Magazinrundschau - Archiv

Eurozine

273 Presseschau-Absätze - Seite 2 von 28

Magazinrundschau vom 01.08.2023 - Eurozine

"Das ist immerhin eine kleine Sensation: ein gemeinsamer Essay von Jürgen Habermas und Jacques Derrida über 'unsere Erneuerung'", kommentierte am 31. Mai 2003 der Perlentaucher. Die beiden riefen mal wieder zur Bildung einer europäischen Öffentlichkeit auf, ihrem Alter geschuldet verwechselten sie allerdings Zeitungen mit Öffentlichkeit. Im Hintergrund tobten damals niemals getoppte Demos in Europa: Der Krieg gegen den Irak, wo immerhin ein Höllenhund vom Erdboden gefegt wurde, empörte das westliche Publikum um einiges mehr als von Putin gedecktes Giftgas in Syrien oder sein Krieg gegen die Ukraine. Und Habermas und Derrida meinten mit "europäischer Öffentlichkeit" noch ein "Kerneuropa", ohne die Länder Osteuropas. Eurozine bringt mit Hilfe der Zeit-Stiftung eine Artikelreihe unter dem Titel "Lessons of War" (organisiert vom einstigen Eurozine-Chef Carl Henrik Fredriksson), die zwanzig Jahre danach an Habermas' und Derridas Artikel anknüpft. Eröffnet wurde die Reihe von einem Text Daniel Cohn-Bendits und Claus Leggewies (hier). Den jüngsten Essay bringt Veronica Anghel, Forscherin an der Johns Hopkins School of International Studies, die über "die Macht kleiner Länder" schreibt. Den starken Willen osteuropäischer Länder wie Georgien, Moldau oder eben die Ukraine zum Westen zu gehören und nicht mehr als Manövriermasse und "Pufferzone" betrachtet zu werden, liest sie als ein Symptom der einst auch von den beiden Philosophen geforderten Dekolonisierung im Geiste: "Die Ukrainer haben sich für die europäische Identität entschieden, die Habermas und Derrida forderten. Nun ist es an der Zeit, dass Europa sich mit den Ukrainern identifiziert und auf den Ruf der Ukraine nach Vereinigung antwortet. Diese Entscheidung mag dem pazifistischen Argument von Habermas und Derrida im Zusammenhang mit der Irak-Invasion widersprechen. Aber sie steht im Einklang mit ihrer übergeordneten Botschaft. Sollte Europa beschließen, dass eine freie und intakte Ukraine nicht mehr in seinem Interesse liegt, und aufhören, die Ukraine zu unterstützen, wird die Ukraine den Krieg verlieren. Das Ergebnis wird nicht eine fügsame Bevölkerung sein, die bereit ist, ihre Souveränität und ihr Territorium im Austausch für ihre persönliche Sicherheit aufzugeben. Vielmehr wird ein schwer bewaffnetes und kriegsgestähltes Land in sozialem und politischem Chaos versinken. In diesem Szenario gewinnt Russland, und Europa verliert."

