagegen nur noch Produktinformation mit eingelegten "bunten Steinen", um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Oder wie Alexander Kluge im Rahmen dieser Debatte schrieb: "Zum Schluss ist alles nur noch Werbung und verwaltetes Medium."

Zudem kranken die Zeitungen nicht nur an den Verlusten, die die Verlage erleiden, da die Abozahlen zurückgehen. Auch nicht an den schwindenden Werbeumsätzen, an die sich die Blätter lange Jahre selbstvergessen gekettet haben, ohne Finanzierungsalternativen zu erwägen (höhere Preise für die Blätter werden ja nur sehr zaghaft und viel zu spät getestet). Das Zeitungssterben hat erst richtig begonnen, als den Besitzern und ihren Hausbanken die Margen nicht mehr genügten. Printmedien, die vor einigen Jahren schon eine satte Rendite erwirtschafteten, sollten plötzlich viel mehr "abwerfen" - man erinnere sich an das Wirken von David Montgomery bei der Berliner Zeitung, und Montgomery ist kein Einzelfall.

Seitdem ist in den Redaktionen so gespart worden, dass die Leserinnen und Leser oft nicht mehr wissen, warum sie für die wenigen Seiten Papier so viele Euros hergeben sollen. Die ein, zwei, drei guten Beiträge kann man schließlich gleich im Internet suchen.

Somit haben die Verlage mit überhöhten Gewinnforderungen ihren Untergang selbst besiegelt - oder zumindest, sollte Schirrmacher doch recht gehabt haben, ihren Niedergang beschleunigt.

Die Blog-Bewegung aber kann die aus den Printmedien und großen Newsportalen (die zumeist an große Zeitungen, Zeitschriften oder öffentlich-rechtliche Sender gekoppelt sind) verdrängte Literaturkritik nicht allein beherbergen. Es fehlen die dafür notwendigen vielen Leserinnen und Leser. Denn es gilt, was Wolfram Schütte über das Buch und seinen Leser schreibt: "Freilich muss er das Buch erst einmal finden, was er aber ohne Schwierigkeiten kann, wenn er weiß, was er sucht." Dem Blog ergeht es wie dem Buch: es muss gesucht werden, damit es gefunden werden kann. Doch der Gelegenheitsleser oder die junge, neugierige, aber noch unkundige Leserin - wie sollen sie die guten Blogs finden zwischen all den mittelmäßigen und schlechten? Man erinnere sich daran, wie man selbst zur guten Zeitung, zum guten Buch, zum guten Blog gefunden hat: man musste fragen, abwägen, lernen, auch das Abwägen richtig erlernen.

Dies alles nun vorausgesetzt muss man darüber hinaus über eine zweite sozioökonomische Tatsache reden, die ebensoviel mit dem Verfall der Literaturkritik zu tun hat, wie das teilweise hausgemachte Zeitungssterben.

Wie Jörg Drews schon vor über 20 Jahren dargelegt hat, muss sich eine freie Autorin fürs Feuilleton die Zeit, die sie braucht, um ein komplexes Buch zu lesen und zu verstehen, erstmal nehmen, heißt: leisten können. Sie kann nämlich in der Zeit, die sie benötigt, um ein Buch von Umfang und Art wie "Die Ästhetik des Widerstands" erfassen zu können, auch zwei kleine Interviews vorbereiten und machen, ein Autorenporträt schreiben und drei kleinere Romane "vom Stapel" besprechen. Damit wird sie weit mehr Geld verdienen.

Zum zweiten ist der Druck von Seiten der Chefredaktionen größer geworden, denn gern wird in der Welt, in der Klicks, Quoten und Evaluierungen über Wohl und Wehe der Kultur bestimmen, damit argumentiert, dass die Ressortleiterin und der Kulturredakteur es machen solle "wie die anderen", am besten: "vorher". Das schafft Zeit- und Quotendruck und sorgt für eine andere Art der Selbstkonditionierung. Bald schon sind solche Ermahnungen nicht mehr nötig, der Redakteur achtet von sich aus darauf, dass er die Bestseller, die "großen Autorinnen", die "brillante Debüts" vor oder gleichzeitig mit allen anderen im Blatt oder online hat. Wer aber diese Big Names sind oder sein werden, definieren vielerorts allein die Verlagsvorschauen, mithin die Pressestellen der Verlage. In der literarischen Kritik an Jochen Distelmeyers Debütroman konnte man all diese Prozesse wirken sehen, wie Thomas Böhm sehr luzide herausgearbeitet hat.

Oft sind die Literaturredakteure und die freien Kritikerinnen den Verlagen auch in anderer Hinsicht verpflichtet - sie schreiben Nachworte, Vorworte, geben Texte heraus oder haben gleich einen Beratervertrag. Es gehört aber längst nicht mehr zur Ettikette, in diesem Fall Abstand davon zu nehmen, die Produkte eines befreundeten Hauses zu besprechen oder Freundschaft und Beruf scharf zu trennen.

Angesichts dessen ist es also beinahe schon mutig, ein weniger gängiges Werk, ein sperriges Ding, das man nicht nur loben mag, kritisch würdigen zu wollen, als Texte, die "glatt durchgehen" zu schreiben, als Bücher zu empfehlen, die man "nebenbei wegrezensieren" kann.

