Efeu - Die Kulturrundschau

Die Kraft zu zerstören

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.09.2023. In Berlin wurde das Literaturfestival unter der neuen Leitung von Lavinia Frey eröffnet. Viele Politiker waren dabei, notiert die taz, der unwohl dabei wird, wie eng sich dort Politiker und Kulturschaffende verbandeln. Die Filmkritiker sind immer noch fassungslos, wie Claudia Roth den Berlinale-Leiter Carlo Chatrian abgesägt hat: Roth beschädigt die Berlinale auch perspektivisch, ärgert sich der Tagesspiegel. Der FR ist völlig unklar, wie Roth sich die Zukunft der Berlinale vorstellt. Auch die FAZ fragt, wer den Job jetzt noch machen soll. Und die NZZ wüsste gern, warum sich kein Politiker für Herta Müllers Vorschlag eines Exilmuseums interessiert.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.09.2023 finden Sie hier

Film

Nach dem Brandbrief (unser Resümee) von mittlerweile über 400 Filmschaffenden aus aller Welt - darunter namhafte Hollywood-Regisseure bis zu im Festivalbetrieb etablierten Künstlern - ist das Entsetzen über Claudia Roths Entscheidung, Carlo Chatrian als künstlerischen Leiter der Berlinale abzusägen, noch größer. Wie soll auf dieser Grundlage binnen weniger Wochen ein Nachfolger gefunden und das Festival mit Filmen bestückt werden? Egal wie man zu Chatrians Programmreformen für die Berlinale stehen mag, "derart schlechte Umgangsformen seitens der Dienstherrin ziemen sich nicht", findet Christiane Peitz, die im Tagesspiegel Claudia Roth diverse Debakel als Kulturstaatsministerin vorrechnet: "Roth beschädigt die Berlinale auch perspektivisch. Der Druck, unter dem die Nachfolge jetzt binnen weniger Monate geregelt werden muss, ist immens. Die Suche und die Verhandlungen mit geeigneten Kandidaten brauchen Zeit. Diese Zeit hat Roth verspielt, und den Ruf des Festivalstandorts gleich mit."

Nach der Ankündigung der Festival-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek, nach dem Jahrgang 2024 in Rente zu gehen, war Claudia Roth im Zugzwang, gesteht Andreas Kilb in der FAZ der Kulturstaatsministerin zu. Doch ihre Reaktion kam zu spät, zu ungelenk und brüskierte dann auch noch den gesamten Filmbetrieb - und das ohne eine naheliegende Nachfolge. "Dabei sind jene Multitalente, die ästhetisches Gespür mit filmpolitischem Instinkt, Bühnenpräsenz mit Geschick im Umgang mit Sponsoren vereinen und dazu noch einen Sinn fürs Finanzielle haben, so selten wie ein Sechser im Lotto. In Cannes und Venedig werden die Programmchefs von mächtigen Präsidenten flankiert, die ihnen Politiker wie Sponsoren gleichermaßen vom Leibe halten. Aber die Idee einer Präsidentschaft, unter deren Schutz der künstlerische Eigensinn der Filmfestspiele ebenso aufblühen könnte wie ihr filmischer Glamour, ist der Kulturstaatsministerin offenbar nicht gekommen. Stattdessen sucht sie nach dem großen Zampano für ein Festival, das seine Zampanos längst hinter sich gelassen hat."

FR-Kritiker Daniel Kothenschulte findet völlig unklar, wie Claudia Roth sich die Zukunft des Festivals vorstellt. Eine Trennung von Geschäft und Kunst soll es ja nicht mehr geben. Diese könne ja "nur bedeuten, dass Management-Entscheidungen den künstlerischen übergeordnet werden sollen. Diese Entwicklung lässt sich bei Filmfestivals international seit längerem beobachten. Ebenso wie die Filmförderung bereits weitgehend nach wirtschaftlichen Kriterien entscheidet, hat künstlerische Kompetenz auch bei Festivals immer weniger zu sagen. Dabei kann man jedes Jahr im französischen Cannes erleben, wie wichtig es ist, einem weltweit bewunderten Filmkenner wie Thierry Frémaux bei der cinephilen Arbeit zusehen zu können." Auch Artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland, der mit Kritik an der Berlinale im Allgemeinen und an Carlo Chatrian im Besonderen noch nie zurückgehalten hat, findet das ganze Schauspiel zumindest stilistisch bodenlos. Die Kulturstaatsministerin "glaubt, sie könne alles selber. Aber Claudia Roth hat nur die Kraft zu zerstören, nicht aber neue Strukturen zu schaffen. Sie verschleppt ihre Aufgaben, ist ungeliebt in der Filmbranche wie in weiten Teilen ihrer eigenen Partei. ... . Nun stellen sich neue, wichtige Fragen: Was heißt Intendanz? Wer wird die Intendanz? Wer sitzt in der Findungskommission? Traut such das BKM zu einer öffentlichen Ausschreibung? Es besteht die Gefahr, dass Roth die Berlinale mit einem weiteren Fehlgriff zerlegt."

