Virtualienmarkt

Die ganze und die halbe Revolution

Von Rüdiger Wischenbart
09.10.2017. Kindle und Iphone feiern in diesem Jahr ihren zehnten Geburtstag. Aber während mittlerweile die halbe Menschheit ihren Alltag mit dem Smartphone organisiert, hat sich bei elektronischen Büchern nur ganz wenig getan. Dass das Potenzial von Vertretern der Traditionsbranchen gebremst wurde, schadet am Ende dem Buch selbst.
2017 fallen zwei Jubiläen zusammen, die bislang kaum zusammengedacht worden sind. Vor zehn Jahren, im November 2007, brachte Amazon das erste digitale Lesegerät unter dem Markennamen "Kindle" auf den Markt. Bereits im Juni desselben Jahres hatte Apple sein erstes "Iphone" herausgebracht, ein mobiles Telefon mit einem Touch Screen und einem neuartigen Betriebssystem.

Eine zentrale Neuerung war für beide Geräte die mobile Verbindung mit einem Telefonnetzwerk, das erlaubte, Funktionalität und gespeicherte Inhalte umstandslos zu aktualisieren.

Doch was aus den beiden Geräten, und wichtiger noch, den darunterliegenden innovativen Konzepten im folgenden Jahrzehnt entstand, könnte kaum unterschiedlicher sein.

Das Iphone und die sich daraus entwickelnden mobilen digitalen Ökosysteme haben fundamental verändert, wie wir uns in der Welt organisieren. Und "uns" meint hier nicht nur die wohlhabenderen Teile der Welt. Etwa die halbe Weltbevölkerung nutzt mittlerweile Smartphones, um damit ins Internet zu gelangen und digitale Dienste zu nutzen (mehr hier).

Digitale Bücher, also "e-Books" haben indessen einen Anteil von um die 20 Prozent am Publikumsmarkt mit Büchern in den USA, 15 Prozent in Großbritannien, und irgendwo im einstelligen Prozentbereich in den großen Buchmärkten in Europa diesseits des Ärmelkanals.

Viele in der Buchbranche sehen es als einen Erfolg an, dass gedruckte Bücher weiterhin klar dominieren. "Das Buch ist nicht tot", lautet die Devise. Tatsächlich aber erinnert dieser vermeintliche Sieg an einen klassischen Kampf gegen Windmühlen, um ein naheliegendes Bild aus dem großen ersten Roman Europas, Cervantes' "Don Quijote", zu bemühen. Nur seltsame Helden rennen mit langen Lanzen gegen sich drehende Maschinen irgendwo im Nichts an, und missverstehen dies als heroischen Aufstand von Aufrechten.

Bücher, und Bücher zu lesen, wurden durch die Digitalisierung nie ernsthaft in Frage gestellt. Gewiss, digitale Technologien haben tiefgreifend verändert, wie Bücher geschrieben, aufbereitet und vermarktet werden, und schließlich zu den Lesern gelangen. Amazon als Vertriebsmaschine hat den Markt völlig umgekrempelt. Die Rundum-Verfügbarkeit von digitalen Werkzeugen und Netzwerken hat es mit sich gebracht, dass ich heute vom Küchentisch aus ein Buch erfolgreich in die Welt bringen kann, und selbst die Grenzlinien zwischen solchem Do-it-yourself und den größten Buchverlagskonzernen verschwimmen.

Dies alles wurde durch jene "ganzheitliche" Revolution beschleunigt, welche das Iphone angestoßen hat. "Mobile is eating the world", so hat es der Silicon Valley Analyst Ben Evans auf den Begriff gebracht.

Wo immer ich hinsehe, benutze ich fast immer auf irgendeine Weise diese mobile, digitale, mich mit dem Internet verknüpfende Technologie, um zu tun, was ich eben machen will. Die selbst vermeintlichen "Buch-Leute" haben sich indessen in eine immer engere Nische zurückgezogen, in der sie darauf wetten, dass der Sturm sich legt, oder vorüberzieht.

Dabei ist die Welt der Bücher selbst aus der Verknüpfung einer technologischen Revolution mit einem sozialen und kulturellen Umbruch hervorgegangen. Erst wurde in Bibliotheken in Klöstern, die der kirchlichen wie Herrschaftsobrigkeit nicht besonders ergeben waren, Wissen angesammelt und immer effizienter organisiert. Dann kam die Druckerpresse, welche die Vervielfältigung und Verbreitung dieses Wissens in einer neuen Größendimension ermöglichte. So sehr anders ist es nicht, was heute geschieht.

Hier kommt freilich ein weiteres Paradoxon hinzu: Eigentlich sollte die Buchbranche heute ein Goldenes Zeitalter erleben. In den vergangenen zwanzig Jahren haben viele hundert Millionen Menschen wenigstens so viel an wirtschaftlicher Stabilität und an Zukunftsperspektiven entwickeln können, dass sie für sich, oder zumindest für ihre Kinder, nach besseren Bildungschancen streben, Zugang zu Wissen erlangen, und sich auch unterhalten wollen, von Brasilien bis Indien und China, in Mexiko, der Türkei und in Indonesien, in viel zu wenigen afrikanischen Ländern, aber doch von Algerien, Tunesien und Ägypten bis zu den Golf-Staaten in der arabischen Welt.

