Essay

Die Verwandlung von Wasser und Wort

Von Marie Luise Knott
10.07.2012. Beim "Internationale Literaturfestival Leukerbad" streiten Jürg Laederach und Franz Schuh über die Schweiz und Österreich und über die Frage, ob Graz die Rettung der deutschen Literatur ist. Sibylle Lewitscharoffs Löwe aus "Blumenberg" spaziert in weitere Lesungen, beißt aber nicht.
Es ist verwunderlich, dass erst vor 17 Jahren jemand auf die Idee kam, in dem berühmten Walliser Thermal-Kurort Leukerbad ein internationales Schriftsteller- und Dichtertreffen zu veranstalten. Denn die Verwandlung des Wassers, die man dort genießen kann, ähnelt schließlich auf verblüffende Weise der Verwandlung von Wort in Dichtung. Der Ursprung der heißen Quellen ist Schnee und Regenwasser, das von den Bergen hochoben auf 500 Meter unter den Meeresspiegel herabsickert, sich dort unten an allen im Boden vorhandenen Mineralien labt, bevor es Jahrzehnte später - erhitzt und derart angereichert - wieder aus der Erde hervor sprudelt, wo das heiße Thermalwasser nun neue Wirkungen entfaltet und bei einzelnen Kranken sogar wahre Wunder wirken soll. Ähnlich kann auch das gewöhnliche Wort, nachdem es sich in der Poesie abgelagert und verwandelt hat, die Zeiten und Generationen überdauern und immer neue Wirkungen entfalten. Shakespeare prägte für diesen Vorgang das Bild von den Knochen, die sich in der Meereshut zu Korallen verwandeln.

Wegen der heißen Quellen kamen schon in früheren Jahrhunderten Schriftsteller nach Leukerbad. Goethe blieb nur eine Nacht, weil er in seinem Gasthaus Wanzen fand. Guy de Maupassant kam über die hohen Berge, um seine syphilitischen Attacken zu kurieren. Doch der spektakulärste dichtende Gast des Ortes war wohl James Baldwin, der hier 1951 ein zweites Lourdes vermutete, da ihm auf Schritt und Tritt Kranke und Versehrte begegneten. Offensichtlich war er der erste Schwarze, den die Leukerbader in Fleisch und Blut zu sehen bekamen. Sie begegneten ihm zwar keineswegs feindselig, wie er in "Der Fremde im Dorf" berichtet, doch für ein menschliches Wesen hielten sie ihn offensichtlich nicht, obwohl er in den Kneipen mit den Einheimischen trank und mit den jungen Dörflerinnen tanzte.

Der Schweizer Verleger und Buchhändler Ricco Bilger, der hier aufgewachsen ist, hat, wohl an eine solche Ähnlichkeit von Wort und Wasser glaubend, 1996 ein internationales Literaturfestival ins Leben gerufen. Fernab dem Getriebe der Welt, umrahmt von schroff aufragenden Felswänden, die hochoben von strahlendweißen Schneeflächen geziert sind, versammeln sich jeden Sommer Anfang Juli Wortkünstler aller Hautfarben aus Afrika, China, Europa, Österreich und der Schweiz - Dichter, Schriftsteller und Übersetzer. Bilgers Nachfolger, der aus Bern stammende Hans Ruprecht, der das Festival nun schon im siebten Jahr erfolgreich leitet, setzt mit seinem Team immer neu auf den Genius Loci: Und so las Navid Kermani im Thermalbad des Rehazentrums passenderweise aus seinem Roman "Dein Name" über Tod und Geburt; in der ehemaligen Bahnhofshalle der längst stillgelegten Zahnradbahn präsentierte Ilija Trojanow die Gedichte des Nigerianers Chirikure Chirikure.

Die Verwandlung von Wasser in Wort im Leukerbader Rehazentrum (Foto - Autorin):




Sibylle Lewitscharoff sprach mit Stefan Zweifel, dem neuen Leiter des Schweizer Literaturclubs, in einer klassischen Hotelbar über die fragile Existenz von Wundern in der Literatur ("Man muss ihre Existenz im ersten Satz eines Romans behaupten, sonst wird es nichts") , und um Mitternacht las der Schweizer Autor Christoph Simon auf der Bergstation der Torrentbahn - 2.350 Meter über dem Meeresspiegel. Andere Lesungsorte mussten erwandert werden, denn sie lagen inmitten üppig blühender Almwiesen.

Am Donnerstag Morgen, bevor die Autoren und Zuhörer anreisen, ist der Dorfplatz in dem abgelegenen Schweizerischen Bergdorf fast leer, ein paar Wanderer hocken im Café, ein paar Kurgäste überqueren im Bademantel den Platz. Der Ort wartet. Er ist verschandelt, spätestens seit dem Bauboom, mit dem sich die Gemeinde zwischen 1970 und 1990 in Schulden stürzte - in Erwartung der Ski-, Kur- und Wellnesstouristen, die jedoch ausblieben. Von Donnerstag Nachmittag bis Sonntag herrscht hier ein reges Treiben, denn das Festival ist eine Attraktion. Worthungrige aus dem Schweizer und süddeutschen Flachland pilgern hierher, weil sie glauben, dass das im Dichten verwandelte Wort mehr noch als das Thermalwasser die Fähigkeit hat, die eigene und vielleicht nicht nur die eigene Welt zu verändern.