Magazinrundschau vom 25.07.2023 - Eurozine

Der Journalist Stanislav Aseyev hat nach der Annexion der Stadt Donezk 2014 durch russische Truppen unter einem anderen Namen weiterhin für ukrainische Medien berichtet, bis er 2017 aufflog und in das Arbeitslager Izolyatsia gebracht wurde. Im Gespräch mit Ivanna Skyba-Yakubova berichtet er über seine Erfahrungen im Lager, die er auch jüngst in einem Buch festgehalten hat, äußert sich aber auch kritisch zu einer Zukunftsperspektive für ein Post-Putin-Russland: "Die russischen Liberalen sagen dem Westen, dass nicht das russische Volk schuldig ist, sondern Putin und sein Gefolge. Wenn wir Putin vertreiben, sagen sie, werden wir kommen und die Dinge in Ordnung bringen; wir werden dem russischen Hinterland Bildung und Möglichkeiten bieten, so dass 'neue Russen' geboren werden und 'normale, echte Russen' zu ihnen stoßen werden - die 'normalen Russen', die jetzt irgendwo da draußen in Russland sind, aber aus welchen Gründen auch immer ruhig bleiben. Diese Vorstellung ist wahnhaft. Es ist sehr nützlich für sie, und sehr gefährlich für uns. Wenn es stimmt, dass nur Putin und sein Gefolge schuldig sind, dann kann es keine Wiedergutmachung geben. Das heißt, Putin soll zahlen, und Wanja aus Saratow trägt keine Verantwortung für irgendetwas. Aber das tut er. Wanja ist verantwortlich. Aber er würde das nicht akzeptieren - zumindest nicht so, wie die Deutschen ihre kollektive Verantwortung nach dem Zweiten Weltkrieg akzeptiert haben. Es gibt keine Möglichkeit, dass sich Russland unter irgendeiner Regierung ändert. Manche sagen, dass die Herrschaft Jelzins die einzige freie Periode in der russischen Geschichte der letzten 300 bis 400 Jahre war. Aber selbst dann sollte man sich daran erinnern, wie russische Soldaten in Tschetschenien gehandelt haben. Formal war es ein liberales Regime, aber in Tschetschenien haben Soldaten ganze Städte ausgelöscht, so wie sie es jetzt in der Ukraine tun. Wir müssen einen sehr pessimistischen Blick auf Russland und seine Bevölkerung entwickeln und unsere Politik auf dieser Grundlage aufbauen."

Magazinrundschau vom 11.07.2023 - Eurozine

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland braucht nicht nur mehr Transparenz, konstatiert Annika Weiss, sondern auch eine echte Demokratisierung, so dass sich auch die Beitragszahlenden wieder involviert fühlen können. Wie wäre es mit einer Reform ganz oben? "Um ein völlig unabhängiges Gremium für die Kontrolle der Programme und Finanzen zu schaffen, muss die gesamte Bandbreite der Zuschauerschaft in den Rundfunk- und Verwaltungsräten vertreten sein. Anstatt sich auf Vertreter etablierter Organisationen und politischer Akteure zu verlassen, um die Bevölkerung zu repräsentieren, könnten die Gebührenzahler umfassender vertreten werden. Sie könnten zum Beispiel ähnlich wie Geschworene nach dem Zufallsprinzip einberufen werden, wie es im Modell der Bürgerversammlungen geschieht. Dies würde ihre aktive Teilnahme als Interessenvertreter ermöglichen, die keine vorgegebene Agenda haben, wie es bei Organisationen, die Interessen vertreten, der Fall ist. Wie die Experimente von Nanz zur Bürgerbeteiligung zeigen, sind die Bürgerinnen und Bürger nach einer Schulung oder einem Training zu bestimmten Themen durchaus in der Lage, sich an wichtigen Entscheidungen auf lokaler politischer Ebene zu beteiligen."

