Vom Nachttisch geräumt

Ein Haus für Außenseiterkunst!

Von Arno Widmann
17.07.2015. Arbeiten an der Bedeutungs- produktion: "Das Wunder in der SchuhEinlegeSohle" und andere Werke aus der Sammlung Prinzhorn in der Berliner Nationalgalerie
In der Berliner Nationalgalerie lief bis April die Ausstellung "Das Wunder in der SchuhEinlegeSohle - Werke aus der Sammlung Prinzhorn". Dazu gibt es einen von Kyllikki Zacharias herausgegebenen Katalog, der im Berliner Verbrecher Verlag erschienen ist. Der Titel der Ausstellung greift den Titel einer um 1900 entstandenen Arbeit von Carl Lange auf. Es handelt sich um eine sorgfältige Bleistiftzeichnung, die eine Einlegesohle wiedergibt. In den Schweißflecken erkannte der Künstler Gesichter, einen heraldischen Adler und anderes.

Carl Lange war Insasse einer Geistesheilanstalt, und sein Werk gelangte so in die Sammlung, die der Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn (1886 - 1933) in Heidelberg zusammentrug. Zwei Jahrzehnte später hätte Lange in einer Avantgarde-Galerie seine Einlegesohlen selbst als Kunstwerk ausstellen können. Die Zeichnungen aber sind zu penibel, als dass sie jemals einmal Kunst sein könnten. Die Sohlen selbst könnten als art brut ihren Platz auf dem Kunstmarkt finden. Ihre Abbildung aber wirkt zu didaktisch, zu gewollt.

Dabei steht das "Wunder in der FußEinlegeSohle" von Carl Lange doch in einer großen kunsthistorischen Tradition. Die Legende vom Schweißtuch der Veronika, das das Gesicht Christi als wahres Abbild festgehalten habe, hat die europäische Malerei und das Nachdenken über sie Jahrhunderte lang beschäftigt. Lange freilich hat in seinen Schweißspuren nicht den Abdruck seiner Füße, sondern Gesichter gesehen. Das ist sein "Wunder". Den etwas unappetitlichen Realismus der christlichen Überlieferung ersetzt Lange durch eine an den - zu seinen Zeiten noch nicht praktizierten - Rorschach-Test erinnernde Vision. Lange schreibt nicht Tintenklecksen, sondern Schweißspuren eine Bedeutung zu. (Bild: Hans Memling. Hl. Veronika, um 1470)

Womit wir beim Kern der Sache wären: Bedeutungsproduktion. Lange liest die Spuren seiner Füße. Er erkennt sie. Er versteht sie. Das unterscheidet ihn von den anderen, die nur Schweißspuren sehen. Es hat also keinen Sinn, ihnen einfach die Einlegesohlen vorzulegen. Er muss ein Bild von ihnen anfertigen. Anders erkennen die Menschen nicht, was er sieht. Dem Katalog ist nicht zu entnehmen, wie Lange die Bilder seiner Fußabdrücke interpretierte, ob er sie als himmlische Zeichen las oder ob es vielleicht gar nicht seine eigenen Schweißabdrücke war, die er abbildete. Vielleicht glaubte er ja in ihnen so etwas wie den verborgenen Text der Welt entdeckt zu haben und sammelte Schweißabdrücke, erläuterte sie womöglich seinen Mitinsassen. War er Künstler oder Magier? War seine Zeichnung eingebettet in ein Ritual, zu dem eine Erläuterung wie eine Predigt gehörte? Darüber wissen wir fast nichts. Geblieben sind uns nur die Objekte. (Bild: Das Wunder in der Schuheinlegesohle von Carl Lange, um 1900)

Nicht anders geht es uns ja mit der anderen Kunst unserer Museen. Da steht ein aus einem Baumstamm gehauener Kopf. Wir wissen, dass es der eines Ahnen war, aber wie er verehrt wurde, welche Rolle dabei der Kopf spielte, wissen wir nicht. So sehen wir ihn uns an und beurteilen ihn nach Maßstäben, die nichts mit ihm zu tun haben. Wir haben sie eigens für diese Fälle entwickelt. Ästhetik nennen wir die merkwürdige Disziplin, die aus allem ein Kunstwerk machen kann, in dem sie es als ein Kunstwerk betrachtet. Carl Langes Zeichnung ist nur eine von über einhundert Arbeiten, die Ausstellung und Katalog zeigen. Es ist eine der unscheinbarsten. Karl Genzels um 1920 entstandene Holzskulpturen erscheinen afrikanischen Fetischen nachgearbeitet; Hedwig Wilms" Häkelarbeit aus Baumwollgarn "Gießkännchen mit Krug auf Tablett" ist undatiert, aber wahrscheinlich ein Vorläufer von Meret Oppenheims umstürzlerischer Pelztasse aus dem Jahre 1936.

Seinen Beitrag "Die Sammlung Prinzhorn und Berlin" beendet Thomas Röske, Chef der Sammlung Prinzhorn der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, mit den Sätzen: "Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs "Kulturen des Wahnsinns" am Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Charité hat der Autor, unterstützt von Mitarbeitern des Instituts und Freunden, mit der Durchsicht der rund 150 000 psychiatrischen Krankenakten der Charité zwischen 1890 und 1945 begonnen. Dabei stellte sich heraus, dass etwa 1 Prozent der Akten Zeichnungen oder Fotos von Werken enthält. Schon allein damit ließe sich ein ergiebiger Grundstock historischer Kunst bilden. Und an spannenden zeitgenössischen Arbeiten herrscht in Berlin ebenfalls kein Mangel. Ein Haus für Außenseiterkunst wäre eine zeitgemäße Ergänzung der städtischen Museumslandschaft".

Das Wunder in der SchuhEinlegeSohle - Werke aus der Sammlung Prinzhorn, Verbrecher Verlag, Berlin 2014, 168 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen, 29,80 Euro.
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