Essay

Tatsächlich ein Desiderat

Von Ekkehard Knörer
01.07.2015. Die Bedeutung von Literaturkritik hat sich aus gutem Grund relativiert und kann nicht künstlich reanimiert werden. Die Idee einer Netzzeitung ist dennoch höchst reizvoll. Die Los Angeles Review of Books könnte ein Vorbild sein. Stellt sich nur die Frage der Finanzierung...
Ekkehard Knörers Artikel antwortet auf Wolfram Schüttes Plädoyer für eine Literaturzeitung im Netz. Hier alle Artikel der Debatte.
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Die Lage der Dinge

Beispiel Nummer eins: In ihrer aktuellen Ausgabe hat die Zeit ein Special zur Literatur. Auf der Titelseite wird es angeteasert unter der Überschrift "Die Bücher des Sommers. Zeit-Autoren empfehlen ihre Favoriten". Das Wort "Kritik" fällt wohlweislich nicht. Dafür sieht man eine leicht gekleidete junge Dame, sie hat ein Buch mit sommerblauem Cover vor dekolleteefarben-trägershirtweißem Hintergrund in der Hand. Interessanterweise schaut sie gar nicht ins Buch, sondern irgendwie links dran vorbei. Leider die perfekte Allegorie dieses Specials, das man dann im Feuilleton findet: zwölf Texte, alle gleich lang, vielmehr kurz, je vier auf je einem Drittel der Seite. Oben ein sommerliches Grafikelement, unten ein werbliches Anzeigenelement: das bisschen Kritik bzw. Empfehlung in der Mitte.

Nimmt man die zu den Messen produzierte sogenannte Literaturbeilage dazu, die diesem Special sehr ähnelt, gibt es keinen Zweifel: Die Literaturkritik in der Zeit ist - mit den Krautreportern zu sprechen - kaputt. Häppchentexte, die Empfehlungen sein mögen, aber mit Analyse von Sprache, Gehalt, Form wenig bis nichts zu tun haben. Gewiss: Es gibt kurze Formate der Kritik, in denen sich Großartiges leisten lässt. Um solche handelt es sich hier jedoch nicht. Am mangelnden intellektuellen Vermögen der Redakteure und Autorinnen der Zeit liegt das, man muss es wohl dazu sagen, nicht. Da sind eine Reihe Hochkaräter versammelt, die ganz anders könnten, wenn sie denn wollten oder dürften oder glaubten, sie sollten. Sie wollen oder dürfen oder glauben, sie sollten: nur selten. Die Verwandlung eines intellektuell satisfaktionsfähigen Feuilletons in einen Kulturhäppchenteil ist ebenso von oben gewollt wie die gesamte Transformation des seriösen Wochenblatts Zeit in die Landlust der gebildeten Stände.

Beispiel Nummer zwei: Jürgen Kaube, der neue, fürs Feuilleton zuständige Herausgeber der FAZ, hat letzte Woche in einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung Die Presse seinen Begriff vom Feuilleton wie folgt umrissen: "Ein Feuilleton muss durchdacht und kundig sein. Es muss mit intelligenten Lesern rechnen. Es darf den Kontakt zu den Wissenschaften nicht verlieren, also zu den Leuten, die ständig die Welt erkunden, ganz gleich, ob es Klimaforscher, Soziologen, Kunstgeschichtler sind. Und ein Feuilleton muss überraschen."

Das ist eine sehr klar formulierte Alternative zu den Entwicklungen, die man bei der Zeit paradigmatisch (und in anderen "Qualitätsmedien" wie der SZ der Tendenz nach durchaus auch) beobachten kann - es wäre überdies gelogen, wollte man behaupten, dass die Praxis mit der kaubeschen Theorie bei der FAZ immer mithält. Was Kaube ohnehin nicht dazu sagt: Mit seinem hohen Anspruch formuliert er ein Minderheitenprogramm; und das war es, nebenbei gesagt und manchem Aufmerksamkeitswirbel zum Trotz, letzten Endes auch in der quartalsapokalyptischen Variante, in der es unter Frank Schirrmacher zur Aufführung kam. Feuilleton - und a fortiori Literaturkritik - ist, wenn man es halbwegs seriös anstellt, eine Sache für recht kleine Kreise. Die Bedeutung, die die Gesellschaft diesem minoritären Vergnügen lange zuzuschreiben bereit war, täuschte darüber (manchen) hinweg. Die führenden Zeitungen selbst machten sich über die genaue Zahl der Feuilletonleserinnen und -leser lange nicht groß Gedanken. Man war stolz darauf, durchdacht und kundig zu sein. Man rechnete mit intelligenten Lesern. Und gut.

