Post aus der Walachei

Ein Lazarus und drei Katzen

Der neue Film von Cristi Puiu in Cannes. Von Hilke Gerdes
04.05.2005. Cristi Puius Film über einen Lazarus im Schoße Abrahams läuft nächste Woche in Cannes. Der Perlentaucher hat ihn schon gesehen.
Mastropol

Etwas Vanille, Zucker, Wasser und reiner Alkohol alles kurz aufkochen, fertig ist Mastropol. Hauptnahrungsmittel der männlichen Bevölkerung Bukarests in den achtziger Jahren. Und das von Herrn Lazarescu (Ion Fiscuteanu) in Cristi Puius neuestem Film: "Moartea domunlui Lazarescu" (Der Tod des Herrn Lazarescu).

Außer Mastropol sind dem 63-jährigen die drei Katzen wichtig, mit denen er in einer kleinen Wohnung in einem der typischen Blockbautenviertel Bukarests lebt. Seine Frau ist seit vielen Jahren tot, seine Tochter nach Kanada ausgewandert. So hat er nur noch die Nachbarn, die er um Hilfe bitten kann, als es ihm eines Tages gesundheitlich schlechter geht. Und so beginnt die Odysee des Herrn Lazarescu durch die Notaufnahmen der Krankenhäuser und seine Reise auf dem Weg in den Tod, die Erlösung oder die Hölle und das Paradies. Nicht zufällig heißt er Lazarescu (Lazarus) und mit Vornamen Dante Remus, der operierende Arzt "Anghel" (Engel) und die ihn begleitende Rettungsschwester Mioara Avram (Abraham). Aufgehoben in Abrahams Schoß sagt man auch im Rumänischen.


Miorita

"Mioara" ist eine Ableitung von "Miorita" (das Lämmchen), der berühmtesten rumänischen Volksdichtung, die jedes Schulkind lernt und die von ihrem Stellenwert innerhalb der rumänischen Kulturgeschichte mit dem Nibelungenlied im deutschsprachigen Raum vergleichbar ist: Zwei Hirten planen einen dritten umzubringen, dieser wird von dem Lämmchen gewarnt, doch er bringt sich nicht in Sicherheit, sondern wartet sein Ende gelassen ab. Nach dem Dichter und Philosophen Lucian Blaga (1895-1961) veranschaulicht diese Ballade die zwei Grundelemente der rumänischen "Volksseele": Fatalismus und der Glaube an die göttliche Vorsehung.
Puiu hat symbolische Spuren gelegt, die für den Zuschauer, der weder die rumänische Sprache noch die rumänische Geschichte kennt, nicht so leicht zu lesen sind. Er wird eher den harten Realismus wahrnehmen, den der Film abgesehen von den biblischen und literarischen Anspielungen bietet.


Kommunikation

Puiu geht es nicht um eine anklagende Kritik der Verhältnisse (hier der schlechten medizinischen Versorgung). Er konstatiert die Gegebenheiten, mehr nicht. Die Art, wie die Menschen kommunizieren oder nicht kommunizieren, sei für ihn das zentrale Thema des Films, so Puiu. Damit verbunden ist das gegenseitige Misstrauen, das hier wohl jedem Neuankömmling sofort ins Auge fällt. Der (westliche) Besucher mag es als Auswirkung langjähriger staatlicher Bespitzelung und kommunistischer Diktatur betrachten. Puiu begründet es historisch. Dem Land habe schon immer eine feste Struktur gefehlt, im de facto rechtlosen Raum sei nie klar gewesen, ob eine Handlung bestraft oder belohnt werden würde. Es sei immer darum gegangen, auf verschlungenen Wegen das Eigene auf Kosten anderer durchzusetzen.

Die dem ausländischen Beobachter so merkwürdig erscheinende parallele Existenz von Rücksichtslosigkeit, Grobheit, soziale Kälte und Fürsorge, Herzlich- und Gutmütigkeit im Umgang miteinander ist im Film sehr präzise beobachtet. Und vieles mehr, was die Gesellschaft hier bestimmt: das Leben im sozialistischen Wohnblock, die heutigen Generationsunterschiede, das Geschlechterverhältnis, die alltägliche Geldfrage.

Das Drehbuch des Films hat Cristi Puiu zusammen mit Razvan Radulesu geschrieben. Ein gutes Gespür für rumänische Lebenswirklichkeit und ihren sprachlichen Ausdruck lassen die beiden zu den besten Autoren der neuen Generation gehören, die genug hat von Historien- und Kostümfilmen, von heroischen Gestalten und künstlichen Dialogen. Und für die Hollywood kein Vorbild ist.