Magazinrundschau vom 04.07.2023 - Eurozine

Lange Zeit fokussierte sich das belarussische Selbstverständnis auf die Betonung einer kulturellen und sprachlichen Identität, doch bereits vor der großen Erhebung von 2020 hatten sich die Koordinaten zu einem Denken der solidarischen Gemeinschaft verschoben, erklärt die belarussische Philosophin Olga Shparaga. Zentrale Begriffe seien vielmehr das Verlangen, "Menschen zu heißen, wie der Nationaldichter Janka Kupala schrieb, und die Gemeinschaft derer, "die hier leben": "Die Revolution von 2020 fügte der belarussischen Identitätserfahrung ein entscheidendes Element hinzu: Unsere Gewalterfahrung und die breite horizontale Einheit, die darauf zielt, den Bedrohungen zu widerstehen, verwandelten die Belarussen in eine Schicksalsgemeinschaft. Die Notwendigkeit, für die Inhaftierten zu sorgen - derzeit gibt es mindestens 1.700 politische Gefangene, darunter Maria Kaleschnikowa, Wiktar Babaryka und Sergej Tichanowski - wie auch für diejenigen, die Folter und Verfolgung ausgesetzt sind oder im Ausland Schwierigkeiten haben, ist nach wie vor ein äußerst wichtiges Thema im Leben dieser Gemeinschaft und zugleich ein Dorn im Auge eines Regimes, das die belarussische Gesellschaft immer noch unterdrückt. Die Schicksalsgemeinschaft von 2020 steht nach wie vor im Zentrum der Alltagsgeschichten, die die Belarussen heute erzählen. Doch wie viele belarussische Wissenschaftler festgestellt haben, stellte der 24. Februar 2022 eine neue Herausforderung für diese Schicksalsgemeinschaft dar. Das belarussische Regime verschaffte der 'russischen Welt' nicht nur online, sondern auch physisch ein größeres Ansehen, indem es die Präsenz russischer Militärausrüstung und Soldaten auf belarussischem Gebiet zuließ. Als Reaktion darauf begann eine konsolidierte, homogenisierte Version des Nationalismus an Boden zu gewinnen, zumindest in den Reden bestimmter politischer Akteure. In ihrem Verständnis gibt es nur eine Methode, sich gegen die Propaganda der 'russischen Welt' zu wehren: die massenhafte Entwicklung der belarussischen Identität durch eine Kampagne, die die nationale Wiederbelebung unterstützt... Es ist unwahrscheinlich, dass sie das kritische Denken beinhalten, das das Gegenmittel zu jeder Art von Propaganda sein könnte."
Stichwörter: Shparaga, Olga, Folter

Magazinrundschau vom 27.06.2023 - Eurozine

"Wir glauben, dass die Demokratie noch nicht endgültig gestorben ist, solange es noch Tunesier gibt, die um sie kämpfen." Das ist auch schon der größte Hoffnungsschimmer, den Larbi Sadiki und Layla Saleh anzubieten haben in ihrem Überblicksessay über den Verfall der demokratischen Strukturen in Tunesien seit dem de-facto-Coup des Präsidenten Kais Saied im Juli 2021. Schritt für Schritt hebelt Saied seit seiner Machtübernahme Prinzipien der Gewaltenteilung und der politischen Kontrolle aus. Dabei galt Tunesien vorher als die einzige demokratische Erfolgsgeschichte des Arabischen Frühlings von 2011. Sadiki und Saleh zeichnen freilich nach, wie die durch Parlamentswahlen in den Jahren 2014 und 2019 nur scheinbar stabilisierte tunesische Demokratie von Anfang an mit Geburtsfehlern behaftet war. Das betrifft zum einen institutionelle Probleme wie die Abwesenheit einer - konstitutionell durchaus vorgesehenen - Verfassungsgerichtsbarkeit. Mindestens genauso ist laut den Autoren freilich die Vernachlässigung sozialer Faktoren, die sich in einem weitverbreiteten Misstrauen gegenüber parlamentarischen Prinzipien niederschlägt: "Die Probleme und Kämpfe der Marginalisierten drehen sich um Fragen nach 'Brot und Butter'. Aber seit der Präsidentschaft Hedi Nouiras in den 1980ern wurden die neoliberalen Modelle wirtschaftlicher Entwicklung vermittels kapitalistischer Wertschöpfung nicht auf eine stärkere Inklusion der Bevölkerung hin erweitert. Politische Souveränität wurde über eine sichere Ernährung gestellt. Die Marginalisierten verfügen durchaus über eine politische Kultur. Und diese ist durchaus demokratisch: Sie protestieren und sterben für ihre Rechte und Forderungen. Sie sind nicht intolerant; aber sie finden sich nicht damit ab, als Bürger zweiter Klasse in Regionen zu leben, in denen Wasser und Elektrizität rationiert sind und Schulen und Krankenhäuser basalen Ansprüchen nicht genügen."