So kommt es, dass weit über hundert Jahre nach Valérys oder Rilkes Absagen an den klassischen Roman allerorten vor allem solche Bücher gewürdigt werden, die mit Sätzen wie "Nele liebt Paul, aber Paul liebt Isa, doch er kann ihr das nicht sagen." oder "Irgendwie war das ja krass, dass Eddie Anna vergewaltigt hatte, andererseits war er aber auch mein Kumpel, und ich merkte, dass ich da irgendwie mehr für ihn fühlte." nicht nur in ihrem Stil parodiert, sondern auch in ihrem Content komplett erfasst sind. Und dass diese Romane - es sind ja immer Romane! - oft schon in den inzwischen obligatorisch gewordenen Weihnachtskaufempfehlungslisten-Listen - es sind ja immer Listen! - von jenen, die sie am Anfang des Jahres lautstark bejubelten, oft überhaupt nicht mehr berücksichtigt werden.
Somit aber hat ein Gutteil der professionellen Literaturkritik - im Print, on air oder online - schon jetzt soviel Vertrauen verspielt, dass ich mir nicht sicher bin, ob dieses so schnell zurückzugewinnen ist.

Wenn Bloggerinnen und Blogger, die sich selbst für "unprofessionell" halten, nun sagen, ihre Meinung sei auch was wert, so stimmt dies zweifelsohne - doch auch die Bloggerinnen und Blogger schielen, wie es ihnen ihr Internetbloganbieter nahelegt, auf Reichweiten, auf Feedback, auf Klicks, und sie machen einiges dafür.

Freilich, viele löbliche Ausnahmen gibt es hier wie dort. Aber wenn diese nur die Happy Few sind, ein erlauchter Zirkel der Eingeweihten, eine "Elite" (die Schütte gern hätte) - wie können da die Novizen zu ihnen aufschließen? Und braucht es nicht eh eine gebildete Masse, um einen Literaturbetrieb aufrechterhalten zu können?

Die Sportclubs, in denen Schütte ja ganz egalitär auch eine "Elite" wirken sieht, kümmern sich oft rührend um den Nachwuchs - sie arbeiten mit ihm, führen ihn an den jeweiligen Sport heran und erklären ihm die technischen und taktischen Finessen. Das kann man von der Literaturkritik insgesamt schwerlich behaupten - ja, manchmal fragt man sich angesichts des inflationären Gebrauchs der Adjektive "furios" und "fulminant" und der zugleich so oft so restlos fehlenden Beschreibung der Machart der Texte (wie Sieglinde Geisel zurecht moniert), ob die älteren Literaturkritiker den jüngeren überhaupt noch die technischen und taktischen Finessen erklären könnten.

Ich bin mir kurzum nicht sicher, ob ein Literaturbetrieb, der sich über diese Fragen nicht streiten möchte, vielleicht sogar nicht streiten kann, da er in den Verhältnissen gefangen ist, sich ausgerechnet in dem "Findebuch", das Wolfram Schütte mit seiner Internetzeitung Fahrenheit 451 als Utopie entwirft, anders gerieren würde.

Dabei ist das, was Schütte vorschwebt, hochinteressant. Zwar glaube ich, dass das schweifende Lesen, auf das Schütte zurecht besteht, nicht dadurch entstehen sollte, dass man den Aufbau der Zeitung im Netz imitiert, was die FAZ, die Huffington Post oder die Vice übrigens in ihren Internetauftritten bereits auf ihre jeweilige Weise versuchen. Ich hoffe allerdings, dass ein internetgemäßeres Schweifen - indem man Links und anderen Verweisen auf Fahrenheit 451-Texte, aber auch auf externe Debattenbeiträge in Blogs (oder in den Internetauftritten der Printmedien) folgt - ein literarisches Leben, ein funktionierendes Forum für Kritik und für Lob hervorbringen könnte. Zugleich jedoch befürchte ich, dass die von Schütte vorgeschlagene Finanzierung von Seiten der öffentlichen Hand genauso wie die ebenfalls von ihm vorgeschlagene und realistischere Gründung einer Stiftung das Grundproblem nicht aus der Welt schaffen würde.

Zumal, wenn die Stiftung, die das Ganze tragen soll - und sicher per Satzung zu Neutralität verpflichtet ist - von Verlagen finanziert würde, und dies gewiss zu unterschiedlich großen Anteilen. Wir wissen, wie schnell ein Redaktionsstatut Makulatur wird, wenn die Besitzer einer Zeitung es wollen, wes Brot ich eß, des Lied ich sing. Wir wissen ebenso, wie sehr sich Leute freiwillig Mächtigen unterwerfen, selbst wenn sie, wie in diesem Fall, ihre Macht nicht einmal direkt ausüben könnten - da die Stiftung an eine Satzung gebunden wäre. Und vorauseilender Gehorsam ist in gebildeten Schichten nun einmal besonders verbreitet.

Daher fürchte ich, der Literaturbetrieb kann nicht allein durch ein neues Portal für das schweifende Lesen gerettet werden. Auch im Internet braucht Kritik mündige Leserinnen und Leser - und mündige Kritikerinnen und Kritiker. Diese aber müssen auch fähig zur Selbstkritik sein. Sonst wechselt nur das Medium, das Problem aber bleibt.

Jörg Sundermeier

***

Alle Artikel zur Debatte hier