Weitere Artikel: Ach so, Filmfestival Venedig ist ja auch noch, aber die Kritiker sind allesamt mit der Berlinale beschäftigt. Rüdiger Suchsland schickt auf Artechock immerhin Notizen vom Festival, in der taz bespricht Tim Caspar Boehme Ava DuVernays "Origina", das auf Isabel Wilkersons Sachbuch "Kaste" beruht. Der frühere Filmproduzent Günther Rohrbach gratuliert in der SZ der Deutschen Filmakademie zum zwanzigjährigen Bestehen, die er bei aller Kritik, die regelmäßig daran geäußert wird, für eine gute Sache hält. Karsten Munt porträtiert für den Filmdienst den Filmemacher Ira Sachs, dessen aktueller Film "Passages" (unsere Kritik) aktuell läuft. Jakob Thaler fragt sich im Standard, wie der ohne Fördermittel entstandene Dokumentarfilm "Kurz" über Sebastian Kurz finanziert wurde. Tobias Mayer vom Tagesspiegel hat ein ganz mieses Gefühl dabei, dass in der neuen "Star Wars"-Serie "Ahsoka" reihenweise Schauspieler Leute spielen, die gerademal halb so alt sind wie sie selbst. Besprochen werden Christine Langs Dissertation über David Lynchs "Mulholland Drive" (Filmdienst), die Serie "The Bear" (NZZ) und die Netflixserie "One Piece" (FAZ).
Archiv: Film

Musik

Jens Jessen fände es in der Zeit nicht so fürchterlich, wenn für den umstrittenen Ausbau der A100 im Osten Berlins diverse Clubs weichen müssten, die derzeit protestieren: "Zu manchen Künsten, erst recht zu den Vergnügungskünsten der Nacht, gehört das Transitorische, das Flüchtige." Alan Posener fällt in der Welt aus allen Wolken: Da wartet ein Rolling-Stones-Fan wie er 18 Jahre auf neues Material und dann ist die neue Single "Angry" doch nichts weiter als "müde Konfektionsware". Katerina Alexandridi fragt sich in der Berliner Zeitung, ob man den neuen Song "Zunge" von Till Lindemann wirklich losgelöst von dem Skandal um seine Person in den letzten Monaten hören kann. Hannes Hintermeier schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Musiker und Schriftsteller Carl-Ludwig Reichert.

Besprochen werden Volker Kriegels "Inside: Missing Link" (FR), ein Konzert von AnnenMayKantereit (FR) und Róisín Murphys neues, von DJ Koze produziertes Album "Hit Parade" (taz).

Archiv: Musik
Stichwörter: Rolling Stones

Literatur

In Berlin wurde das Internationale Literaturfestival Berlin eröffnet, es ist das erste unter der neuen Leiterin Lavinia Frey. Francesca Melandris Meditation über das Schweigen (unser Resümee) war dabei, trotz einiger kritischer Anmerkungen, für Tagesspiegel-Kritiker Gerrit Bartels der "Lichtblick einer Literaturfestivaleröffnung, auf der man sich wie gewohnt manches überflüssige Wort und literarische Zitat weniger gewünscht hätte." Auch Claudia Roth etwa, die sich derzeit wahrscheinlich lieber mit Büchern als mit Filmen beschäftigt (siehe unsere Filmzusammenfassung heute), "gab sich gewohnt überschäumend und empathisch, ließ keinen Superlativ aus ('großartiges Festival', 'wunderbares Festival', 'megatoll', 'super') und wollte auf den zu Tode zitierten Kafka-Satz 'Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.' nicht verzichten. Was wiederum Joe Chialo nicht auf sich sitzen ließ: mit dem 'guten alten' Goethe ('Weltliteratur'), mit immerhin August Wilhelm Schlegel, mit dem ewigen Hesse-Anfang- und Zauberzitat. Reden ist manchmal nicht einmal nur Silber."

