Vom Nachttisch geräumt

Eine Form der Menschenwürde

Von Arno Widmann
14.10.2015. Keine Sekunde langweilig, politisch sehr korrekt, sexuell ganz und gar nicht: Marcel Ophüls' Erinnerung an "Meines Vaters Sohn".
Der Sohn eines Genies sei er, erklärt Marcel Ophüls wohl ein dutzend Mal in seiner Autobiografie. Er ist so begeistert von Max Ophüls (1902 - 1957), dem Regisseur von u.a. "Von Mayerling bis Sarajewo", "Der Reigen", "Brief einer Unbekannten", dass er fast einhundert der beinahe dreihundert Seiten braucht, um bei sich selbst anzukommen. Es ist ein unbedingt zu empfehlendes Buch. Nicht nur für Kino-Enthusiasten. Die werden natürlich mit zwei, drei Anekdoten pro Seite beglückt, bedient, verwirrt. Zum Beispiel die schlagfertige Antwort von Marlene Dietrich auf die Frage, ob sie General Eisenhower gefickt habe: "He was never close enough to the front". James Stewart, ein Alumnus der Universität Princeton, nahm nie an einer der von berühmten Ehemaligen so gern besuchten Abschlussfeiern teil, "weil inzwischen an den Paraden auch Frauen und Vertreter anderer "Minderheiten" teilnahmen".

Marcel Ophüls wurde 1927, "im selben Jahr wurde der Tonfilm erfunden", merkt Ophüls an, in Frankfurt am Main geboren. Seinem Vater hatte das Burgtheater gerade gekündigt. Offiziell hieß die Familie noch Oppenheimer. Erst später in Frankreich "ließ er sein Pseudonym im Journal Officiel amtlich beglaubigen". Der Vater hatte bald eine Anstellung in Babelsberg, die Familie zog nach Lichterfelde Ost und von dort aus in immer bessere Wohnungen. Als die Nazis kamen, hatten Ophüls" eine Gründerzeitvilla und der kleine Marcel eine Gouvernante. Es ging nach Frankreich ins Exil, dann in die USA. Jedes mal wieder die Immobilien-Hierarchie runter und rauf.

Marcel Ophüls diente im Zweiten Weltkrieg als US-Soldat in Japan. Er wuchs in grenzenloser Bewunderung für seinen Vater - dass der Marcels Mutter schlug, tat dem offenbar keinen Abbruch - auf und wurde wie er Filmregisseur. Davor, daneben und dazwischen arbeitete Marcel Ophüls u.a. als Hörspiel- und Fernsehredakteur in Baden Baden oder als Professor in Princeton. Er drehte Spielfilme mit Jeanne Moreau, Jean-Paul Belmondo und Eddie Constantine. Berühmt wurde er als Dokumentarfilmer. Für "Hotel Terminus: Zeit und Leben des Klaus Barbie" (hier ein 42-minütiger Auszug, aus dem französischen Original mit englischen Untertiteln) erhielt er 1989 den Oscar für den besten Dokumentarfilm. Bester Film des Jahres war "Rain Man" und Dustin Hoffman bester Hauptdarsteller. Marcel Ophüls aber schätzt "Hotel Terminus" nicht sehr. Für ihn ist sein bester Film "Das Haus nebenan - Chronik einer französischen Stadt im Krieg." Der Film zählt, der Originaltitel lautet "Le chagrin et la pitié" (Leid und Mitleid), ganz sicher zu den besten Dokumentarfilmen der Geschichte des Kinos (hier einige 20-minütige Auszüge). Marcel Ophüls hat sich immer wieder mit dem Nationalsozialismus, mit seiner Geschichte und mit seiner Nachgeschichte bei Opfern und Tätern beschäftigt. Er befragt die Zeitzeugen, versucht sie zu begreifen, ihre Motive, ihre Situation. Er macht den Zuschauer zum Zeugen seines Erkenntnisprozesses.


Marcel Ophüls (rechts) lässt sich für "Hotel Terminus" von einem Wärter eine der Folterzellen der Gestapo zeigen

Ophüls hat seine Autobiografie nicht geschrieben. Er hat sie diktiert. Es ist vielleicht darum eine Reihe kleiner Geschichten geworden, keine Erzählung. Man taucht nicht ein in ein fremdes Leben, sondern man schwimmt leicht darüber hinweg, lässt sich von Marlene Dietrich zu Brigitte Bardot, zu Romy Schneider, zu Vanessa Redgrave und zum schönsten Frauenkörper, "den ich in meinem ganzen Leben zu sehen bekam", tragen. Letzterer gehörte einer Frau namens Inge, mit der er ein halbes Jahr eine Beziehung hatte. Natürlich geht es vor allem um das auf und ab des von seiner Arbeit besessenen Regisseurs, aber eine fast ebenso große Rolle spielen Frauen in seinem Leben. Die Ehefrau Régine und all die anderen, die er sieht, die er begehrt, die ihn begehren. Letztere waren u.a. Marlene Dietrich, Martine Carol und Romy Schneider. Diese drei sind besonders bemerkenswert, weil er es damals nicht merkte, dass sie es taten. Erst in der Erinnerung wurde ihm klar, was er sich entgehen ließ. Vielleicht ist das ihr größter Reiz: Sie gaukelt uns Möglichkeiten vor, die wir nie hatten. Sie ist so großzügig, uns Leben in Fülle zu spenden, gerade zu der Zeit, da wir es Stück für Stück verlieren.

Marcel Ophüls wurde in eine Welt hineingeboren, in der Papa Max mit Scriptgirls, Cutterinnen und Filmstars ins Bett ging, während Mama sich mit Wilhelm Furtwängler erotisch amüsierte. Diesem Vater eiferte Marcel sein Leben lang nach, und noch am Ende des Buches erklärt er seinem Enkel: "Ich mag die Nutten. Wie mein Papa und wie jede Menge anderer Männer, die ich gekannt habe, bin ich mein ganzes Leben lang ihr Kunde gewesen. Die Prostituierten vermieten ihren Hintern, sie verkaufen ihn nicht, im Gegensatz zu den Kurtisanen und zu vielen verheirateten Bürgerlichen. Das ist eine Form der Menschenwürde. Heute Abend noch, Beni, wenn wir dieses Büchlein hier in Genf zu Ende gebracht haben, gehe ich vielleicht noch rasch eine schnelle Nummer schieben. Obwohl ich dazu eigentlich nicht mehr richtig in der Lage bin." Von diesem Begriff der Menschenwürde aus fällt ein eigentümliches Licht auf "Le chagrin et la pitié".

Marcel Ophüls: Meines Vaters Sohn, Propyläen Verlag, Berlin 2015, aus dem Französischen von Jens Rosteck, 320 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 22 Euro.