Efeu - Die Kulturrundschau

Hintergrund wird Vordergrund

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29.01.2024. Die taz fiebert mit Katie Mitchells Inszenierung "Written on Skin" bei einer Liebesgeschichte mit furchtbarem Ausgang mit. Gianluca Valleros Kreuzberger Indiekomödie "The Woddafucka Thing" hat, was üppig mit Fördermitteln ausgestattete Filme oft missen lassen, jubelt sie außerdem: spontanen Witz und eine angenehme Lust am Verpeilten. Die FAZ bewundert in neuen Aufnahmen Bruckners existenzielle Zerrissenheit und Gesamt-Architektonik. Jungle World und Tagesspiegel lustwandeln mit dem Dokumentarfilm "Die Ausstattung der Welt" durch den Fundus der Filmrequisiten, die hier die eigentlichen Stars sind.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.01.2024 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Written on skin", Deutsche Oper Berlin. Foto: Bernd Uhlig.

"Nicht ganz von dieser Welt" erscheint Tazlerin Katharina Granzin George Benjamins Oper "Written on Skin", die, von Katie Mitchell in ihrer Ur-Form inszeniert, an der Deutschen Oper Berlin zu sehen ist. Die Handlung basiert auf einer mittelalterlichen Legende, erfahren wir, eine Liebesgeschichte zwischen einem Jungen und einer Frau, mit schrecklichen Ausgang. Besonders freut sich die Kritikerin über einige überaschende Highlights in der Musik: "Die kammermusikalische Besetzung der Singenden - außer den drei Hauptrollen gibt es ein paar wenige Nebenparts mit geringem Anteil am Geschehen - wird unterfüttert durch einen vielstimmigen dramatischen Kommentar aus dem Orchestergraben. Benjamin reizt nicht nur die Klangfarben- und Artikulationsmöglichkeiten des herkömmlichen Orchesterapparats nach allen Regeln der Kunst aus, sondern fügt noch weitere hinzu. Eine Glasharmonika und eine Gambe setzen immer wieder überraschende Akzente und ergänzen das musikalische Erleben um eine ganze klangliche Assoziationsebene: Die Anmutung von etwas, das sich in weiter Ferne abspielt, wird dadurch musikalisch kongenial abgebildet. Marc Albrecht und das Orchester der Deutschen Oper lassen die komplexe Partitur mit hörbarer Lust an deren musikalischer Vielgestaltigkeit lebendig werden."

Besprochen werden Mateja Koležniks Inszenierung von Sartres Stück "Die schmutzigen Hände" am Berliner Ensemble (FAZ, tsp), Anica Tomićs Inszenierung von Ibsens "Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert" am DT Berlin (nachtkritik), Jan Friedrichs Adaption von Kim de l'Horizons Roman "Blutbuch" am Theater Magdeburg (nachtkritik), K.D. Schmidts Inszenierung von "Wer hat Angst vor Virginia Woolf am Staatstheater Mainz (FR), Noah L. Perktolds Inszenierung von Arthur Schnitzlers Stücks "Komödie der Worte" am Staatstheater Wiesbaden (FR), Trisha Browns Choreografie "Twelve Ton Roses", getanzt vom Ballett de Lorraine, in der Bundeskunsthalle Bonn (FAZ), Tatjana Gürbacas Inszenierung von Louise Bertins Faust-Oper am Aalto-Theater in Essen (FAZ), Stefan Kaegis Inszenierung von "Das ist keine Botschaft (Made in Taiwan)" im Haus der Berliner Festspiele (taz), Boris Charmatz' Neuinszenierung von Pina Bauschs "Nelken" am Staatstheater Wuppertal (tsp), Sandra Strunz Inszenierung von A. L. Kennedys "Als lebten wir in einem barmherzigen Land" Münchner Kammerspielen (SZ), Nina Mattenklotz' Inszenierung von "Antigone" nach Sophokles (nachtkritik) und Sebastian Hartmanns Inszenierung von "Atlantis - Die Welt als Wille und Vorstellung" (nachtkritik).
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Literatur

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Lars von Törne meldet im Tagesspiegel die Preisträger des Comicfestivals Angoulême: Als bestes Album wurde "Monica" von David Clowes ausgezeichnet. Sylvia Staude schreibt in der FR zum Tod der Dichterin Ilse Helbich. Martin Lhotzky (FAZ) und Katrin Nussmayr (Presse) schreiben Nachrufe auf den österreichischen Krimiautor Alfred Komarek.