Die weltweiten Buchmärkte aber, mit wenigen Ausnahmen wie China, Indien, und in eingeschränktem Maße in der Türkei oder in Mexiko, stagnieren.

Was läuft hier falsch?

In Deutschland sind seit 2015 rund eine Million Menschen neu angekommen, die in ihrer Mehrheit die deutsche Sprache erlernen und neue Qualifikationen aufbauen müssen. Ich habe bislang keine Werbekampagnen aus der Buchbranche gesehen, um diese erhebliche neue Zielgruppe zu erreichen. Den Ankommenden wurde vorgehalten, dass sie mehrheitlich ein Smartphone besaßen. Diese Smartphones als naheliegende Schnittstelle zu begreifen, um das Ankommen zu unterstützen und zu begleiten, wurde kaum aufgegriffen.

Mit digitalen Werkzeugen, zur Aufbereitung von Inhalten und, vielleicht noch wichtiger, zur Vernetzung und interaktiven Ansprache von Lernenden lassen sich viele Prozesse unterstützen. Im "professional learning", also bei der beruflichen Weiterbildung, ist derlei längst eine Selbstverständlichkeit. Und dass Lernende, auch in der Schule, ihre Smartphones nutzen, um sich in Gruppen zu vernetzen und darüber den Lernprozess zu optimieren, ist in jeder Schulklasse so trivial und alltäglich, dass man es sich kaum anzusprechen traut.

Damit plädiere ich nicht einmal für das viel umstrittene "digitale Klassenzimmer". Ich will nur eine seltsame Geschichte auf den Punkt bringen: Bei den Büchern gab es gerade mal eine halbe Revolution - und halbe Revolutionen sind schlicht halbe Sachen.

Zehn Jahre nach Einführung des Kindle hat sich bei elektronischen Büchern nur ganz wenig getan. Die Lesegeräte sind marginal besser geworden. Außer einem Bildschirm, der auch Lesen im Dunklen erlaubt, und niedrigeren Preisen fürs Gerät, ist nicht viel passiert. Mein Lesen, mit Notizen und Empfehlungen, in mein mobiles Smartphone-Leben, und meinen Arbeitsprozess ins lokale und darüber hinaus auch noch ins virtuelle Team zu integrieren -  das scheitert an geschlossenen Techno-Barrieren. Die Preise von elektrischen Büchern orientieren sich weiterhin mehr am Preisgefüge für Haushaltswaren, als am eCommerce mit andren Medieninhalten, die ich auf meinem Handy beziehe und in mein digitales Leben einspiele. Die Vertreter der Buchbranche in Brüssel haben dem digitalen Binnenmarkt unlängst eine scharfe Absage erteilt. Und eine ordentliche Beteiligung der Urheber ist häufig mehr Lippenbekenntnis als in Verträge gegossenes, überprüfbares Bemühen um eine neue Balance.

Dann wundern wir uns, dass aus dem Bücher Lesen immer weniger soziales Prestige zu gewinnen ist, während das Bescheidwissen um so viele Konkurrenz-Medien stetig an Wert gewinnt.

Die mögliche digitale Revolution bei den Büchern ist auf halber Strecke stecken geblieben. Und es braucht wohl keine Verschwörungstheorie um zu sagen, dass die Gralshüter des Buchwissens darüber nicht ganz unglücklich sind.

Was ist die Moral aus der Geschichte? Ganz einfach. Wir sollten über Bücher und Lesen endlich wieder mit mehr Mut und Zuversicht sprechen. Und weniger mit Moral. Eigentlich müsste die Devise lauten: Es ist ein Goldenes Zeitalter, um Geschichten zu erzählen, welche diese sich irrlichternd verändernde Welt rundum zu beschreiben vermögen, oder um Lernen und Bildung für mehr Menschen denn je zuvor in der Geschichte zu unterstützen. Lernen wird nie einfach sein, aber es lässt sich mit guter Hilfe besser gestalten.

Und schließlich der Zugang zu Wissen! Aufs Erste gesehen hat das Smartphone direkten Zugang zu immensen Wissensbeständen eröffnet. Vom ständig googelnden Schüler in Berlin oder Deggendorf bis zur Dorf-Frau in Kenia oder auf Sumatra, die den Verkauf von Gemüse am Markt in der nächsten Stadt damit organisiert, und ihr selbständiges soziales Leben obendrein.

Aber die noch viel größeren Wissensbestände wurden derweil privatisiert, gerade in diesen letzten zehn Jahren, und sind für Individuen außerhalb großer und finanzkräftiger Organisationen kaum noch zugänglich, ob es sich um gut aufbereitete Daten zu Bodenpreisen, Rohstoff-Vorkommen oder auch nur die lokalen Klimadaten handelt, oder gar um Auswertungen aus Big Data in egal welchem Sachgebiet. Hier hat die digitale Revolution in völlig paradoxer Weise nicht nach vorne geführt, sondern zurück, in eine sehr alte Welt geschlossener Klöster und deren abgeschottete Wissensreservoirs.

Zehn Jahre nach Einführung von Iphone und Kindle habe ich einen ganz simplen Geburtstags-Wunsch: Was ist ein Smart-Phone? Ein Gerät, dass schlau unterstützt, wie wir uns miteinander austauschen. In diesem Sinn wünsche ich mir mehr Smart-Phone im Buch!

Rüdiger Wischenbart