Der russische Journalist Wladimir Kara-Mursa , der zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, macht sich aus dem Gefängnis heraus Gedanken über Russlands Verhältnis zu Demokratie und Menschenrechten. Fatalisten, die eine stabile Demokratisierung des Vielvölkerstaates für unmöglich halten, widerspricht er vehement und verweist auf eine lange "europäische Tradition" im Land, die sich als Teil einer Demokratiebewegung auf Augenhöhe mit westeuropäischen Staaten begreift. Ansonsten macht er sich bereits Gedanken über die Zeit nach Putin: "Die zentrale Lektion, die unser Land aus dem Scheitern der demokratischen Reformen der 1990er gelernt hat, ist, dass das Böse wiederkehrt, wenn es nicht verstanden, verurteilt und bestraft wird. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes hätten alle Archive geöffnet werden müssen. Die Verbrechen des vorherigen Regimes hätten bestraft und die verantwortlichen Institutionen, wie der KGB, konsequent zerschlagen werden müssen. Das hätte nicht nur aus Gerechtigkeitsgründen geschehen müssen, sondern auch, um einen Rückfall in den Autoritarismus zu verhindern."

Magazinrundschau vom 20.06.2023 - Eurozine

Irina Galkova erinnert an das Schicksal des Memorial-Historikers Juri Dmitriew, der über dreißig Jahre lang die sowjetischen Straflager in Karelien erforschte, bis er vermutlich nach einer bösen Verleumdung selbst zu fünfzehn Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Nach fünf Jahren in der Gefängnisfestung von Petrosawodsk wurde er  in die Strafkolonie IK-18 verlegt, die zum berüchtigten Lagersystem Dubravlag gehört, wie Galkova ausführt: "Der Name 'Dubravlag' wird oft synonym für alle Lager in diesem Gebiet verwendet, obwohl das Lager selbst nur von 1948 bis 1954 in Betrieb war. Das erste Lager im Bezirk Zubowo-Poljanski war das Strafarbeitslager Temnikowski (Temlag), das 1931 als Teil des neuen Gulag-Systems errichtet wurde. Temlag wuchs schnell und 1934 überstieg die Zahl der Insassen dreißigtausend. Sie fällt und verarbeiteten Holz, außerdem bauten sie die Eisenbahnlinie Rjasan-Potma. 1937 wurde in Temlag eine der wichtigsten 'Frauenzonen' der UdSSR eröffnet. Dort waren Tausende von 'Ehefrauen von Vaterlandsverrätern' untergebracht, deren Ehemänner in den Jahren des Terrors meist hingerichtet worden waren. 1948 wurde Temlag in ein Hochsicherheitslager für gefährliche Kriminelle umgewandelt. Vor dem Hintergrund der nächsten Terrorwelle Ende der 1940er Jahre entstand ein Netz von Lagern mit den schönen Namen Retschnoi (Fluss), Ozerni (See), Peschani (Sand) und Mineralni (Mineral). Dubravni (Eichenwald), auch bekannt als Dubravlag, wurde durch sein strenges Regiment und die nummerierte Registrierung der Häftlinge bekannt, denen ihre Vor- und Nachnamen entzogen wurden. Fast alle Gefangenen des Dubravlags waren 'politisch', sie saßen wegen 'antisowjetischer Aktivitäten' ein, also wegen negativer Äußerungen gegen die Behörden, die im Scherz oder im Ernst gemacht wurden."