Cannes

Wie bereits in Puius anderen Filmen (siehe Post aus der Walachei vom 9. Juni 2004) wurde mit Handkamera gedreht und ohne zusätzliches Licht gearbeitet. Nur in der original belassenen Blockwohnung im Bukarester Viertel Balta Alba wurde die Original-40-Watt-Glühlampe (Strom ist hier teuer!) ersetzt durch eine mit 200 Watt. Auf die Frage, inwieweit ihn die dänische Dogma-Gruppe um Lars von Trier beeinflusst habe, reagiert Puiu ärgerlich. Für ihn ist dieser Vergleich typisch journalistisch, denn Dogma sei ein großes Medienereignis gewesen. Das Arbeiten mit Handkamera sei doch wesentlich älter. Da müsse man beispielsweise nur an Godard denken. Ihn habe vielmehr Cassavetes beeinflusst. Und das Dokumentarfilm-Genre. Er selbst hat 1996 und 1998 zwei Dokumentarfilme gedreht ("Bucuresti, 25.12, Gara de Nord "und "Craiova, Azilul de batrini")
Puiu hat es geschafft: Nach nur 39 Nacht-Shootings und knapp drei Monaten Post-Production ist der Film rechtzeitig für die Cannes-Bewerbung fertig geworden. Der Stress hat sich gelohnt. "Moartea domunlui Lazarescu" wird auf dem Filmfestival, das dieses Jahr vom 11. bis zum 22. Mai stattfindet, in der Sektion "Un certain regard" zu sehen sein.


Kooperationen

Ein anderer Film, für den Cristi Puiu und Razvan Radulescu das Drehbuch geschrieben haben, ist noch in Arbeit. Diese deutsche Produktion mit den zwei rumänischen Autoren wird voraussichtlich im Februar nächsten Jahres in die Kinos kommen, in die deutschen und hoffentlich auch in die rumänischen, denn beide Länder sind in "Offset", so der Titel des Films, Thema:
Ein deutscher Ingenieur (gespielt von Felix Klare) kommt nach Bukarest, um hier in einer Druckerei die Installation der neuen Offset-Maschinen zu überwachen. Er verliebt sich in die Übersetzerin (Alexandra Maria Lara), sie in ihn. Wären da nicht die deutsche Familie (als Vater Manfred Zapatka, als Mutter Katharina Thalbach) und der ehemalige Liebhaber der Frau (Razvan Vasilescu), könnte alles glücklich verlaufen. Doch so kommt es zum Eklat.

Neben den klassischen Themen Liebe, Macht, Eifersucht und Gier geht es in diesem Film vor allem um die Wahrnehmung des jeweils anderen. Um die Bilder, die jeder vom anderen im Kopf hat. Um Vorurteile, kulturelle Missverständnisse, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen RumänInnen und Deutschen.


Deutsch-rumänisches Verstehen

Der als Dokumentarfilmer bekannt gewordene und seit "Viehjud Levi" (1998/99) auch im Spielfilm-Bereich erfolgreiche deutsche Filmemacher Didi Danquart hat die Regie von "Offset" übernommen. Er war vor einiger Zeit mit seiner Crew in Bukarest, um hier zu drehen. Unter anderem in einer Druckerei, wo sich die deutsch-rumänische Liebegeschichte ganz ähnlich abgespielt habe, wie ihm, so Danquart, erzählt worden sei. Ihn freut dieser Zufall, der doch zeige, wie nah am Leben sie mit ihrem Film seien.

Auf der Pressekonferenz sind die Deutschen voller Begeisterung über die Stadt, die Leute, die Professionalität des rumänischen Produktionspartners, der von Cristian Mungiu, Hanno Höfer und Oleg Mutu gegründeten Firma Mobra Films. Dazu bemerkt der in Rumänien jedem Kino- und Theaterliebhaber bekannte Schauspieler Razvan Vasilescu verschmitzt lächelnd, Deutschland habe wohl mehr zu bieten als Mercedes und BMW: Das Arbeiten mit den Deutschen sei sehr erfreulich gewesen.

Alexandra Maria Lara, die unter anderem Hitlers Sekretärin in Thomas Hirschbiegels Film "Der Untergang" gespielt hat, kann auf deutsche und rumänische Erfahrungen zurückgreifen: Sie ist in Bukarest geboren, in Deutschland aufgewachsen und beherrscht beide Sprachen. Sie kann mühelos ihren Rollennamen aussprechen, für den sich Puiu und Radulescu entschieden haben, um es dem deutschen Publikum, wie sie vergnügt zugeben, nicht zu leicht zu machen: Brandusa Herghelegiu.