Besprochen werden unter anderem Michael Köhlmeiers "Das Philosophenschiff" (Standard), Veröffentlichungen aus der Werkausgabe Witold Gombrowicz (NZZ), eine Neuausgabe des Werk von Manès Sperber (Standard), Helmut Rizys "Hasenjagd im Mühlviertel" (Standard), Elias Hirschls "Content" (Standard) und David Grossmans Textesammlung "Frieden ist die einzige Option" (NZZ).
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Stichwörter: Hirschl, Elias

Film

In "Die Ausstattung der Welt" stehen ausnahmsweise mal die Dinge im Vordergrund

Susanne Weirichs und Robert Bramkamps Dokumentarfilm "Die Ausstattung der Welt" versenkt sich in drei Archiven in die Geschichte der Filmrequisiten und des Filmfundus. Sie alle "befinden sich in einem ständigen Prozess des Archivierens, Auszeichnens, Dokumentierens, und diese Prozesse haben ihre Geschichten", schreibt Georg Seeßlen in der Jungle World. "In rhythmischer Wiederkehr zeigen Filmausschnitte, was aus den Sachen werden kann, wenn sie aus ihrem Schlaf im Fundus erwachen. Die Geschichten der Sachen werden in die Vergangenheit, in die Gegenwart und in ihre einzige Zukunft, nämlich im Film, hineinerzählt. ... Es ist eine cineastische Kunst, mit wenigen, aber genau gewählten Dingen eine Geschichte zu erzählen. Insofern kann man 'Die Ausstattung der Welt' auch als Forderung verstehen, achtsamer, bewusster mit den Dingen im Film umzugehen. Die Vergrößerung des Sichtraumes durch neue Techniken zwingt dazu, ihn mit lauter Sachen zu füllen. Wie gut ein Film ist, kann man auch daran sehen, wie viel Respekt und Interesse alle Beteiligten (einschließlich der Schauspieler) den Sachen entgegenbringen." Der "Hintergrund wird Vordergrund", ruft Kerstin Decker im Tagesspiegel über diesen "schönen, aufmerksamen Film", der die unauffälligsten Elemente eines Kinofilms in den Rang von Stars erhebt: "Die Dinge treten immer wieder unvermittelt in Aktion, in kurzen, gut montierten Filmsequenzen - von 'Kolberg' bis 'Gundermann' - und wir haben nun gar kein Auge mehr für die Schauspieler, sondern nur mehr für eine kleine Fahne, ein Telefon, eine Karaffe oder was wir sonst gewöhnlich übersehen."

Witzig und verpeilt: "The Woddafucka Thing"

Tim Caspar Boehme freut sich in der taz über Gianluca Valleros Kreuzberger Indie-Ganovenfilm "The Woddafucka Thing": Der Film "ist eine schnörkellose Komödie, in gestochenem Schwarzweiß gefilmt und ohne Förderung über sechs Jahre hinweg entstanden. Der Film leistet vieles von dem, was üppig geförderte Filme in Deutschland oft vermissen lassen. Er hat, das ist schon ein großes Verdienst für sich, einen spontanen Witz, der weder bemüht-verkrampft noch dämlich-steril daherkommt. ... Übermäßig streng erzählt ist das alles nicht unbedingt, Vallero mag es lieber angenehm verpeilt. Was eine ungezwungene Form ergibt für ernsthafte Fragen, die er auf diese Weise angeht. Begonnen mit Dingen wie Gentrifizierung, die sich in Gestalt von Mietwucherern manifestiert, bis hin zu alltäglichem Rassismus."