Die Autoren treffen sich während der drei Tage immer wieder im Café am Platz: darunter der diesjährige Friedenspreisträger und daad-Stipendiat Liao Yiwu, sowie Olga Grjasnowa, Nicole Krauss, Robert Schindel, Peter Bichsel, Chika Unigwe und Edward St. Aubyn. Die Lyriker Kerstin Preiwuß, Girgis Shoukry, Christoph W. Bauer, Oleg Jurjew und Chirikure Chirikure lesen - auf den Nachhall ihrer Dichterworte darf man gespannt sein.

Neben den Lesungen setzen die Veranstalter auf die anreichernden Gespräche der Schriftsteller untereinander: Jürg Laederach sitzt im Café-Restaurant "Sacré Bon" (Verdammt gut) ebenso wie Franz Schuh, der in seinem Vortrag das Verhältnis zwischen Schweiz und Österreich auf seinen Begriff brachte: Die Schweiz sei die Antwort auf alle Fragen, die man sich in Österreich nie stelle - eine Steilvorlage für das spätere unernst-ernsthafte Streitgespräch zwischen Schuh und Laederach in der Bahnhofshalle, wo Schuh wortgewaltig die Literatur der Grazer Schule lobte, da sie in ihren großen Zeiten der moralbeschwerten bundesdeutschen Nachkriegsliteratur auf die Sprünge geholfen habe, was Jürg Laederach zu großartigen Wortkaskaden verleitete, die darin gipfelten, dass ihn die Grazer Schule und die Verrenkungen des Steirischen Herbstes eher an einen Basler Fasnachtstanz erinnerten.

Die Trennung von Lesung und Gespräch ist auf diesem Festival Konzept. Alle Werke dürfen für sich sprechen und wirken, und so könnte es in Leukerbad geschehen sein, dass der Löwe aus Sibylle Lewitscharoffs Roman "Blumenberg" gegen Ende ihrer Lesung unbemerkt die überfüllte Bar durch die Hintertür verließ, durch die Gassen spazierte und sich, unsichtbar wie er ist, ohne Eintrittsbillet in andere Lesungen und Texte hineinschmuggelte. Was er dort anrichtete, ist bislang nicht bekannt.

Die Schweiz und ihre Kultur ist in vielen der Lesungen und Gespräche gegenwärtig - man hört von der Wiener Kneipe "Schweizerhaus", in der nur tschechisches Bier ausgeschenkt wird; und auf einer Wanderung, nach der gemeinsamen Überquerung des tosend sich in seine Schlucht hinabstürzenden Dala-Baches liest die Schweizer Autorin Monique Schwitter die Geschichte zweier Liebender, die extrem kurzsichtig sind und in der Badewanne darüber sinnieren, dass 95 Prozent der akustischen Reize nicht wahrgenommen werden. Wie es dann erst mit den optischen sein müsse? Hier, auf dem Berg, wo die Heuschrecken hüpfen, die Vögel tirilieren und die frühsommerliche Blumenpracht der Almwiesen alle Zuhörer betört, kommt die erhöhte Aufmerksamkeit für das Alltägliche zu ihrem Recht.

Überhaupt: Der Spaziergang, der im Unterschied zum Wandern allgemein als ein zielloses, frei sinnierendes Umherschweifen und auch als Topos des poetischen Handelns gilt, geisterte - genius loci? - durch viele Lesungen und Gespräche. Der Übersetzer Stefan Zweifel verteidigte, dass er im Titel seiner Rousseau-Übersetzung "Les rêveries du promeneur solitaire" auf das Wort "Spaziergänger" verzichtet habe, da "Spaziergang" in der Schweiz eine spezifische Kultur assoziiere, die bei Rousseau nicht gemeint sei. Und auch aus der das Festival flankierenden Textwerkstatt berichteten unter der Leitung von Jürgen Jakob Becker am Ende acht Übersetzer aus acht verschiedenen Ländern über ihre Arbeit an der Übersetzung des Romans "Spaziergänger Zbinden" des Schweizer Autors Christoph Simon. Für die Weltanschauung, die das Wort im Titel transportiert, gebe es in ihren Sprachen keine Übertragung, so die allgemeine Aussage. Lediglich die Ukrainerin berichtete, dass sich dank der kulturellen Affizierungen durch die Habsburger Monarchie in ihrem Sprachraum das Wortfragment "spazier" eingebürgert hat.

Im Flugzeug wirbt die Swiss Air mit viel Schweizer Stolz für ihre Festivals des Sommers: Verbier, Luzern, und Zürich Athletics. Für nächstes Jahr plant das Internationale Literaturfest Leukerbad ein Buch, in dem Schriftstelller und Dichter Texte verfassen, derweil sie die Berge bewandern oder sich in der Landschaft spazierend ergehen. Man fragt sich, ob die Swiss Air dann endlich auch auf Leukerbad aufmerksam wird und seine Kunden auf das Festival und auf dessen glorreiche Verbindung von Wasser, Wort und Berg hin weist. Denn: Der Berg ist schließlich für das Wasser die größte Herausforderung und für den Menschen die freieste Versuchung, seit es Füße gibt.

Marie-Luise Knott

Die Autorin wohnte auf Einladung des Festivals in Bad Leukerbad.