Magazinrundschau vom 06.06.2023 - Eurozine

Eurozine veröffentlicht ein Kapitel aus Kenan Maliks neuem Buch "Not So Black and White" vorab - der Autor gehört in Britannien bekanntlich zu den wenigen, die "woke" Positionen aus einer klassisch linken Perspektive kritisieren. Er setzt sich zunächst mit Derrick Bell auseinander, der zu den Begründern der "pessimistischen" Schule schwarzer Intellektueller gehört und Autoren wie Ta-Nehisi Coates und Ibram X. Kendi beeinflusst. Der Critical Race Theory, kritisiert Malik, geht es nicht um die Verbesserung des Lebens rassistisch Ausgegrenzter, sondern um die Einrichtung von Schutzzonen, in denen ihre Vertreter als Gate Keeper über deren wunde Seelen wachen. Auch den Begriff der "kulturellen Aneignung" kritisiert Malik aus dieser Warte. Das Problem sei nicht eigentlich, dass sich die Beatles musikalische Ideen von Blind Willie aneigneten, das Problem war, dass Blind Willie immer noch als Fahrstuhlführer unterwegs war, während die Beatles Erfolge feierten und stinkreich wurden, findet er mit dem Autor Amiri Baraka. "Baraka betont den Unterschied zwischen Kampagnen, die die materiellen Bedingungen von Afroamerikanern verändern wollen, und Kampagnen für 'Anerkennung' oder für die Einhegung von 'Rassen'-Grenzen. Die Kampagnen gegen kulturelle Aneignung machen deutlich, wie das erste zugunsten des zweiten aufgegeben wurde. Die Beatles daran zu hindern, auf das Werk von Blind Willie Johnson zurückzugreifen, hätte das Leben der Schwarzen kaum verbessert. Es hätte die Jim-Crow-Gesetze in den 1950er Jahren nicht zu Fall gebracht. Es würde Amerika auch heute nicht von der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt befreien."

Magazinrundschau vom 25.04.2023 - Eurozine

Nach außen hin gibt sich Serbien unter Präsident Aleksandar Vučić neutral und auf dem Weg zur EU, doch im Land selbst zeigt er sich unverhohlen als Bannerträger Wladimir Putins, der mit Russland verbunden ist im Kampf gegen die Nato und den Liberalismus des Westens, schreibt Tomislav Marković in einem deprimierenden Bericht über das Abdriften des Landes. In seinen Chauvinismus übertroffen werde Vucic aber noch von den Medien, der Orthoxoden Kirche und einer kryptofaschistischen Opposition, die seit Jahren den Dritten Weltkrieg herbeisehnt: "Innenpolitisch hat er alles getan, um den Staat in seine Gewalt zu bringen, die schwachen Institutionen, die ohnehin keinen großen Widerstand leisten konnten, zu zerstören, das ganze Land in ein privates Lehnsgut seiner Partei zu verwandeln und eine Ein-Mann-Autokratie einzuführen. Daher sein Vertrauen in den Kreml. Vučić sieht den Putinismus als sein eigenes Ideal an, ist aber nicht in der Lage, es vollständig durchzusetzen. Wenn er könnte, würde Vučić morgen die europäische Integration aufgeben und Serbien noch näher an Russland heranführen, ja sogar ein Bündnis mit Russland und Weißrussland eingehen, wie es Slobodan Milošević während des Krieges 1999 versuchte. Die Mehrheit der Opposition würde sich ihm dabei nicht widersetzen, ebenso wenig wie der größere Teil der Gesellschaft, der Serbien nicht als Teil der europäischen Familie ansieht. Zu seinem Leidwesen ist dies nicht möglich, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Der Großteil der Auslandsinvestitionen kommt direkt aus der Europäischen Union, dem größten Wirtschaftspartner Serbiens mit über 60 Prozent des Handels. Serbien hat über die Beitrittsprogramme mehr als 3,7 Milliarden Euro von der EU erhalten, um die Rechtsstaatlichkeit zu stärken, die öffentliche Verwaltung zu reformieren, die Umwelt zu schützen und so weiter. Die nicht rückzahlbaren Finanzhilfen fließen nur, solange Serbien offiziell auf dem Weg nach Europa bleibt."