Weitere Artikel: Jörg Taszman fasst für den Filmdienst die heftige Diskussion in Polen um Agnieszka Hollands Flüchtlingsdrama "Green Border" zusammen, das jetzt auch bei uns anläuft. Besprochen werden Alexander Paynes "The Holdovers" (Jungle World, Standard, unsere Kritik), das ARD-Porträt "Ich habe Auschwitz überlebt - Die Zeitzeugin Eva Umlauf" (FAZ), Thomas Siebens Horrorfilm "Home Sweet Home" (FAZ) sowie Samantha Jaynes und Arturo Perez Jrs Musicalneuverfilmung von "Mean Girls" (NZZ).
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Musik

Gerald Felber hört sich für die FAZ durch aktuelle Bruckner-Neuaufnahmen von Christian Thielemann und François-Xavier Roth, die besonders aufschlussreich sind, da Thielemann sich auf die finalen Partituren Bruckners bezieht, während Roth die Erst-Partituren wählt - mitunter zeigen sich dabei erhebliche Unterschiede. Die Letztfassungen zeigen "eine Tendenz zur zunehmend besseren Fasslichkeit und Überblickbarkeit der Strukturen. Doch die oft kaleidoskopisch und gestrüppartig wuchernden, wilden und ungebändigten Ur-Varianten haben daneben ihre eigene raue Schönheit und Eindruckskraft. Roth lässt sich in seinen Produktionen ... voll darauf ein, versucht gar nicht erst, unausgewogene Proportionen, Knicke und Brüche zu glätten, sondern begreift sie als Teile eines Montageprinzips, das unseren modernen Zeiten der Dystopien, Scheinwelt-Alternativen und Interessenzersplitterungen sogar angemessener sein mag als Bruckners eigener damaliger Lebenswelt." Was Thielemann betrifft: "Bruckners grandiose Architektonik ist kaum je besser verdeutlicht worden; für das Nacherleben der existenziellen Zerrissenheiten, denen sie abgerungen wurde, greift man freilich besser zu den Angeboten Roths."

"Die Musikkritik wurde noch nie so sehr gedemütigt" wie jetzt mit der Liquidierung des Onlinemusikmagazins Pitchfork, dessen Reste ins Männermagazin GQ eingehen sollen, schreibt Michael Pilz online vorgereicht in der Welt. "Die Algorithmen des Musikkonsums verändern die Musik. Vor allem aber haben sie die Kritiker entmachtet mit ihren volkstümlichen Kategorien wie 'Chillen' und 'Workout', ihren demokratischen Bewertungstools und ihrer schieren Masse."

Weitere Artikel: Eine Studie wirft einen Blick auf die gesundheitlichen Probleme von Berufsmusikern, schreibt Sven Bleilefens in der taz. Falcos Fender-Jazz-Bass wird versteigert, meldet Josef Engels in der Welt. In der FAZ gratuliert Philipp Krohn Achim Reichel zum 80. Geburtstag. Marco Frei (NZZ), Max Nyffeler (FAZ) und Reinhard J. Brembeck (SZ) erinnern an den Komponisten Luigi Nono, der vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden ein von Joana Mallwitz dirigiertes Konzert der Wiener Philharmoniker in Salzburg (Standard), ein Konzert der Rapperin Noname in Berlin (taz), Arvo Pärts neues Album "Tractus" (Welt), Igor Levits "Fantasia" mit Kompositionen von unter anderem Johann Sebastian Bach, Franz Liszt und Ferruccio Busoni (FAZ) und das Album "Wall of Eyes" des Radiohead-Nebenprojekts The Smile ("Yorke/Greenwood sind längst ein legendäres britisches Kreativgespann wie Lennon/McCartney oder Jagger/Richards", schreibt Wolfgang Schneider in der FAZ).