Inzwischen aber präsentiert die Chartbeat- und Klickzahl- und Google-Analytics-Kultur des Internet schwarz auf weiß, wie oft auch ein Feuilletontext geklickt wird, wie sich die Leserinnen und Leser bewegen, wo sie verweilen und sich verziehen. Und weil sich die Werbeeinnahmen nach Kriterien der Messbarkeit richten, sind diese Zahlen im Netz viel direkter als im Print korreliert. Dem dadurch entstehenden Druck in Richtung große Zahl und Klickoptimierung kann sich die Zeitung als ganze nur bei Strafe künftiger Nichtexistenz ganz entziehen. Die Zeit war, kein Zufall, unter den großen Blättern das erste, das konsequent empirisch auf Leserbeobachtung setzte; die FAZ tat es ihr allerdings nach. Heraus kam dabei unter anderem, dass sich unter den nicht so vielen, die das Feuilleton lesen, noch einmal sehr viel weniger für ausführliche Kritiken interessieren. Es stimmt nicht, dass keiner lange Texte liest - aber gerade für die eingehende Auseinandersetzung mit einem einzelnen Film, Buch, Stück und so weiter sind die Zahlen oft desolat.

Zwar stirbt oder überlebt keine Zeitung, weil sie ihr Feuilleton intellektuell entkernt oder nicht. Dafür ist das ein nicht in Sachen Image, aber doch in Sachen Anzahl der dadurch zu bindenden Leserinnen und Leser zu wenig relevantes Ressort. Jedoch wird die Verteidigung intellektuellen Anspruchs im Angesicht nackter Fakten sehr schwer. Das Argument aus der Sache heraus hat in Redaktionskonferenzen, wie man immer wieder hört, an Gewicht sehr verloren. Im Zweifel lässt sich das Klickargument mit dem Verweis auf die Leser immer ins Populistische drehen. Entsprechend wird beim Anspruch ohne große Skrupel gestrichen, werden Experten fürs Fach durch Journalisten ersetzt, die mit gleich verteiltem Interesse und ohne größere Kenntnis für ihren Gegenstand über dies und das schreiben, vom Kontakt zu dem, was die Wissenschaft treibt, mal zu schweigen - das antiakademische Ressentiment bekommt nicht zuletzt Jürgen Kaube von vielen Feuilletonisten zu spüren.


Fahrenheit

Dies nur als sehr grobe Skizze der Lage, aus der heraus und in die hinein Wolfram Schütte sein Online-Magazin für Literaturkritik imaginiert. Einerseits hat er sicherlich recht: Das Feuilleton in Deutschland, das lange Zeit weltweit ziemlich einzigartig war, ist, mit dem Niedergang von Print, aber auch anderen Umwälzungen im Bereich der kulturellen Ökonomie, eng verbunden, auf dem absteigenden Ast. Man kann sich einen Ort, der Freiräume schafft, einen Ort, an dem die Leidenschaft in erster Linie der Sache und dem Gegenstand gilt, sehr wünschen. Manches ist freilich schon auf den ersten Blick gegen Schüttes Ideen zu sagen. Allzu deutlich ist etwa der Eindruck, dass er sich vor allem nach der Bedeutung sehnt, die das Feuilleton und vor allem die Literaturkritik einmal hatten - eine Bedeutung, die sich mit gutem Grund relativiert hat: Die Gesellschaft wie die Orte, an denen über sie reflektiert wird, haben sich pluralisiert, im Vergleich mit den ideologisierten Zeiten, aus denen Schütte kommt, hat sich da sehr vieles relativiert. Das Feuilleton als "Schicksalsort" - diese Vorstellung ist, darauf weist auch Kaube im Interview hin, lachhaft und zeugt nur von einem: der wahnhaften Selbstüberschätzung manches Feuilletonisten.