Magazinrundschau vom 04.04.2023 - Eurozine

Nikolaj Gogol, geboren in der Ukraine, galt den Russen immer als russischer Schriftsteller. Aus der Provinz zwar, mit komischen Anzügen und Manieren, aber doch russisch. Seine Minderwertigkeitsgefühle und seine homoerotischen Neigungen, die er selbst verachtete, verführten ihn in der Zeit, als er seinen Roman "Taras Bulba" schrieb, zu einem extremen russischen Nationalismus, erzählt Zinovy Zinik, der bei allem Verständnis für Gogols Lage dessen politische Verirrungen klar benennt: "Der historische Hintergrund seines Romans sind die antipolnischen Massaker und Pogrome, die durch den Aufstand von Bogdan Chmelnizki in der Mitte des 17. Jahrhunderts auslöste. Chmelnizki, ein polnischer Hetman ukrainischer Herkunft, hatte im Kampf gegen seine polnischen Herrscher die Saporoger Kosaken zu seinen Verbündeten gemacht und schließlich dem russischen Zaren die Treue erklärt. Von diesem Moment an begann die Russifizierung der Ostukraine. ... In der heutigen Propaganda werden Gogols Leitmotive des Patriotismus und der Selbstaufopferung recycelt, wobei die NATO und Krypto-Nazis an die Stelle der Polen und Juden treten. In 'Taras Bulba' hat Gogol den kriegerischen Nationalismus jener Russen verewigt, die eine fiktive Version von Europa geschaffen haben, in der ihrer Meinung nach kein Platz für sie ist. Diese russischen Patrioten hassen alles, von dem sie glauben, dass es nicht zu ihnen gehört, oder das nicht zu ihnen gehört. Instinktiv wollen sie die Kontrolle über solche Orte übernehmen: entweder durch gewaltsame Übernahme oder durch ihre völlige Zerstörung. Mit seinem Hass auf Fremde wollte Gogol seinen russischen Gastgebern instinktiv zeigen, dass er nicht nur ihre idealistischen Überzeugungen, sondern auch ihre niederen Vorurteile teilt."

Magazinrundschau vom 28.03.2023 - Eurozine

Am 2. April wählen die BulgarInnen zum fünften Mal innerhalb von drei Jahren ein neues Parlament. Pro-westliche und pro-russische Parteien stehen sich ungefähr gleich stark und gleich kompromisslos gegenüber, schreibt Rumena Filipova, Frustration und Resignation nehmen in der zermürbten Bevölkerung zu: "Bulgariens demokratisches Dilemma spielt sich also in einer komplizierten Matrix ab, in der das Aufkommen der pro-demokratischen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten im Jahr 2020 und die Kompromisslosigkeit gegenüber den politischen Kräften des Status quo auch reichlich Raum für antidemokratische Tendenzen lassen. Mit anderen Worten: Der in die Länge gezogene Prozess des erzwungenen Wandels hat ein Umfeld der Instabilität und mangelnden Verantwortung gefördert. Die Unbeständigkeit der politischen Landschaft bietet ausländischen Akteuren - insbesondere Russland - die Möglichkeit, Einfluss auf die bulgarische Politik, die Wirtschaft und die Medien auszuüben. Lokale Stellvertreter und korrupte Netzwerke fungieren als Kanäle für autoritäre Einflussnahme. Die jüngsten Sanktionen, die die USA und das Vereinigte Königreich gegen bulgarische Politiker und Geschäftsleute verhängt haben, die in Korruptionsgeschäfte mit Russland verwickelt sind, insbesondere im Energiebereich, zeigen, wie groß die Herausforderung ist. Die Verstrickung Bulgariens in korrupte russische Aktivitäten stellt nicht nur eine Bedrohung für die Stabilität und Transparenz im eigenen Land dar, sondern macht das Land auch zu einer strategischen Schwachstelle in der EU und der NATO, die ein Risiko für die Finanzsysteme der internationalen Partner darstellt."
Stichwörter: Bulgarien, Nato