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Design

Julia Werner ist in der SZ völlig umgehauen von Maison Margielas Haute-Couture-Show in Paris, die den Modejournalismus endlich mal wieder so richtig aus dem Phlegma der letzten Jahre reißt. Die Entwürfe sind kühn, das Handwerk "atemberaubend", zu beobachten ist "ein einziges wundervolles, verzweifeltes Taumeln und Straucheln." Doch dann "passiert vor dem Bildschirm etwas völlig Unerwartetes, wenn Models mit starken Armen und großzügigen Rundungen die transparenten Abendroben aus federleichtem Tüll präsentieren, mit baren Brüsten und Schamhaar-Toupets darunter: Die Frau sieht sich plötzlich selbst. Sie sieht den eigenen Körper. Der Körper ist das Kleid, nicht die Tüllage darüber. Und er ist stark. Sind das Korsett, die riesigen Gesäße und die teilweise verschmierten, schmerzverzerrten, mit Nylon-Stretch überzogenen Gesichter ein Kommentar zu dem, was Frauen ihren Körpern per Fotofilter und per plastischer Chirurgie antun? Ist das hier eine Kritik am auch von den Kardashians eingeführten Gaga-Schönheitsideal?"

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Kunst

 James Ensor, Skeletons Fighting Over a Pickled Herring (Squelettes se disputant un hareng-saur) - Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brussels (oil on wood, 16 x 21,5 cm)

Jörg Restorff feiert in der NZZ mit den Bildern des belgischen Malers James Ensor das Leben - obwohl dieser ein Faible für die Darstellung von Skeletten und Totenköpfen hatte. Zum 75. Todestag Ensors gibt es zahlreiche Ausstellungen zu sehen, annonciert Restorff, vor allem in Ostende und Antwerpen. Mit seinen karnevalesken Darstellungen kritisierte Ensor die "bürgerliche Maskerade" der Gesellschaft des Fin de Siècle - ihn aber nur als "Maler der Masken und Skelette" zu verstehen, würde ihm nicht gerecht, betont der Kritiker: "Das Ensor-Haus bündelt in einer Sonderschau (März und April) die Selbstporträts des Malers: Zeitlebens hat er sich zeichnend und malend selbst befragt, hat unablässig Rollen ausprobiert, um die Facetten seiner Persönlichkeit auszuloten. Mehr als hundert Selbstporträts umfasst das Werk - selbst Rembrandt, von dem 'nur' achtzig Selbstbildnisse überkommen sind, vermag in dieser Hinsicht mit Ensors Output nicht mitzuhalten. Kühn und auch kurios ist eine kleinformatige Radierung von 1888, betitelt "Mein Porträt im Jahre 1960". Hier imaginiert sich Ensor als Hundertjährigen: ein am Boden liegendes Skelett mit aufgerichtetem Oberkörper, dessen wache Augen die Umgebung mustern. Diese Darstellung, geschaffen von einem 28-Jährigen, ist eines der ungewöhnlichsten und radikalsten Selbstporträts der Kunstgeschichte."

Der Intendant das Kunstmuseums Bonn, Stephan Berg, beklagt in der FAZ in den Debatten um "kulturelle Aneignung" in der Kunst mangelnde Offenheit und Cluster-Denken. Das ursprüngliche Anliegen, den weißen, westlichen Blick zu erweitern und zu hinterfragen, ist ihm sehr wichtig. Aber in der aktuellen Diskussionen werde zu absolut gedacht und vergessen, dass "Kunst grundsätzlich von Anverwandlung lebe": "Ja, es ist bisweilen schwierig, Meinungen auszuhalten, die dem eigenen aufgeklärten Denken zuwiderlaufen oder nicht mehr dem heutigen Stand entsprechen. Aber das Ausradieren, das Löschen von Inhalten, die zu Recht oder zu Unrecht als nicht mehr tragbar, passend oder vermittelbar erscheinen, war noch nie ein guter Weg. In diesem Sinne sollten wir zu einer Debattenkultur zurückkehren, die hart und engagiert, aber immer mit dem Respekt vor der Meinung des anderen um den richtigen Weg ringt. Dabei sollte sie die Fähigkeit der Kunst, widersprüchlich, unvorhersehbar und mehrdeutig zu agieren, nicht als Defizit, sondern als eine Qualität begreifen, die für unsere gesellschaftliche Zukunft eminent wichtig ist."
Archiv: Kunst