Essay

Lieber Pascal als Pascal Bruckner

Von Timothy Garton Ash
01.02.2007. Weder separatistischer Multikulturalismus noch republikanischer Monokulturalismus sind Erfolg versprechende Modelle. Integrationspolitik kann nicht auf der Annahme basieren, dass Millionen von Muslime in Europa ihren Glauben aufgeben. Eine Antwort an Pascal Bruckner.
'Tous errent d'autant plus dangereusement qu'ils suivent chacun une verite, leur faute n'est pas de suivre une faussete, mais de ne pas suivre une autre verite.' Blaise Pascal, Pensees

Pascal Bruckner ist das intellektuelle Äquivalent zu einem Betrunkenen, der die Straße hinunter torkelt und dabei laut mit eingebildeten Feinden streitet. Er nennt diese Feinde "Timothy Garton Ash" und "Ian Buruma", doch sie haben wenig gemein mit den echten Autoren gleichen Namens. Ich werde im folgenden einige seiner Falschdarstellungen und Ungenauigkeiten aufzählen und einige Links für die Neugierigen setzen.

Pascal Bruckner spricht im Namen der Aufklärung, doch er verrät ihren eigentlichen Geist. Die Aufklärung glaubte an die freie Rede, ohne Tabus. Weil ich nicht die Sicht einer Frau somalischer Herkunft teile - wobei ich durchaus höflich, genau und klar argumentiere - scheut sich Bruckner nicht, mir zu unterstellen, ich wäre ein Rassist (er nennt mich einen "Apostel des Multikulturalismus" und bezeichnet dann den Multikulturalismus als einen "Rassismus der Antirassisten") und ein Sexist ("altmodischer Machismo", "Geist der Inquisitoren, die in jeder etwas zu flamboyanten Frau die vom Satan bewohnte Hexe sehen"). Das ist genau jene Art von pauschaler Verurteilung, die er selbst in seinem Artikel "Le Chantage a l'Islamophobie" im Figaro kritisiert hat. Damals beklagte er, dass jeder Kritiker des Islam als islamophober Rassist (dis-)qualifiziert wurde. Jetzt ist allerdings er der Erpresser. Voltaire würde sich seiner schämen.

Wirklich grotesk bis an die Grenze der Selbstparodie ist diese Passage: "Die Standpunkte von Ian Buruma und Timothy Garton Ash liegen auf einer Linie mit jenen der amerikanischen und britischen Regierungen (selbst wenn sie in politischer Hinsicht mit ihnen uneins sind): Die Niederlage George W. Bushs und Tony Blairs in ihren Kriegen gegen den Terror ist auch darauf zurückzuführen, dass sie dem militärischen Kampf den Vorrang vor einem Kampf der Ideen gegeben haben." Macht ja nichts, dass ich in genau diesem Punkt ein ausgesprochener Kritiker von Bushs (und Blairs) Vorgehensweise gewesen bin. Für Bruckner ist weiß gleich schwarz und Worte bedeuten, was er möchte, dass sie bedeuten. Objektiv, Genossen, stimmt TGA mit Bush überein. Stalins Iswestija wäre stolz auf seine dialektische Argumentation gewesen.

Bruckner behauptet, ich sei ein "Apostel des Multikulturalismus". Hat er Belege? (Hier einige Texte, die ich zu dem Thema geschrieben habe).

Er behauptet, ich hätte Ayaan Hirsi Alis Position "unverantwortlich" genannt. Wo? (Hier mein Essay aus der New York Review of Books und hier aus dem Guardian, in denen ich meiner Bewunderung für ihre mutige Haltung Ausdruck verliehen habe.

Bruckner behauptet, ich belege meine Argumentation mit der "Tatsache, dass diese junge Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt, in ihrer Jugend der Muslimbruderschaft in Ägypten angehört habe". Das tue ich nicht. Ich habe auch keinen Hinweis, dass sie dies tat - in Kenia, wo sie zu der Zeit lebte. Was ich behaupte, ist, dass sie in ihrer Jugend unter dem Einfluss einer Lehrerin mit dem islamischen Fundamentalismus liebäugelte. Meine Quelle dafür: Ayaan Hirsi Ali. Bruckner suggeriert, dass ich eine Symmetrie zwischen ihr und Mohammed Bouyeri, dem Mörder Theo van Goghs, konstruiere. Nichts könnte lächerlicher sein.

Er behauptet, dass "sie - wie der französische Philosoph Robert Redeker, den islamistische Webseiten mit dem Tod bedrohen - , den Spott der Lehnstuhlphilosophen und Oberlehrer über sich ergehen lassen" muss. Hier können Sie lesen, was ich zur Verteidigung Redekers geschrieben habe.

