Redaktionsblog - Im Ententeich

Arte hat eine Riesenchance verspielt

Von Thierry Chervel
15.06.2017. Der Arte-Chef Alain Le Diberder kritisierte, dass Sophie Hafner und Joachim Schröder für ihre Antisemitismus-Doku "Auserwählt und ausgegrenzt" nach Israel und in den Gaza-Streifen gegangen sind. Aber gerade das Kapitel über den Gaza-Streifen ist das beeindruckendste des Films. Und noch etwas: Wozu haben wir eigentlich einen deutsch-französischen Sender?
Aktualisierung vom 20. Juni, 13.30 Uhr: Arte wird die Ausstrahlung des Films in der ARD morgen, die nach der Präsentation bei der Bild beschlossen wurde, und die anschließende Diskussion bei "Maischberger" übernehmen, meldet Télérama.

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Der Film hat handwerkliche Mängel, wird eingewandt. Mag ja sein - aber ist das Grund, ihn nicht zu zeigen? An Mängeln kann man arbeiten, die Autorinnen Sophie Hafner und Joachim Schröder scheinen dazu bereit gewesen zu sein. Übrigens wiederholt der Film viele aus der proisraelischen Szene bekannte Argumente, die aber immerhin das Verdienst haben, dass man sie in den üblichen Medien nicht allzu oft zu hören bekommt. Er zeigt die hässlichen Fratzen der linken, christlichen, grünen, muslimischen und natürlich der rechten Antisemiten. Manches an dem Film ist tendenziös: Es ist schon bizarr, ausgerechnet einen israelischen Veteranen versichern zu lassen, dass man 1948 im Krieg gegen die Palästinenser human verfahren sei - Richard Herzinger machte in seiner Verteidigung des Films darauf aufmerksam.

Die dezidiert proisraelische Szene hat in Deutschland auch ein paar eher dubiose Anhänger wie die Evangelikalen oder die Antideutschen, deren Papst Stephan Grigat in dem Film als intellektueller Gewährsmann reden durfte: Es ist mir unerfindlich, warum in diesem Film ausgerechnet Adorno und Horkheimer, Stichwortgeber einer antiamerikanischen Kulturkritik, als Säulenheilige für das Verständnis des modernen Antisemitimus präsentiert werden müssen.

Aber mit all dem lässt sich die Ablehnung des Films durch Arte und WDR nicht rechtfertigen. Dass er eine Tendenz hat, ist ihm nicht vorzuwerfen - eine Dokumentation darf subjektiv sein. Es kommt doch auf die Qualität der Argumente an, die man zur Not auch zerpflücken kann.

Arte hat hier eine Riesenchance verspielt: Der Film zeigt antisemitische Umtriebe in Frankreich und in Deutschland. Arte hätte den Film zeigen und danach eine Debatte unter deutschen und französischen Intellektuellen lancieren können, warum nicht mit Götz Aly, Bernard-Henri Lévy und als Gegenposition der Korrespondentin Gemma Pörzgen, die den Film im Deutschlandfunk unter anderem mit dem Argument kritisierte, dass er die Besatzung nicht zeigt.

Wozu haben wir eigentlich einen deutsch-französischen Sender? In Frankreich ist die Debatte um den Film bisher noch nicht mal angekommen. Dabei zeigt das Schweigen und jetzt zaghaft einsetzende Reden über den Mord an der französisch-jüdischen Rentnerin Sarah Halimi, dass die Frage nach der Verdrängung des Antisemitismus in Frankreich höchst akut ist (mehr dazu in unseren Feuilletonrundschauen). Polizei, Staatsanwaltschaft, Politik und leider auch Medien zögern, den möglicherweise antisemitischen Charakter der Tat auszusprechen. Intellektuelle wie Alain Finkielkraut und Elisabeth Badinter pochten in einem Aufruf darauf, die Tat überhaupt wahrzunehmen. In Berlin gab es mit der Geschichte um einen von Schulkameraden gemobbten jüdischen Jungen ein nicht ganz so drastisches Beispiel für den heute alltäglichen Antisemitismus.

Seltsamerweise kritisierte Arte-Chef  Alain Le Diberder, dass die Filmemacher für ihren Film auch nach Israel und in den Gaza-Streifen gegangen sind. Aber das haben sie doch getan, um die Reden der sich als Israelkritiker tarnenden Antisemiten zu entkräften!

Gerade in dem Kapitel über den Gaza-Streifen sind mir die Augen übergegangen. Manches war mir, der die Israel-Berichterstattung unserer geschätzten Sender und Zeitungen doch zur Kenntnis nimmt, ehrlich gesagt nicht klar.

- Ich hatte mir nie wirklich bewusst gemacht, dass es auch im Gaza-Streifen Flüchtlingslager gibt. Es gibt also sogar innerhalb der Gebiete der Palästinenser zwei Kategorien der Bevölkerung, die "einheimischen" und die "Flüchtlinge"? Das wäre so, als hätten die Deutschen die Vertriebenen nach 1945 in Lager gesteckt und ihnen gesagt, dass sie auf die Wiedervereinigung warten sollen. Wieviele "Flüchtlinge" gäbe es dann eigentlich heute in Deutschland?

- Mir war auch nicht klar, dass es eine UNO-Flüchtlingsorganisation nur für ein Volk, die Palästinenser gibt. Die UNRWA ist die einzige Exklusivorganisation dieser Art. Sie wird fast ausschließlich von Palästinensern verwaltet und scheint der wichtigste Wirtschaftsfaktor vor Ort zu sein. Eine international gewollte und alimentierte Korruption. Pörzgen wendet ein, dass das Elend der Flüchtlinge nicht gezeigt werde - aber das kann man den Autoren ja geradezu als Diskretion zugutehalten. Die Frage, warum das viele Geld der UNO, EU, der USA und der arabischen Staaten bei den Flüchtlingen nicht ankommt, stellen sie durchaus.

- Ich habe zutiefst die jungen Leute bewundert, die in dem Film vor den Universitäten im Gaza-Streifen ganz offen die eiserne Faust der Hamas kritisieren. Sie sind die mutigsten Gesprächspartner in diesem Film - und sie sind Palästinenser. Eine Studentin verlangt nach einer Zweistaatenlösung, die es den Bewohnern des Gaza-Streifens möglich machte, endlich mal aus ihrem Käfig rauszukommen.

Stimmt, Diberder hat recht: Dies Kapitel hat mit dem europäischen Antisemitismus nur halb zu tun. Hier öffnet der Film einen Weg zu neuen Recherchen, die der Arte-Chef gleich im Anschluss hätte in Auftrag geben sollen.

Thierry Chervel