Und natürlich hat auch Marcel Weiß erst einmal recht: Gerade die Sorte Serendipity, nach der sich Schütte mit Goethe sehnt, liefern die Sozialmedien Facebook und Twitter in viel vollkommenerer Weise, als es irgendein Printformat jemals konnte, so man sich ihrer denn intelligent genug zu bedienen versteht. Und drittens ist der Namensvorschlag Fahrenheit 451 in seiner kulturkonservativen Konnotation genau das falsche Signal. Was fehlt, ist nicht der große Katechon, der den Niedergang aufhält; was fehlt, sind smarte Konzepte für die anderen Zeiten, in denen wir leben. Die Zeitung hergebrachten Formats ins Internet zu copy und pasten, ist darum so wenig die Lösung, wie sich mit der Digital-Rechthaberei von Marcel Weiß die Sache schon erledigen ließe.

Ja, es gibt inzwischen eine Reihe von Blogs und Online-Projekten, die Lesenswertes bis Hervorragendes produzieren - wenngleich in aller Regel ohne finanzielle Stabilität, sondern in sei es letzten Endes werblicher Absicht (die Blogs der Verlage) oder als Hobby-Projekt. Redigat und Qualitätskontrollen finden kaum statt, und das merkt man oft genug auch da, wo die Texte dennoch lesenswert sind. Und ja, auch mein Tag ist mit Lektüren, die ich den professionellen Aggregatoren und meinen Sozialmedienfreunden verdanke, aktuell schon gut ausgefüllt. Ich bin der erste, der Loblieder auf die Verteilungs- und Verbreitungslogik von Twitter und Facebook singt und der letzte, der glaubte, dass die Filterblase im Internet kleiner und homogener ist, als sie es in Print-Zeiten war.

Ich wäre als Zeitschriften-Herausgeber und -Redakteur aber mit dem Klammerbeutel gepudert, wollte ich auf der anderen Seite den Reiz leugnen, den ein redaktionell konzipiertes Projekt aus einem Guss hat. Es geht dabei um die Dialektik von Vielheit und Einheit, die das Prinzip Redaktion ausmacht; darum, dass da jemand mit Absicht das Diverse nebeneinander gestellt oder nacheinander veröffentlicht hat; es geht um das Gegen- und Miteinander von grundsätzlicher Offenheit und grundsätzlicher Positionierung; um das Auswählen einzelner Autorinnen, Texte und Autorinnen-Text-Kombinationen durch Subjekte, die dabei auch angesichts ihrer Vorlieben, Überzeugungen, Prägungen möglichst objektiv zu bleiben versuchen. Und nicht zuletzt ist Überraschung immer relativ zu Erwartung: Nur dann, wenn es durch Tradition und Markenbildung geschaffene Erwartungen gibt, sind Überraschungen möglich.

Nichts, wirklich gar nichts spricht dafür, dass sich die bewährte Form "Redaktion" angesichts von Blog-Einzelkämpfern und angesichts der auf den einzelnen zuschneidbaren Sozialmediendistribution erübrigt. Man kann das eine großartig finden und muss das andere darum nicht lassen. Alles spricht vielmehr dafür, dass sich das bestens ergänzt. Die Oasen-Metaphorik, auf die leider Alexander Kluge verfällt, ist da im übrigen nicht sonderlich hilfreich. Ich verbringe täglich viele Stunden im Netz: Das Verhältnis von Oase und Wüste ist da nach wie vor gut. Ein Online-Feuilleton, wie es Wolfram Schütte vorschwebt, eines also, dass die an der Printfront entstehenden Verluste an Platz, Niveau, Sachorientierung kompensiert, wäre eine gute Sache - und so langsam ist es auch ein Desiderat.

Das Problem ist nur die fortlaufende Finanzierung. Niemand sollte sich vormachen, dass sich so etwas auf professionellem Niveau innerhalb der Werbeökonomie auch nur annähernd rechnet, will man irgendwen dabei ernsthaft bezahlen. Dafür sind die Klickzahlen für Kultur zu gering, die Werbepreise zu niedrig, die Werbetreibenden, die in Frage kämen, also nicht zuletzt die Verlage, viel zu wenig bereit zum Experiment. Der Perlentaucher ist ja so ziemlich das einzige Kulturmagazin, das im Netz halbwegs überlebt, soll heißen: wenigstens ein paar Redakteure und Mitarbeiterinnen nicht gut, aber immerhin doch: bezahlt - aber auch nicht dank der klassischen Feuilletonelemente, sondern mit seinen aggregierenden Servicefunktionen. Im Theaterbereich ist die Nachtkritik in vielen Hinsichten ein phänomenaler Erfolg, in Sachen Finanzierung ist sie es nicht. Kurzum: Es bleiben die üblichen Träume von Mäzenaten, Stiftungen, öffentlich-rechtlich, Kulturflatrate, Crowdfinanzierung. Ich bin kein Zyniker, ich halte vieles für denkbar, die Erfahrung freilich lehrt: Von den Bäumen schüttelt man das Geld mit solchen Projekten nicht.


