Vom Nachttisch geräumt

Politisch überkorrekt

Von Arno Widmann
17.07.2015. Niemals eine Atempause: Das Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert ist eine großartige Anthologie, leider hat sie ihr Thema verfehlt.
Joachim Sartorius ist einer der bekanntesten deutschen Lyriker, Herausgeber u.a. des großartigen "Atlas der neuen Poesie", der dieses Jahr zwanzig Jahre alt wird. Jahrzehntelang brachte er - in Übersetzungen und leibhaftig - Autoren aus aller Welt nach Deutschland. Niemand ist so gut vorbereitet, ein "Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert" herauszubringen wie Joachim Sartorius. Vorangestellt hat er seiner Anthologie - denn darum und weniger um ein Handbuch handelt es sich - Verse aus Eugenio Montales Gedicht "Die Geschichte II". Ich zitiere sie, weil sie mich begeistern und weil ich ohne Sartorius sie wohl weiter hätte schlafen lassen in einem entfernten Winkel der immer unübersichtlicher werdenden Labyrinthe meines Gedächtnisses:
 
Und die Geschichte ist auch nicht/
der zerstörerische Bulldozer, wie behauptet wird./
Sie hinterlässt Unterführungen, Grüfte, Löcher/
und Verstecke. Manche überleben./
Die Geschichte ist auch wohlwollend: Sie zerstört/
so viel sie kann. Würde sie des Guten zu viel tun,/
wäre es sicher noch besser, doch die Geschichte geizt/
mit Nachrichten, sie stillt nicht alle ihre Rachegelüste.
 
Die Geschichte schabt den Grund ab/
wie ein Schleppnetz/
ruckweise und mehr als ein Fisch entwischt./
Manchmal begegnet man dem Ektoplasma/
eines Entkommenen, der nicht besonders glücklich wirkt./
Er weiß nicht, dass er draußen ist, niemand hat es ihm gesagt./
Die anderen, im Sack, halten sich/
für freier als er./

(Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn)

Gelingt es dem Leser, sich aus der Ergriffenheit zu befreien, muss er lachen. Denn so sehr diese Zeilen Natur- und Weltgeschichte betrachten, so genau trifft natürlich "mehr als ein Fisch entwischt" auf diese wie auf jede andere Anthologie zu. Vor dem Anhang und dem Epilog (Bob Dylans "Meister des Krieges") 19 Kapitel vom Genozid an den Armeniern, der "armenischer Genozid" genannt wird, bis zur "Grünen Utopie" der 80er Jahre. Ein chronologischer Gang durch die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das stimmt nicht ganz. Die Geschichte wird ja nicht nur von Zeitgenossen bedichtet. Darum ist es ganz richtig, zum Beispiel in den Abschnitt über Russische Revolution und deutsche Novemberrevolution nicht nur Arno Holz, Boris Pasternak und Wladimir Majakowski, sondern auch zum Beispiel Paul Celans Rosa-Luxemburg-Gedicht "Du liegst im großen Gelausche" oder Durs Grünbeins "Novembertage/1923" aufzunehmen. Knappe Vorbemerkungen erschließen dem Leser viele der Gedichte. Er wird sich darin festlesen. Wer den hohen Ton nicht mag, der wird bei Kästner oder Tucholsky, bei Erich Fried oder bei Walter Mossmann einsteigen können.

Es ist keine deutsche, nicht einmal eine europäische Anthologie. Adonis ist dabei und Pablo Neruda, Nazim Hikmet, Aimé Césaire, Herberto Padilla, Bei Dao, Pham Tien Duat und viele andere aus dem Rest der Welt. Natürlich sind auch US-Amerikaner dabei. Solche, die es schon bei der Geburt waren wie Langston Hughes oder Adrienne Rich und solche, die wie z.B. Joseph Brodsky oder Charles Simic erst die Weltgeschichte zu US-Bürgern machte. Die große politische Lyrik der USA spielt in dem Band keine Rolle. Als ich in einem Gedicht von Heiner Müller auf Ezra Pound stoße, da fällt mir auf: Er fehlt bei Sartorius.

Spätestens jetzt kehrt der Leser, der bisher sehr angeregt das Buch durchgeblättert hat, zurück zum Vorwort des Herausgebers und erkundigt sich nach den Kriterien von Sartorius" Auswahl. Nach den entwischten Fischen also. Schon beim Blättern ist klar geworden, dass es sich nicht um ein paar versprengte handelt, sondern um einen systematischen Ausschluss. In seinem Vorwort schreibt Joachim Sartorius, er habe ursprünglich ein Schlusskapitel "mit den schlechtesten politischen Gedichten des 20. Jahrhunderts" geplant, habe aber dann darauf verzichtet, weil es ihm schien, dass er "allein durch die schiere Aufnahme von Gedichten von Gabriele d"Annunzio oder von dem abstoßenden Nazi-Dichter Walter Flex allen in diesem Buch versammelten Dichtern Unrecht antue, sie beleidige."

