Vom Nachttisch geräumt

Sprechende Bilder und sprechen über Bilder

Von Arno Widmann
17.07.2015. Der Heilige Augustinus pries den grünen Papagei als einziges Tier, das Ave sagen konnte: Es geht ums Detail in Till-Holger Borchert: "Meisterhaft. Altniederländische Malerei aus nächster Nähe".
Ein Monumentalband über die großen alten Niederländer: 49 Gemälde von 21 Malern von Jan van Eyck (1390 - 1441) bis Willem van Haecht (1593 -1637). Der Genter Altar, mit dem der Band beginnt, besteht aus 12 Tafeln, die 26 Einzelszenen zeigen. Da geht es, das begreift man sofort, um Details. Niemand soll davor stehen und nichts als Größe empfinden, wie zum Beispiel bei Mark Rothko. Der Eindruck der Größe, der natürlich auch erst einmal durch die puren Ausmaße (375 x 520 Zentimeter im geöffneten Zustand) erzeugt wird, entsteht aber in Wahrheit erst, wenn man sich auch die Details angeschaut hat. Also zum Beispiel die Oberschenkelhaare Adams. Der Betrachter hat auf jedem Quadratzentimeter des Bildes etwas zu sehen. Größe ist nicht alles. Sie ist erst dann etwas wert, wenn die Fülle zu ihr kommt. Die singenden Engel sind kein im Dunkel verschwindender Background-Chor. Jeder Einzelne hat sein deutlich zu unterscheidendes Gesicht. Im Text heißt es: "Durch die unterschiedlich weit geöffneten Münder der Engel sowie durch deren abwechselnd geglättete, bzw. zu Falten zusammengezogene Stirn deutet der Maler verschiedene Stimmlagen des mehrstimmigen Gesanges an, so wie dieser damals in den Niederlanden praktiziert wurde. Die auch unter der Bezeichnung Ars Nova bekannte frankoflämische Polyphonie war eine aktuelle Errungenschaft von Sängern wie Guillaume Dufay und Gilles Binchois, die als Zeitgenossen van Eycks in den burgundischen Niederlanden wirkten." Man kann sich den Spaß machen, die Engel zu betrachten und sich dazu Guillaume Dufays "Missa L"Homme armé" anzuhören:



Beim Stimmeinsatz reißt man unwillkürlich den Mund so weit auf, wie es die Engel tun. Interaktives Lesen. Man sieht dann auch noch einmal genauer hin und fragt sich, ob das wirklich alles Jungens sein sollen, diese Engel? Warum sind sie so gut genährt? Petrus würde sie heute in ein Fitness-Studio schicken. Sie haben übrigens große Ähnlichkeit mit dem sehr jungen René Jacobs. Ein Buch besteht ja nicht nur aus den Schönheiten, die es zeigt, sondern auch aus denen, zu denen es einen führt.

Es geht in diesem Band um die Details. Also werden sie nicht nur gezeigt, sondern immer mal wieder erklärt. Zum Beispiel der grüne Papagei, den das Jesuskind auf einem Bild in der Hand hält. Wie kommt er hierher? Der Heilige Augustin pries ihn als das einzige Tier, das Ave sagen konnte. Das "Ave" aus dem "Ave Maria…" ("Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade").

Bei Rogier van der Weydens Kreuzabnahme bleibt der Blick erst einmal hängen an der bleichen, ohnmächtig zusammenbrechenden, in ein himmelblaues Kleid gepressten Maria. Wie ihre Bewegung der ihres Sohnes folgt, so nähert sich auch ihre Hautfarbe der des Toten. Im Text wird zwar von einer Inszenierung gesprochen, aber der sich doch geradezu aufdrängende Verdacht, hier sei eine Theaterszene abgemalt worden, wird nicht thematisiert. Dabei bestärken einen die Detailaufnahmen noch in dieser Vermutung. Jede der abgebildeten Personen spielt eine eigene Rolle. Die fürsorgliche Geste, mit der Johannes die Gottesmutter zu halten versucht und gegenüber die verzweifelt die Hände ringende Maria Magdalena. Wenn lebende Menschen ein Gemälde nachstellen, nennt man das ein Tableau vivant. Vielleicht war aber zuerst das Tableau vivant da und dann kam ein Maler und hielt es fest für zukünftige Generationen. Die großen Szenen der christlichen Heilsgeschichte wurden wohl schon immer nicht nur erinnert, sondern auch dargestellt, gespielt. Jedenfalls folgt Rogier van der Weyden, einer der erfolgreichsten Maler seiner Zeit, dieser theatralischen Ästhetik.

Pieter Bruegel d. Ä. 1563 entstandener Turmbau zu Babel bliebe ohne die Detailaufnahmen völlig unverständlich. Wer jemals in Wien vor dem 114 x 155 cm großen Bild stand, weiß, dass er keine Chance hat, sich etwa die Häuser links im Bild näher anzuschauen oder gar die Windmühle dahinter zu entdecken. So nahe lässt einen kein Museumswärter heran, und so viel Zeit vor dem Bild gönnen einem die nachdrängenden Besucher nicht.

Das letzte Bild des Bandes "Die Kunstkammer des Cornelis van der Geest" (1628) von Willem van Haecht ist ein beeindruckender Blick in die Schätze des Antwerpener Patriziers. Die Wände sind voll mit kostbaren alten und zeitgenössischen Bildern. Unten am linken Rand sitzt das Regentenpaar und lässt sich von Cornelis van der Geest ein Marienbild von Quentin Massys zeigen. Rubens steht hinter dem Regenten und erklärt es ihm. Die Kunst hängt nicht nur an den Wänden. Sie soll nicht nur still betrachtet werden. Sie wird besprochen, ja diskutiert. Überall stehen Gruppen von Menschen herum und diskutieren über antike Statuen, über den Globus, über Kleinbronzen. Nein. Das ist die ganze Wahrheit. Es sind Männer, ausschließlich Männer, die hier versammelt sind. Einzig die Erzherzogin Isabella und drei sie begleitende Hofdamen sind mit von der Partie. Borcherts Text erklärt dem Leser, dass es sich bei einem Gemälde, das eine nackte Frau bei der Toilette zeigt, um einen verlorenen van Eyck handeln soll. Die "Kunstkammer des Cornelis van der Geest" ist kein Gemälde über die Malerei, sonders eines über die gesellschaftliche Auseinandersetzung über sie.

Till-Holger Borchert: Meisterhaft - Altniederländische Malerei aus nächster Nähe, Prestel Verlag, München 2014, 496 Seiten, 30x39, 350 farbige Abbildungen, 79,00 Euro.