Ware Hoffnung

Ein leuchtend rotes Herz mit großen gelben Buchstaben, die das Wort "Maggi" bilden, klebte eines Tages an dem kleinen Fenster der Nachbarin, die unter dem Dach lebt. Eine kreative Lösung für den Sprung im Fensterglas, dachte die Bewohnerin des Hochparterre. Dann waren die Herzen plötzlich überall. Oder präziser gesagt, dort, wo die Fassaden auf eher bescheidene Wohnverhältnisse schließen lassen. Waren diese ganzen Fensterscheiben zur selben Zeit gesprungen und viele auf dieselbe Idee wie die Nachbarin unter dem Dach gekommen? Höchst unwahrscheinlich. Und woher hatten sie diese Aufkleber? Der Nachbarin vom Hochparterre schien etwas entgangen zu sein. Bald wusste sie auch was: Die erfolgreichste Werbekampagne, die Rumänien seit Einführung der Marktwirtschaft erlebt hat.

Und die ganz auf die Hoffnung derjenigen setzt, die wenig haben: Denn drei durch vierzig Städte Rumäniens herumfahrende Caravans belohnen diejenigen mit 200 Euro, bei denen sie das Maggi-Herz am Fenster erblicken. Für jedes Maggi-Produkt im Haushalt noch einmal 50 Euro extra. So führt man Tütensuppen und Brühwürfel in die für ihre Ciorba (saure Fleisch- oder Gemüsesuppe) berühmte Küche Rumäniens ein. Insgesamt sollen 135.000 Euro bis zum Ende der Kampagne Ende April an Gewinnen ausgezahlt worden sein.


Viele Teilnehmer, wenig Gewinner

80 Prozent der Stadtbevölkerung haben nach Aussagen der verantwortlichen internationalen Werbeagentur das Maggi-Herz in ihrem Briefkasten gehabt. Massive Fernseh-, Radio- und Plakatwerbung und Einzelaktionen (wie die Maggi-Hüpfburg für Kinder) haben die Message in die Köpfe getrieben: "sei mit dem Herzen dabei". Der Kreativdirektor der Werbekampagne betont: "The Maggi heart on the window shows the existence of a loving family." (Business Review, Vol. 11, Nr. 13)

Wohl doch eher der schlichte Wunsch, ein paar Euros mehr in der Tasche zu haben. "Wo Maggi klebt, da ist die Armut", ließe sich die emotional-content-orientierte Aussage abwandeln. Der Soziologe Dan Petre sieht noch etwas: Der Konsument muss zwar tätig werden und selbst das Herz ans Fenster kleben (ein wichtiger psychologischer Sprung vom Passiven zum Aktiven und Hinweis auf den Erfolg des Imagemaking), dann aber warten - daran wären die Rumänen ja gewöhnt -, bis jemand kommt und ihn belohnt. Früher belohnte die Partei, jetzt sei es Maggi.


Anti-Maggi


Das Fenster des privaten Konsumenten wird zur Werbefläche, der man nicht entkommen und die günstiger für den Produktanbieter nicht sein kann. Ist etwas unmoralisch dabei? Die rumänische Verbraucherschutzorganisation sieht keine Probleme.
Die Regierung des Stadtbezirks Nr. 1 in Bukarest ist anderer Meinung und fragt: Verstößt die Kampagne nicht gegen den Schutz des öffentlichen Raums? Außerdem: Auch wenn die Aufkleber, die "abtibildurile", wie es in einer Zeitung heißt, im Inneren angebracht sind, haben sie die Wirkung einer Außenwerbung und damit wären Gebühren fällig.

Inzwischen haben auch andere auf die massive "Maggisierung" reagiert. Während eines Flash-Mobs vor der Bukarester Nestle-Zentrale wurden alternative Herzen vorgestellt: Statt "Maggi" steht auf ihnen "fraier!" ( Dummkopf) "traggic", "Knorr" (der große Konkurrent auf dem rumänischen Markt), "Hagi" (der beste rumänische Fußballer) und das auszuschreiben verbotene, aber an jeder Straßenecke zu hörende "Muie", das den Blowjob umschreibt und eines der vulgärsten Wörter im Rumänischen ist. Die Initiatoren dieser Kampagne sehen in "Muie" die adäquate Antwort auf die Maggi-Liebe.