Dass die schlechtesten politischen Gedichte rechtsradikale sein sollen, scheint mir eine gewagte Behauptung. Es sei denn, man preist die politische Gesinnung schon ein ins ästhetische Urteil. Natürlich ist es einem Herausgeber völlig frei gestellt, eine Anthologie nach den Kriterien zusammenzustellen, die er für richtig hält. Wer aber sein Urteil von dem - vermuteten - Urteil einiger Autoren abhängig macht, der verzichtet auf sein eigenes. Ob Bei Dao oder F.C. Delius, ob Adin Ljuca oder Kurt Drawert sich wirklich beleidigt gefühlt hätten, wenn Filippo Tommaso Marinetti, wenn Paul Claudel, wenn Ezra Pound Eingang in diese Anthologie gefunden hätten, weiß ich nicht. Sicher aber scheint mir, dass sie hineingehören in ein "Handbuch der politischen Poesie des 20. Jahrhunderts." Sartorius hat eine Anthologie der linken politischen Poesie des 20. Jahrhunderts herausgebracht. Das ist etwas ganz anderes.

So hat er uns, seine Leser, betrogen. Auch betrogen um die Chance, dahinter zu kommen, wie Gedichte Weltanschauung - ein verpöntes Wort - sind und wie sie helfen, sie zu erzeugen. Stattdessen zitiert er einen der doofsten Sprüche: "Der denkbar größte Gegensatz zur Macht ist das Gedicht." Der Satz sagt alles über die Denkfähigkeit seines Autors. Gedichte sind keine Raketen, aber manche haben bestens gezündet. Auf jeder Seite aller möglichen Barrikaden. Dass die rechtsradikale Lyrik aus dem Buch exorziert wurde, könnte ein Hinweis darauf sein, dass auch sie so ohnmächtig nicht ist. Glaubt man allen Ernstes, die Brechtschen Balladen verstehen zu können ohne die Balladenrenaissance der von Münchhausen, Miegel und Strauß-Torney? Brecht hat Vorhandenes umfunktioniert, hat sich Töne genommen und Haltungen ausprobiert. Rechts und Links haben im 20. Jahrhundert nicht in verschiedenen Welten gewohnt. Sie haben nicht nur auf einander eingeschlagen. Sie haben einander auch belauert und bestohlen. Weltweit. Das könnte man sehen in einer die Fesseln einer selbst auf erlegten Gesinnungstüchtigkeit überschreitenden Anthologie.

Es gab nicht nur Faschismus und Kommunismus. Es gab auch eine katholische Renaissance. In all diesen Gruppierungen wurden politische Gedichte geschrieben. Immer im Blick auf die Konkurrenz. Im eigenen und im Lager der anderen. Die Politisierung der Poesie war kein linkes Programm. Sie war auch keine linke Erfindung. Die "organischen Intellektuellen" taten überall ihre Arbeit. Im Anhang bietet Sartorius auf sechs Seiten Gedichte von Stalin, Mussolini, Mao Tse-tung, Kim Il-Sung und Karadzic. Unter dem Titel: "Schreckenskammer: Gedichte von Despoten." In den Keller hat er abgeschoben, was ihm nicht passt. Dabei ist doch eine der nicht zu übersehenden Botschaften seiner Anthologie, dass auch aus den schlimmsten Schreckenskammern großartige Gedichte hervorgingen. Zum Beispiel diese von Karl Dedecius aus dem Polnischen übersetzen Zeilen des 1921 geborenen Tadeusz Rozewicz:
 
Gerettet/
 
Vierundzwanzig bin ich/
gerettet/
auf dem weg zum schlachten/

Das sind leere und eindeutige namen/
mensch und tier/
liebe und hass/
feind und freund/
licht und dunkel./

Menschen wie tiere getötet/
sah ich:/
fuhren zerhackter menschen/
ohne erlösung.

Begriffe sind Worte:/
verbrechen und tugend/
wahrheit und lüge/
schönheit und greuel/
mut und angst./
Verbrechen und tugend wiegen gleich/
ich sah:/
einen menschen, der war/
verbrechen und unschuld in einem./

Ich suche den Lehrer und meister/
er soll mir wiedergeben sprache blick gehör/
er soll noch einmal nur begriffe und dinge nennen/
er soll mir das licht von der dunkelheit scheiden./

Vierundzwanzig bin ich/
gerettet/
auf dem weg zum schlachten.


Joachim Sartorius: Niemals eine Atempause - Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 348 Seiten, 22,99 Euro.
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