Auch Dirk Knipphals von der taz kriegt die Tür nicht zu angesichts all der grellen Überschäumungen, die sich ihm an dem Abend boten. "Reden von Politiker*innen halt, die nichts falsch machen wollen", aber "geistreich war's eben nicht. Dafür viel guter Wille und Schultergeklopfe. ... Bei dieser Eröffnung konnte man ein leises Unbehagen darüber entwickeln, wie selbstverständlich die Kulturpolitik inzwischen als Mäzen auftritt und auch begrüßt wird. Ganz selbstverständlich werden da Erwartungshaltungen formuliert. Literatur soll dies, soll das. Für den Zusammenhalt der Gesellschaft stehen, für Internationalität, für das Gute, die Reflexion von KI, für Bildung. Aber sollte Literatur nicht auch ein Bereich sein, in dem alles hinterfragt wird, vor allem auch die Politik, aber auch immer wieder die Literatur selbst? ... Die betonte Zuversichtsperformance des Abends verdeckt jedenfalls, dass in unserer Gesellschaft mit dem Schreiben von Büchern und überhaupt mit der Produktion von Text in der Breite kein Geld zu verdienen ist (mit Kulturmarketing aber schon)."

Weitere Artikel: Die FAZ dokumentiert Wolf Biermanns Laudatio auf die Schriftstellerin Barbara Honigmann, die die Goethemedaille erhielt. Sergei Gerasimow schreibt in seinem Kriegstagebuch aus Charkiw für die NZZ über einen seiner früheren Lieblingsorte an einem Fluss, zu dem er nun zurückgekehrt ist: "Das war das Wagnis wert." Cecilia Colloseus schreibt für 54books eine Seminararbeit über Colleen McColloughs Trivialroman-Klassiker "Die Dornenvögel" mit Blick auf übergriffiges Verhalten des Frauenschwarms Pater de Bricassart. In der FAZ gratuliert Gina Thomas dem Schriftsteller Michael Frayn zum 90. Geburtstag. Besprochen werden unter anderem Fran Lebowitz' Kinderbuch "Mr. Chas und Lisa Sue treffen die Pandas" (SZ) und Max Reinhardts Briefwechsel mit seiner Ehefrau Helene Thimig (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Besprochen werden Marc Sinans "Kriegsweihe" und "Kill Krieg" (nmz) sowie Amir Reza Koohestanis Inszenierung von Dantons Tod Reloaded, beide beim Kunstfest Weimar (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Kunst

So sähe es aus: Das geplante Exilmuseum von Dorte Mandrup am Anhalter Bahnhof


In der NZZ kann Paul Jandl es nicht begreifen, dass die deutsche Politik Herta Müllers Idee für ein Exilmuseum, für das es sogar schon einen Entwurf der dänischen Architektin Dorte Mandrup gibt, ignoriert. "Die Initiative, die hinter der Idee steht, arbeitet nicht im Konjunktiv, sondern volle Kraft voraus. 60 Millionen Euro wird das Museum kosten, 20 Millionen hat man bisher durch Fundraising hereinbekommen. Anträge um öffentliche Gelder sind unterwegs. Händeringend sucht man nach Unterstützung für ein Projekt, das schon vom Thema her jede nationale Anstrengung wert sein müsste. 60 Millionen Menschen waren während des Zweiten Weltkriegs Teil globaler Fluchtbewegungen. Die Geschichten des Exils sind individuell und ähneln sich doch über die Zeiten hinweg. Auch die Fluchterfahrungen der Gegenwart darzustellen, wird Teil des Konzepts sein." Billiger wird das Museum jedenfalls nicht, je länger die Bundesregierung zögert, warnt Jandl.

Weiteres: Katharina Cichosch spaziert zum Saisonstart für monopol durch Frankfurter Galerien. Besprochen wird die Giacometti-Ausstellung im Bündner Kunstmuseum Chur (FAZ).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Exilmuseum Berlin