Zu den "Lehnstuhlphilosophen" hat Ian Buruma bereits klargestellt, dass Buruma und ich tatsächlich zu den Menschen gehen, über die wir schreiben, und ihnen zuhören, während Bruckner von seinem Pariser Fauteuil aus theoretisiert. Mein Artikel in der New York Review of Books basierte in Teilen auf einer Recherchereise zu den verarmten Sozialbaukomplexen von Seine Saint-Denis in der Banlieue von Paris, ebenso wie auf ausgiebiger Lektüre und der Überprüfung von Fakten. Wenn das "angelsächsisch" ist, dann bin ich stolz, Angelsachse zu sein. Aber ich glaube es gar nicht mal. Es ist einfach eine grundlegend intellektuelle, gute Praxis.

Übrigens frage ich mich, wie viel Zeit Pascal Bruckner in den unglücklichen Vororten seiner eigenen Stadt verbracht hat. Oder schließt er bloß von generellen Prinzipien auf das, was er die "Überlegenheit des französischen Modells" nennt? Es funktioniert zwar nicht in der Praxis, aber in der Theorie, und das reicht schon?

Er behauptet, mein Artikel zeuge von einer "Frankophobie, die eines Neocons aus Washington würdig sei". Wie das? Und wo? Weitere Belege meiner Frankophobie finden Sie hier, hier und hier:

Bedauerlich ist an all dem, dass wir tatsächlich eine lebhafte Debatte führen müssen - eine, von der die Zukunft der freien Gesellschaften in Europa abhängen. Für diejenigen unter uns, die einen gewissen Realitätsbezug aufrecht erhalten, ist die Wahrheit offenkundig: Weder die extreme Leben-und-Sterben-Lassen-Version des separatistischen Multikulturalismus, den Hirsi Ali in den Niederlanden gesehen und zu Recht kritisiert hat (und der auch in einigen britischen Städten beobachtet wurde) noch der von Bruckner gepredigte und in Frankreich (teilweise) praktizierte säkulare republikanische Monokulturalismus haben dazu geführt, dass sich muslimische Einwanderer und ihre Nachkommen in Europa zu Hause fühlen - oder auch nur als Bürger Europas. Wir müssen ernsthaft darüber diskutieren, wie wir am besten Elemente aus jedem Denkansatz kombinieren, um dies zu erreichen. Und was wir darüber hinaus noch tun können: zum Beispiel indem wir eine neue europäische Geschichte erzählen (wie es etwa die Seite Europeanstory vorschlägt) - eine über Europäer, die aus sehr verschiedenen Vergangenheiten kommen, aber einer gemeinsamen Zukunft entgegen gehen, die auf gemeinsamen Zielen basiert.

In meinem Essay in der New York Review habe ich geschrieben, dass "ich es für eine Schande für die Niederlande und Europa halte, dass wir es nicht geschafft haben, jemanden wie Ayaan Hirsi Ali bei uns zu behalten". Und ich habe bemerkt, dass ihr Ansatz für die meisten Muslime in Europa zumindest in den kommenden Jahren keinen gangbaren Weg aufzeigt. Eine Politik, die auf der Annahme basiert, Millionen Muslime könnten auf einen Schlag den Glauben ihrer Väter und Mütter aufgeben, ist einfach unrealistisch. Wenn wir ihnen die Botschaft vermitteln, dass sie ihre Religion ablegen müssen, um Europäer zu werden, dann werden sie eben keine Europäer sein wollen. Ich halte dies auch weiterhin für eine offenkundige Wahrheit und einen wichtigen Kritikpunkt an der Position von Hirsi Ali und Bruckner.

Wir müssen die Fundamente einer freien Gesellschaft, wie etwa die Meinungsfreiheit, mit eisernem Willen verteidigen, aber wir brauchen auch eine große Toleranz für kulturelle Unterschiede, die grundlegenden Einblicke, die uns Isaiah Berlins Wertepluralismus vermittelt. Und wir müssen anerkennen, dass religiöse und gläubige Menschen zugleich vernünftige Personen und gute Bürger sein können. Kurz gesagt: weniger Bruckner, mehr Pascal.

Aus dem Englischen von Thekla Dannenberg

Timothy Garton Ash, geboren 1955, ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Isaiah-Berlin-Professorial-Fellow am St. Antony College. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Freie Welt".

Pascal Bruckner hat mit seiner Polemik gegen Ian Burumas Buch "Murder in Amsterdam" und einen Artikel Timothy Garton Ashs eine internationale Debatte ausgelöst. Alle Artikel zu dieser Debatte finden Sie auf Deutsch hier, auf Englisch hier.