Snapshots Blog - von Sascha Josuweit

Vollendung durch Blockade

Von Sascha Josuweit
03.03.2014. Aleatorisch Bildmaterial, Netznews und Gossip verarbeitend erkundet unser Autor die Möglichkeiten eines Parallelfeuilletons
Im Klassifikationssystem der American Psychiatric Association findet sich kein Eintrag zur Erledigungsblockade, bekannt auch als Prokrastination. Solches Verhalten wird eher als persönlichkeitsbedingt denn als pathologisch betrachtet, wenngleich diese Unterscheidung nicht unproblematisch ist und Handlungsaufschub durchaus in Verbindung mit psychischen Störungen wie Depression zu beobachten ist. Während die Zweite Moderne sich dem Phänomen mit Methoden des Projektmanagements nähert, wird in informellen Zusammenhängen gern der komische, leicht anzügliche Aspekt betont ("Du alter Bummelstudent"). Der Perfektionismus Michelangelos wirft ein vollkommen anderes Licht. Als der Künstler vor 450 Jahren starb, hinterließ er neben einer Vielzahl nie realisierter Pläne und Projekte eine Reihe unvollendeter Arbeiten, wie die Medici-Grabmäler in Florenz, das Grabmal Papst Julius II. oder die Pietà Rondanini. Kunstgeschichtlich wird das Non-finito bei Michelangelo allgemein nicht als künstlerisches Prinzip diskutiert. Allerdings gibt es Stimmen, die es als Ausdruck weltanschaulicher Zerrissenheit deuten. Demnach hätte das Genie sich Vollkommenheit entweder nicht gestattet oder sie schlicht nicht für möglich gehalten. Eine dritte Sichtweise hätte in Betracht zu ziehen, dass sich die Idee am ehesten noch in der unabgeschlossenen Form verwirkliche.