Review-Formate

Um aber konstruktiver zu schließen: Es gibt in Deutschland tatsächlich ein Desiderat, eine Zeitschrift nämlich, die den Review-Formaten im angelsächsischen Raum entspricht: mit der Kritik als Basisformat, das aber sehr flexibel mal mehr ins Analytische, mal mehr ins Essayistische geht. Das lange Texte bietet zu allen auch vom deutschen Feuilleton behandelten Themen, aber in größerer Länge, ja, teils in epischer Breite. Ich wünsche mir manchmal, dass der Merkur stärker in diese Richtung ginge; warum er traditionell anders ist, ist ein sehr deutsches Kapitel für sich - und ich bin natürlich der erste, der ihn in genau diesem Sosein jederzeit verteidigen würde. Die Reviews aber, also in erster Linie die New York und die London Review of Books, sind, was Einfluss und Auflage angeht, nach wie vor sehr erfolgreich, ja sogar erfolgreicher denn je. (Was nichts daran ändert, dass die London Review nur unter den Bedingungen fortlaufender massiver Verschuldung fortexistiert.)

Etwas Vergleichbares hat es in Deutschland nie gegeben. Das lag sicher nicht zuletzt daran, dass die Feuilletons in ihrer im weltweiten Vergleich herausragenden Qualität, mit ihren Essay-Plätzen und Tiefdruckformaten, vieles davon abgedeckt haben. Das hat auch der ernsthafteste Versuch der letzten Jahrzehnte, eine Review zu schaffen, zu spüren bekommen: die Zeitschrift Literaturen, die das am Anfang gesetzte Niveau nicht durchhalten konnte und heute nur noch in vollends irrelevant gewordener Stummelform existiert. Die New York Review of Books nutzte bei ihrer Entstehung eine Gunst der Stunde: die Redakteure der Zeitungen waren im Streik. Man sprang frech in die Lücke, und siehe da: Es war dauerhaft Platz.

Weil die Lage angesichts der Print-Transformation fürs seriöse Feuilleton aktuell eher desolat ist, wäre die Stunde womöglich günstig. Was mögliche Konzepte, und zwar inhaltlich wie für die Finanzierung, betrifft, lohnt der Blick in Richtung USA, Westküste diesmal. Eines der erstaunlichsten Erfolgsprojekte der vergangenen Jahre ist für meine Begriffe nämlich die neu gegründete Los Angeles Review of Books, ein Online-Review-Format, das inzwischen auch periodisch Printausgaben produziert. (Aber in dieser Richtung: Es ist von online aus gedacht.) Es ist einzigartig in seiner Offenheit in viele Richtungen: Die Grenzen zwischen High und Low, Pop- und Hochkultur, Akademischem und Trivialem sind solche des Ressorts und der redaktionellen Zuständigkeiten, aber keine, an denen sich per se Wertungen oder In- und Exklusionsmechanismen festmachen. Auch die Schreibweisen reichen von sehr bloggig und locker bis ziemlich akademisch und alles Mögliche liegt in schönen Mixturen dazwischen.

Finanziert wird das in einer Mischung aus öffentlich und privat ausgeschriebenen Geldern, die in Fund Drives durch die Mittel der Leserinnen und Leser ergänzt werden - ohne Paywall und mit für alle frei lesbaren Artikel. Es wird ja gerne vergessen, dass es in den USA eine sehr lange etablierte Kultur der Crowd-Finanzierung gibt, mit deren Hilfe private Fernseh- und Radiosender (NPR und PBS vor allem), wenn auch ergänzt durch staatliche Zuschüsse, periodisch ihr ökonomisches Überleben sichern. Dabei gelingt der Los Angeles Review durchaus der Kunststück, so weltoffen wie lokal, nämlich in den Kulturszenen von Los Angeles, verwurzelt zu sein. Ganz genau so wie in den USA wird das bei uns sicher nicht funktionieren. Aber etwas anders, den kulturellen Differenzen entsprechend: Warum nicht? Einen Versuch wäre es wert.

Ekkehard Knörer

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