Vom Nachttisch geräumt

Liebgenosse und Weltgericht

Von Arno Widmann
19.03.2018. "Einen Himmel kann's nur geben,/ Und der eine ist besetzt,/ Muß mit alten Weibern leben,/ Die der Zahn der Zeit gewetzt": Gedichte des jungen Karl Marx.
Selbstverständlich ist es das überflüssigste Buch des Karl-Marx-Jahres. Man erfährt nichts über den Philosophen, nichts über den Historiker, den Wirtschaftswissenschaftler, den Revolutionär. Auch nichts über sein Privatleben in London. Das hat einen ganz einfachen Grund. Man sieht ihn am Untertitel: "Dichtungen aus dem Jahre 1837". Der 1818 in Trier geborene Karl Marx war gerade von der Universität Bonn nach Berlin gewechselt und befand sich erst auf dem Wege, im von den Bauerbrüdern angeführten "Doktorclub" ein Linkshegelianer zu werden. Er war noch weit entfernt vom Gespenst des Kommunismus, geschweige denn war das, was er, so er selbst, sein ganzes Leben lang nicht wurde, ein Marxist. Im "Weltgericht" begegnen wir einem jungen Dichter. Das liest sich so: "Was treibt dich her zu diesem Schlosse,/ Zu hauchen tiefen Gluthgesang?/ Weilt dir daselbst ein Liebgenosse/ Zieht er dich her im Seelendrang?"

Diese Zeilen sind nicht böswillig herausgesucht, sondern so reimt es sich durch den ganzen Band. An anderer ebenso willkürlich herausgepickter Stelle heißt es: "Doch wirst du beglückt empfangen/ In der Muse Heiligthum,/ Darfst du in dem Hause prangen,/ Wo sich Schrift vermählt und Ruhm."

Über die lyrischen Qualitäten des Bandes sollen Kenner der Zeit sich auslassen. Mir fällt nur der geradezu demonstrative Verzicht auf Originalität auf. Marx möchte gefallen. Vielleicht hat das mehr mit dem Buch zu tun als mit seiner dichterischen Produktion. Es handelt sich dabei nämlich um eine Handschrift, die er seinem Vater zu dessen 60. Geburtstag am 15. April 1837 schenkte. Der preußische Justizrat, Sohn des Rabbiners von Trier, Heinrich Marx - vor Napoleon hatte er noch Heschel Levi geheißen -, starb schon am 10. Mai des folgenden Jahres, fünf Tage nach dem 20. Geburtstag seines Sohnes. Das Buch sollte dem Vater zeigen, dass aus dem Sohn zwar noch nichts geworden war, dass er aber doch schon einiges zustande gebracht hatte. Es war aber zugleich auch sein Abschied vom Traum eines Dichterlebens. Die Gedichte sind Dokumente einer vergangenen, einer überwundenen Epoche. Er wird nicht weiterdichten. Er wird die Juristerei aufgeben. Marx wird sich ganz der Philosophie zuwenden.

Natürlich ist es nicht das überflüssigste Buch des Karl-Marx-Jahres. Schließlich zeigt es eine ganz andere Facette des Umstürzlers und Revolutionärs. Es zeigt ihn beim Scheitern des Versuches, sich an Denk- und Gemütskonventionen zu halten. Er kann es nicht. Er wird durch Nachahmung nicht besser. Er sucht seinen Weg. Er weiß noch nicht, dass es keinen Weg gibt für ihn, sondern dass, wo er gegangen ist, ein Weg sein wird für die, die ihm nachfolgen. Als er diese Nachfolger sah, erklärte er, wohl auch abgestoßen von deren Verlangen, ja nicht abzuweichen von dem von ihm geebneten Pfad, er sei kein Marxist.

In diesem Buch sehen wir nur: Er war kein Dichter. Es gibt dennoch Rührendes darin. Zum Beispiel Jenny von Westphalen (1814-1881). Seit Sommer 1836 war Karl Marx mit ihr heimlich verlobt. Er hatte ihr ebenfalls Gedichtsammlungen geschenkt. Er war stolz darauf, die schöne, kluge Frau aus höchsten Kreisen, die auch noch vier Jahre älter war als er, von sich überzeugt zu haben. Dennoch spricht er sie in seinem "Schluß Sonett an Jenny" als "mein Kind" an. Das war schließlich der vor-geschriebene Ton, mit dem ein Mann sich an seine zukünftige Frau wandte. Das tat auch noch fünfzig Jahre später Sigmund Freud in seinen Briefen an Martha Bernays, seine fünf Jahre jüngere Verlobte.

Marx- und Hegelkenner Michael Quante ist Philosophieprofessor in Münster. Er hat den Band als eine Faksimileausgabe der Handschrift herausgegeben, der Seite für Seite eine lesbare Umschrift beigegeben ist. Wer mag, kann sich also in die Marxsche Handschrift einlesen. Quantes kleines Nachwort verzichtet auf große Worte, skizziert aber klug die Bedeutung und auch den Mangel an Bedeutung dieser frühen Gedichte und Prosatexte.

Ich zitiere jetzt doch noch in voller Länge das bei Heine, den Marx damals noch nicht persönlich kannte, in die Schule gegangene "Weltgericht", einfach weil es zeigt, dass die Farce auch der Tragödie vorangehen kann:

Ach! Vor jenem Todtenleben,/ Vor der Heil'gen Preißgesang,/ Muß mein Haar sich sträubend beben,/ Ist mir in der Seele bang./

Denn, wenn alles abgeschnitten,/ Aufgehört der Kräfte Spiel, Und versunken, was wir litten,/ Und erreicht das letzte Ziel,/

Soll'n wir Gott, den ew'gen loben,/ Hallelujah ewig schrein,/ Haben nie genug erhoben,/ Kennen nicht mehr Lust und Pein./

Ha! Mir schaudert vor der Stufe,/ Die zu der Vollendung trägt,/ Und ich schaud're vor dem Rufe,/ Wenn er mir an's Sterbbett schlägt./

Einen Himmel kann's nur geben,/ Und der eine ist besetzt,/ Muß mit alten Weibern leben,/ Die der Zahn der Zeit gewetzt./

Ihre Körper liegen unten,/ Schutt und Moder obendrauf,/ Und die Seelen jetzt, die bunten,/ Hüpfen wirr im Spinnenlauf./

Alle sind so dünn und mager,/ Recht ätherisch und recht fein,/ Leiber war'n wohl nie so hager,/ Schnürten sie auch tüchtig ein./

Doch ich störe keck die Feier,/ Heule rasend Lob und Preiß,/ Und der Herrgott hört den Schreier,/ Und ihm wird's im Kopfe heiß./

Und er winkt dem ersten Engel,/ Winkt dem langen Gabriel,/ Der erfasst den lauten Bengel,/ Expediert ihn schnell./

Seht! Das träumt' mir heute,/ Von dem letzten Reichsgericht,/ Darum zürnt nicht, gute Leute,/ Denn der Träumer sündigt nicht.



Karl Marx: Weltgericht - Dichtungen aus dem Jahre 1837, mit einem Nachwort von Michael Quante, Dietz, Bonn 2017, 372 Seiten, 36,00 Euro.
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